Da sie nicht wußte, was sie sagen sollte, zog sie sich in die Küche zurück, wo Mishak im Katalog einer Großgärtnerei blätterte, den ihm eine Nachbarin geliehen hatte.

«Heini sagte gerade, er wolle ausziehen. Ich glaube, er und Ruth haben sich fürchterlich gestritten.»

Mishak sah auf. «Und wohin will er?»

«Keine Ahnung. Er sagt, er will sich ein anderes Zimmer suchen.»

«Und wie will er das bezahlen?»

Heini wohnte bei den Bergers natürlich mietfrei; das Geld, das er aus Budapest mitgebracht hatte, war längst verbraucht.

«Ich weiß es nicht. Aber er ist sehr entschlossen.»

Mishak ging es wie Leonie: paradiesische Visionen eines Lebens ohne Heini stiegen vor seinem inneren Auge auf. Schon glaubte er, den Morgengesang der Amseln wieder zu hören, das Rascheln des Windes in den Bäumen.

«Meinst du, er wird etwas essen wollen?» fragte Leonie und begann den Teig für die Pfannkuchen zu bereiten, mit denen man, wenn man sie mit diversen Resten füllte, viele Esser für wenig Geld verköstigen konnte. «Er war ganz außer sich.»

«Essen wird er bestimmt», prophezeite Mishak und behielt recht.

Ruth war diejenige, die kein Abendessen wollte. Sie rief an, um Bescheid zu geben, daß sie später kommen würde. Sie streifte ziellos durch die Straßen und rang die Hände wie eine viktorianische Romanheldin. Sie schämte sich zu Tode und wünschte, die Erde würde sich auftun und sie verschlucken ...

Denn es war genau das eingetreten, was sie in jener Nacht im Orientexpreß gefürchtet hatte. All die Bücher, die sie am Grundlsee gelesen hatte – als hätte sie es vorausgeahnt. Sie hatten sich ganz unverblümt geäußert, diese Fachleute mit ihren dreibändigen Werken: Havelock Ellis und Krafft-Ebing und ein besonders beunruhigender Mann namens Eugene Feuermann. Nicht umsonst hatten sie unzählige Kapitel dem großen Leiden jener gewidmet, die im Liebesakt die Erfüllung suchen.

Alles wäre besser gewesen als das, was tatsächlich geschehen war. Es gab auch Kapitel über Nymphomanie, nicht einmal das hätte Ruth geschreckt. Nymphomanie nahm vielleicht ein böses Ende, aber es klang generös und hingebungsvoll. Eine Nymphomanin konnte vielleicht erwarten, das Leben bis zur bitteren Neige auszukosten und dann zu sterben, hingegen ...

Warum gerade ich? dachte Ruth, wo ich mich doch so sehr darauf gefreut habe, endlich mit ihm zusammensein zu können. Und was wird Janet sagen? Konnte man Janet, die auf den Rücksitzen von Automobilen so freigebig war, so etwas überhaupt erzählen?

Das Wort dröhnte in ihren Ohren – das grauenvolle Wort, das sie als eiskalt brandmarkte, als wäre sie ein Geschöpf der Schneekönigin. Es hatte angefangen zu regnen, und sie zog ihre Kapuze über den Kopf; aber das schlechte Wetter paßte zu ihrer Stimmung. Weshalb sollte für eine Frau, der zwei ganze Kapitel und eine Serie von Tabellen in Feuermanns Sexual Psychopathology gewidmet waren, je wieder die Sonne scheinen?

Eine Stunde, zwei wanderte Ruth durch die Straßen, dann machte sie sich, unnormal oder nicht, auf den Heimweg. Früher oder später würde sie Heini gegenübertreten müssen, Feigheit löste gar nichts.


«Herein!»

Fräulein Lutzenholler saß im Morgenrock in ihrem Zimmer und trank eine Tasse Kakao mit runzliger Haut. Über ihr hing ein Bild der Couch, auf der sie ihre Patienten in Breslau therapiert hatte, in der Gasheizung zischte ein kleines blaues Flämmchen, und sie war nicht im geringsten erfreut, Ruth zu sehen.

«Ich wollte gerade zu Bett gehen», erklärte sie.

Ruth trat ein, das Haar zerzaust, die Augen verschwollen. «Ich weiß. Entschuldigen Sie. Und ich weiß auch, daß Sie mir nicht helfen können, weil ich Sie ja nicht bezahlen kann, und Psychoanalyse wirkt nur, wenn man dafür bezahlt.»

«Außerdem darf ich in England gar nicht praktizieren», sagte Fräulein Lutzenholler abschließend.

«Aber ich dachte, Sie wüßten vielleicht, ob ich irgend etwas tun kann.» Es war Ruth schwergefallen, die Analytikerin in ihrem ungastlichen Zimmer aufzusuchen, zumal sie sich nach ihren Bemerkungen über die im Bus verlorenen Papiere geschworen hatte, ihr nie wieder etwas zu erzählen. Aber man konnte anscheinend seinem Schicksal nicht entkommen. «Ich bin so unglücklich, wissen Sie, und ich dachte, es gibt vielleicht in meiner Kindheit irgend etwas, das ich nicht verstanden habe. Etwas, das ich verdrängt habe.»

Fräulein Lutzenholler stellte seufzend ihre Tasse nieder. «Ist es wahr, daß Heini auszieht?» fragte sie.

Ruth nickte, und etwas wie ein Lächeln flog über das Gesicht der Analytikerin und erhellte den Schnurrbart auf ihrer Oberlippe.

«Mit der Verdrängung ist das nicht so einfach», sagte sie.

«Nein, sicher nicht. Aber ich weiß, wenn man irgend etwas Schlimmes mitansieht, solange man noch klein ist ... wenn man die eigenen Eltern – ach, Sie wissen schon, wenn man sie beim Liebesakt überrascht. Aber das war bei mir nie der Fall. Wenn mein Vater seinen Mittagsschlaf hielt, sind alle auf Zehenspitzen herum geschlichen, und meine Mutter saß mit ihrer Stickerei im Salon wie ein Wachposten und ermahnte dauernd alle zur Ruhe. Und sowieso hatte unsere Wohnung Doppeltüren, da konnte man gar nichts hören. Und am Grundlsee bin ich nach der vielen frischen Luft immer sofort eingeschlafen. Ich glaube deshalb nicht, daß ich ein Trauma habe, und ich kann nicht verstehen, was los ist.»

Fräulein Lutzenholler runzelte die Stirn. Die gute Laune, die die Nachricht von Heinis beabsichtigtem Auszug hervorgerufen hatte, war schon wieder vergangen, und sie sorgte sich jetzt um ihre Wärmflasche. Sie hatte sie vor einer halben Stunde gefüllt und stieg gern in ihr Bett, solange sie noch richtig heiß war.

«Wovon sprechen Sie eigentlich?» fragte sie, während sie die Haut mit dem Löffel vom Kakao schöpfte und in den Mund schob. «Ich verstehe Sie nicht.»

Ruth, die den ganzen Tag vor dem Wort zurückgeschreckt war, sprach es jetzt aus.

Es folgte eine Pause. Fräulein Lutzenholler sah auf die Uhr. «Ruth, es ist Viertel vor elf. Ich kann das jetzt nicht mit Ihnen diskutieren. Es ist ein technisches Problem, das viele Ursachen haben kann; physiologische, psychologische ...»

«Ach, bitte, bitte helfen Sie mir doch!»

Fräulein Lutzenholler unterdrückte ein Gähnen.

«Also gut, dann erzählen Sie mir, was geschehen ist.»

Ruth begann zu sprechen. Ihre Worte überschlugen sich, Tränen schossen ihr in die Augen, das Haar fiel ihr ins Gesicht und wurde ungeduldig zurückgestrichen.

Fräulein Lutzenholler hörte sich diese Ergüsse einer gequälten Seele mit wachsendem und unverhohlenem Mißvergnügen an. Sie stellte ihre schmutzige Tasse wieder auf die Untertasse.

«Ich glaube, Sie müssen erst einmal begreifen, Ruth, daß Fachausdrücke keine Spielzeuge für Amateure sind. Ich kann Ihnen leider nicht helfen, und ich möchte jetzt zu Bett gehen.»

«Ja, natürlich ... entschuldigen Sie vielmals.»

Ruth wischte sich die Augen und stand auf. Sie war schon an der Tür, als Fräulein Lutzenholler einen einzigen Satz sagte. «Vielleicht», sagte sie, «lieben Sie ihn nicht.»


Ein paar Tage später gab Heini bekannt, daß er nun doch bleiben werde. Seine Bemühungen, ein Zimmer zu finden, hatten ihn tief erschüttert: Die Mieten waren unerschwinglich, üben durfte man praktisch überhaupt nicht, und natürlich gab es niemanden, der für einen kochte. Da der erste Durchgang des Klavierwettbewerbs nur noch sechs Wochen entfernt war, schuldete er es allen, sich die besten Arbeitsbedingungen zu sichern. Und auf Mantella mußte man ja auch noch Rücksicht nehmen. Heinis Agent hatte ein Presseinterview geplant, bei dem Ruth zugegen sein sollte. Wenn Heini ihr auch nicht ganz vergeben konnte, so war er doch entschlossen, ihr nichts nachzutragen, und so wurde dann in Belsize Park, während sich das Osterfest näherte, eine Art stillschweigender Waffenstillstand geschlossen.


Zu Verenas vielen ausgezeichneten Eigenschaften gehörte eine leidenschaftliche Begierde, an den Zusammenkünften gelehrter Geister teilzunehmen, insbesondere an solchen mit nachfolgenden Empfängen, bei denen sie, als Tochter des Vizekanzlers der Universität Thameside, mit den Teilnehmern bekannt gemacht wurde. Den Vortrag in der Geophysikalischen Gesellschaft jedoch besuchte sie aus persönlichen Gründen. Das Thema, «Vulkane der Kreidezeit», glaubte sie, würde Quin interessieren, und es war jetzt ihr vordringlichstes Ziel, außerhalb des schulischen Rahmens mit ihm zusammenzutreffen.

Als sie im Vortragssaal ihren Platz einnahm, konnte sie Quin jedoch nirgends entdecken. Statt dessen saß zu ihrer Linken ein kleiner, adretter Mann mit einem gepflegten Oberlippenbärtchen und etwas ordinären zweifarbigen Schuhen, der sich ihr als Dr. Brille-Lamartaine vorstellte und eine Neigung zeigte, nicht von ihrer Seite zu weichen, als sie nach dem Vortrag in den Gesellschaftsraum ging, wo Getränke und Kanapees warteten.

«Ein ausgezeichneter Vortrag, nicht wahr?» sagte Brille-Lamartaine, der, wie sich herausstellte, ein belgischer Geologe war. «Ich hatte eigentlich erwartet, Professor Somerville hier zu sehen, aber er scheint nicht gekommen zu sein.»

Verena stimmte zu und fragte, woher er den Professor kenne.

«Ich war mit ihm in Indien. Auf seiner letzten Expedition», antwortete Brille-Lamartaine. Er nahm sich ein Glas Wein, verzichtete jedoch auf die Kanapees, denn in diesem Land Garnelen zu essen, war immer ein Risiko. «Ich hatte großen Anteil daran, daß wir die Höhlen entdeckten, wo wir unsere bedeutendsten Funde gemacht haben.» Er seufzte, denn Milner hatte ihm an diesem Morgen etwas erzählt, das ihn tief bekümmerte.

«Wie interessant», sagte Verena, die wirklich begierig war, mehr zu hören. «Und hat Ihnen die Reise gefallen?»