«Also ehrlich, manchmal wünsche ich mir, das menschliche Herz wäre wirklich nur eine dickwandige Gummibirne, du nicht?» sagte Ruth zu Janet, mit der zusammen sie zurückgeblieben war, um ein Modell des Kreislaufsystems abzuzeichnen, das Dr. Fitzsimmons freundlicherweise für sie konstruiert hatte.
Fast zwei Monate waren seit Weihnachten vergangen, und Heinis leidenschaftliches Flehen um die Erfüllung ihrer Liebe sollte endlich erhört werden. Ruth hatte es nicht absichtlich so lange hinausgezögert. Sie wollte es der Heldin von La Traviata gleichtun, die davon sang, daß sie das Leben bis zur Neige auskosten und dann sterben wolle; und Ruth wußte, daß sie, indem sie sich Heini hingab, der Musik diente. Heini, der für den bevorstehenden Klavierwettbewerb die Dante-Sonate einstudierte, hatte sich eingehend mit dem Privatleben des Komponisten befaßt und festgestellt, daß Liszt (der berühmt war für seine dämonische Art) zu der Zeit, als er in Heinis Alter gewesen war, bereits mehrere Gräfinnen beglückt hatte; es war daher völlig verständlich, daß Heini meinte, Liszts Kompositionen nicht gerecht werden zu können, solange er sich in einem Zustand körperlicher Frustration befand.
Dennoch war es nicht einfach gewesen. Gelegenheiten zu dämonischem Treiben gab es in Nummer 27 ganz einfach nicht, und ein Hotel konnten sie sich nicht leisten. Ruth hatte sich schließlich an Janet gewandt, die ihre Rolle als Pfarrerstochter so gänzlich überwunden hatte, und Janet hatte geholfen.
«Ihr könnt meine Wohnung haben», hatte sie gesagt. «Wir müssen nur sehen, wann die anderen weg sind. Aber Corinne fährt fast jedes Wochenende nach Hause, und Hilary arbeitet oft den ganzen Samstag. Ich geb dir Bescheid, wenn es klappt.»
Gestern nun hatte Janet ihr Bescheid gegeben. Schon am kommenden Samstag konnten Ruth und Heini die Wohnung den ganzen Nachmittag für sich haben.
Jetzt sagte Janet mit einem forschenden Blick zu Ruth: «Du mußt es nicht tun, das weißt du wohl. Kein Mensch muß es tun. Manche Leute schaffen es gar nicht, wenn sie nicht verheiratet sind, und ich glaube, du bist vielleicht so jemand.»
«Unsinn, es ist nichts als Feigheit», erwiderte Ruth und radierte ein Kapillargefäß aus, das ihr mißraten war. «Wenn du's kannst, dann kann ich es auch.»
Janets Antwort war nicht unbedingt beruhigend. «Ja, ich kann es und ich tu es. Mit sechzehn hab ich angefangen. Ich hab mich geschämt, weil mein Vater Pfarrer war, und ich wollte allen zeigen, daß ich nicht prüde bin. Und wenn man einmal anfängt, dann macht man eben weiter. Aber jetzt bin ich einundzwanzig und habe es eigentlich schon ein bißchen satt. Manchmal frag ich mich, wozu das alles.»
Als sie später ihre Sachen zusammenpackten, sagte Ruth: «Meinst du, ich sollte vorher was darüber lesen?»
«Großer Gott, Ruth, du liest doch sowieso ständig! Ich glaube, du weißt mehr über die Physiologie des Fortpflanzungssystems als sonst jemand auf der Welt.»
«Nein, ich meinte doch – so eine Art Anleitung, wie zum Beispiel, wenn man ein Motorrad reparieren will.»
«Natürlich, wenn du willst, kannst du was lesen. Du brauchst nur zu Foyles gehen, in den zweiten Stock. Die haben da bestimmt ein ganzes Dutzend solcher Bücher. Du kannst es sogar umsonst lesen. Die Verkäufer lassen einen in Frieden, die sind das gewöhnt.»
Am folgenden Tag fuhr Ruth also in der Mittagspause nach Charing Cross. Pilly bestand darauf, sie zu begleiten. Ruth hatte eigentlich nicht vorgehabt, Pilly in ihr Vorhaben einzuweihen, aber Pilly war über Ruths heimliche Gespräche mit Janet so gekränkt gewesen, daß sie ihr dann doch gesagt hatte, welch ekstatischer Erfahrung sie sich zu unterziehen gedachte. Pilly war voller Bewunderung gewesen. «Du bist so mutig», sagte sie immer wieder, brachte aber von da an jeden Tag Lebertrankapseln mit in die Mittagspause und drängte Ruth, sie zu schlucken.
«Ich gehe nicht mit dir nach oben», sagte sie jetzt. «Ich verstehe diese Diagramme und Schaubilder ja doch nicht, und ganz bestimmt wimmelt es da nur so von Namen. Ich warte bei den Kochbüchern auf dich.»
Pilly hatte recht. Es wimmelte tatsächlich von Namen, und die Schaubilder waren ziemlich entmutigend. Es würde einem nichts anderes übrigbleiben, als einfach zu leben bis zur bitteren Neige.
«Es wird schon klappen, Ruth», meinte Janet, als sie nach ihrem Ausflug in die Buchhandlung zurückkam. «Ganz bestimmt. Ich nehme dich morgen in die Wohnung mit und zeige dir alles. Nur auf eines mußt du achten.»
Ruth schluckte. «Du meinst, daß ich nicht schwanger werde?»
«Nein, das nicht – da wird natürlich Heini aufpassen. Ich rede von seinen Socken.»
«Von seinen Socken?» fragte Ruth perplex.
Janet legte ihr die Hand auf den Arm. «Sieh zu, daß er sie gleich zu Anfang auszieht. Es gibt nichts Schlimmeres als einen nackten Mann in dunklen Socken. Da kann es einem schon vergehen. Aber du liebst ihn ja schließlich. Also brauchst du dir überhaupt keine Sorgen zu machen.»
Janets Wohnung war in Bloomsbury, in einer kleinen Straße hinter dem Britischen Museum. Wäre Ruth von der Küche aus die Feuerleiter hinuntergeklettert, so wäre sie keinen Steinwurf entfernt von dem Keller gelandet, in dem Tante Hilda arbeitete. Hilda wäre über ihr Vorhaben nicht schockiert gewesen; die Mi-Mi waren unbekümmerte Leute; in Betschuanaland nahm man die Liebe auf die leichte Schulter.
Aber ihre Eltern ... Ruth zwang sich, nicht daran zu denken, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie wüßten, was sie vorhatte. Sie hatte so sehr gehofft, daß bis zu diesem Zeitpunkt die Nichtigkeitserklärung erfolgt sein würde; dann hätte sie sich wenigstens mit Heini verloben können. Aber ihre Ehe mit Quin bestand immer noch, und das war allein ihre Schuld und ein weiterer Grund, Heini nicht länger warten zu lassen.
Die Wohnung war recht bohemehaft; die Möbel wirkten provisorisch, und es waren auch nicht viele, und alles war sehr staubig. Aber das war gut so. Mimi mit ihrem eiskalten Händchen hatte auch zur Boheme gehört und war nicht verheiratet gewesen ...
Heini mußte jeden Moment kommen. Sie hatte den Spülstein gesäubert und den Küchenboden gefegt und den Wein ausgepackt, den Janet ihr als Glücksbringer geschenkt hatte. Ruth hatte deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt – Janet war mit dem Geld furchtbar knapp –, aber Janet hatte ihre Proteste nicht gelten lassen.
«Es war ein Sonderangebot im Coop», sagte sie.
Der Wein würde sicher eine große Hilfe sein, dachte Ruth, die sich erinnerte, wie der Wein im Orientexpreß auf sie gewirkt hatte. Sie kämpfte ihre Nervosität nieder und öffnete die Tür zu Corinnes Zimmer, das Janet als das für ihre Zwecke am besten geeignete bezeichnet hatte. Es hatte ein Doppelbett – genauer gesagt eine Doppelmatratze –, die mit interessant gefärbter Sackleinwand zugedeckt war. Corinne studierte Kunst; überall an den Wänden hingen Zeichnungen, die sie im Aktkurs angefertigt hatte. Die Frauen hatten alle himmelwärts strebende Brüste und Oberschenkel wie dorische Säulen. Heini würde sehr enttäuscht sein, vielleicht war es am besten, das Zimmer zu verdunkeln. Aber als sie die Vorhänge zuziehen wollte, stürzte die Bambusstange scheppernd herab, und sie hatte gerade noch Zeit, sie wieder festzumachen, ehe es läutete.
«Heini! Liebster!» Aber obwohl Heini sie umarmte, sah er nicht glücklich aus. «Ist alles in Ordnung? Hast du sie?»
«Ja, aber du hast keine Ahnung, was ich mitgemacht habe. Die Automaten standen direkt nebeneinander, und die Anweisungen waren abgerissen, und als ich das erstemal sechs Pence hineingeworfen habe, kam eine Tafel Schokolade heraus – diese widerliche Cremeschokolade.»
«Ach, Heini, so ein Pech!» Heini aß niemals Schokolade, weil er fürchtete, er würde davon Akne bekommen.
«Dann habe ich es bei dem anderen Automaten versucht, und da ist die Münze steckengeblieben. Ich mußte erst mit dem Fuß dagegentreten, und genau da kam natürlich irgendein Idiot vorbei und feixte. Wirklich, so etwas möchte ich mir nie wieder antun.»
Schuldgefühle packten Ruth. Heini hatte sie gebeten, in die Apotheke zu gehen, und «das alles» zu erledigen; es stimmte, daß ihr Englisch weit besser war als seines, aber gewisser Wörter war man sich dennoch nicht absolut sicher, selbst dann nicht, wenn man sie im Lexikon nachschlug. Besonders dann nicht, wenn man sie im Lexikon nachschlug. Gleichzeitig allerdings hätte sie gern gewußt, ob er die Schokolade mitgebracht hatte. Sie hatte ihr Mittagessen versäumt, aber es war wahrscheinlich besser, nicht zu fragen.
«Aber jetzt sind wir hier», sagte sie möglichst munter und half ihm aus dem Mantel. Dann fragte sie mutig: «Möchtest du ein Bad nehmen?»
Heini nickte – er mußte das gleiche Buch gelesen haben wie sie – und folgte ihr ins Badezimmer, wo sie den Boiler anzündete und den Hahn aufdrehte. Der Erfolg war hochdramatisch: Es knallte, zischende Dampfwolken stiegen auf, und eine blaue Stichflamme schoß in die Höhe.
«Um Gottes willen, da lassen wir lieber die Finger davon!» rief Heini. «Das ist ja schlimmer als in Belsize Park.»
«Meinst du nicht, es wird sich beruhigen?»
«Nein.» Heini hatte ein Handtuch gepackt und drückte es an seine Nase. «Emile Zola ist an einem undichten Ofen gestorben.»
«Na schön», sagte Ruth und drehte den Wasserhahn zu. Nicht alle Bücher hatten heiße Bäder empfohlen. Manche waren mehr für das Natürliche. «Komm, trinken wir erst ein Glas Wein.»
Sie kehrten in die Küche zurück, und sie schenkte Heini und sich ein Glas Wein ein. «Worauf wollen wir trinken?»
Heini lächelte. «Auf unsere Liebe.»
Genau in diesem Moment hörten sie draußen auf der Feuerleiter eine ganze Serie schriller Piepstöne. Ruth öffnete die Tür, und eine schwarze Katze sauste in die Küche, im Maul einen Vogel, einen Spatz, der noch nicht tot war.
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