Quin war am selben Abend zu einem kleinen Umtrunk beim Vizekanzler eingeladen. Als er bewußt mit Verspätung eintraf, blieb er einen Moment vor den erleuchteten Fenstern der Studentenhalle stehen. Heini war am Klavier, Ruth saß neben ihm. Sie trug das Samtkleid, das sie im Orientexpreß angehabt hatte, und hielt den Kopf gesenkt, völlig konzentriert den Noten folgend. Dann stand sie auf, ein Arm bog sich über den Kopf des Jungen ... mit einer einzigen flinken und anmutigen Bewegung blätterte sie um.

«Man muß wie eine Welle sein, wenn man umblättert», hatte sie ihm im Zug erklärt. «Man muß ganz anonym sein.»

Quin ging über den dunklen Hof, und es schien ihm, daß er nie eine Geste gesehen hatte, die solche Hingabe, solche Liebe ausgedrückt hatte.


Am Heiligen Abend gab es im Willow tatsächlich einen Christbaum. Man hatte die Tische nahe zur Wand geschoben, und in der Mitte stand der Baum in seinem festlichen Glanz. Er war nicht etwa klammheimlich bei Nacht und Nebel aus dem Garten von Mrs. Weiss' Sohn Georg gestohlen worden, während ihre Schwiegertochter schlief, obwohl die alte Dame durchaus bereit gewesen war, eine solche Schandtat zu versuchen. Er war in einem Laden gekauft worden, aber dennoch im Grunde Mrs. Weiss zu verdanken. Eine Woche vor Weihnachten hatte die geplagte Schwiegertochter Moira heimlich Leonie aufgesucht und mit ihr eine Vereinbarung getroffen: einen großzügigen Geldbetrag, den Moira ohne Not entbehren konnte, wenn Leonie dafür garantierte, daß die Schwiegermutter den Heiligen Abend außer Haus verbringen würde.

«Ich habe ein paar Leute eingeladen – Mandanten meines Mannes; wichtige Leute. Sie verstehen, nicht wahr?»

Im ersten Moment war Leonie geneigt gewesen, nein zu sagen, doch bei näherer Überlegung fand sie das Geschäft durchaus fair. Sie nahm also das Geld und ging mit der alten Dame einen Baum kaufen, das Lametta, die Kerzen, die Zutaten für die Lebkuchen ...

Jetzt wurde es still im Willow, als Miss Maud, die man mittlerweile in die Mysterien einer österreichischen Weihnacht eingeweiht hatte, Ruth die Streichhölzer reichte.

«Vorsichtig», sagte Kurt Berger, wie er das jedes Jahr gesagt hatte, seit Ruth alt genug war, die Kerzen am Baum anzuzünden. Er war mit dem Bus aus Manchester gekommen und die ganze Nacht gefahren. Eigentlich hätte er viel lieber zu Hause mit seiner Familie gefeiert, aber als er jetzt in den Kreis der Gesichter blickte und seiner Tochter leicht über das Haar strich, war er froh, daß sie sich mit ihren Freunden getroffen hatten.

«Wunderbar», sagte Mrs. Burtt ehrfürchtig, als die Kerzen brannten, und die beiden Damen Violet und Maud dachten nicht mehr an Tannennadeln auf dem Boden und Wachsflecken auf den Tischtüchern, vergaßen selbst die Brandgefahr im Glanz der Lichter.

Dann wurden die Geschenke verteilt, und obwohl diese Leute kaum genug Geld hatten, um leben zu können, war niemand vergessen worden. Dr. Levy hatte eine Ansichtskarte der Bank entdeckt, auf der Leonie von der Taubenmeute überfallen worden war, und hatte einen kleinen Holzrahmen für sie gemacht. Mrs. Burtt bekam eine Pergamentrolle, auf der sie von Ruth in Blankversen als Königin des Willow gepriesen wurde. Selbst der Pudel bekam ein Geschenk: einen dicken Markknochen.

Aber am schönsten waren Heinis Geschenke. Als Heini bei Dr. Friedlander wegen eines Darlehens für den Klavierwettbewerb vorgesprochen hatte, war ihm eingefallen, daß es nicht dumm wäre, sich im Hinblick auf Weihnachten gleich etwas mehr Geld zu leihen. Dr. Friedlander hatte es ihm mit größtem Vergnügen gegeben, und Heini hatte eingekauft: Seidenstrümpfe für Leonie, Pralinen für Tante Hilda, die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel für Kurt Berger. Das alles hatte mehr Geld gekostet, als er erwartet hatte, und als er in das Blumengeschäft ging, um für Ruth rote Rosen zu kaufen, mußte er feststellen, daß ein ganzer Strauß weit über seine Verhältnisse gegangen wäre. Die Verkäuferin hatte ihm daraufhin vorgeschlagen, eine andere Art von Rose zu schenken, eine Christrose, und ihm eine einzelne Blüte auf Moos gebettet und in ein Zellophankästchen gepackt. Als er jetzt Ruths Gesicht sah, wußte er, daß nichts ihr eine größere Freude hätte machen können.

Auf die Geschenke folgte das Essen – Mrs. Weiss' Roßhaarbörse hatte für einen reichgedeckten Tisch gesorgt; es gab Platten mit Salami und feingeschnittenem geräucherten Schinken; es gab Mandein und Aprikosen und einen milden Weißwein aus der Wachau, den Leonie in einem Laden in Soho aufgetrieben hatte.

Aber um elf schlüpften Ruth und Heini hinaus und wanderten Hand in Hand durch die feuchten, nebligen Straßen.»Es war wunderschön, nicht wahr?» sagte Ruth. «Und du siehst so elegant aus!»

Gleich am ersten Ferientag hatte sie ihren Dienst als Kindermädchen bei den fortschrittlich erzogenen Sprößlingen der Weberin wieder aufgenommen, und mit dem verdienten Geld hatte sie Heini einen seidenen Schal gekauft, den er zum Abendanzug tragen konnte.

«Nur schade, daß es hier nicht schneit», fuhr sie fort. «Der Schnee fehlt mir richtig – die Stille, das Glitzern. Weiß du noch die Eiszapfen, die in der Hofburg immer von den Wandlampen herunterhingen? Und das Glockengeläut, und die c-Moll-Messe, die man aus der Augustinerkirche hören konnte?»

Sie standen vor der Tür von Nummer 27. «Ich spiele es für dich», sagte Heini und zog sie ins Haus. «Komm. Ich spiele den Schnee und die Sängerknaben und die Glocken. Ich spiele Weihnachten in Wien.»

Und das tat er. Er setzte sich an das Bösendorfer-Klavier und schenkte ihr eine Wiener Weihnacht in Musik, wie er versprochen hatte. Er spielte Leopold Mozarts Schlittenfahrt und verflocht das Stück mit den Weihnachtsliedern, die die Wiener Sängerknaben zu singen pflegten ... Er spielte die Melodie, die der alte Mann auf dem Markt, wo die Bergers immer ihren Baum kauften, auf seiner Drehorgel herunterzuleiern pflegte, und dann wurde aus dieser Weise Papagenos Lied aus der Zauberflöte, das für Ruth seit ihrem achten Lebensjahr zum Weihnachtsfest gehörte. Er spielte den Schlittschuhwalzer, zu dessen Klängen sie im Prater auf der Eisbahn getanzt hatte, und ahmte den tiefen und feierlichen Klang der Glocken des Stephansdoms nach, wenn sie zur Mitternachtsmesse riefen. Und er schloß mit dem Stück, das er in der Rauhensteingasse jedes Jahr auf dem Steinway für sie gespielt hatte – ihrer beider Lied: Mozarts tröstliches und ergreifendes b-Moll-Adagio, das er geübt hatte, als sie einander zum erstenmal begegnet waren.

Dann klappte er den Klavierdeckel zu und stand auf. «Ruth», sagte er leise, «ich finde dein Geschenk wunderschön, aber es gibt nur ein Geschenk, das ich wirklich haben möchte und brauche – so dringend brauche, wie die Luft zum Atmen.»

«Was ist das?» fragte Ruth, und ihr Herz schlug so laut, daß sie meinte, er müßte es hören.

«Dich!» sagte Heini. «Sonst nichts. Nur dich. Und bald, Liebste. Bald, nicht wahr?»

Ruth, noch immer im Zauber der Musik gefangen, trat in seine ausgebreiteten Arme und sagte: «Ja. Das möchte ich auch. Ich wünsche es mir so sehr.»


Quin verlebte einen ganz anderen Heiligen Abend. Er war seit Tagesanbruch gewandert und stand jetzt auf der Höhe der Cheviot Hills. Das dürre hellbraune Gras auf den Hängen unter ihm neigte sich im pfeifenden Wind, und draußen, über dem Meer, ballten sich dunkle Sturmwolken zusammen. Morgen würde er seine Pflicht als Gutsherr tun und in der Dorfkirche den Bibeltext verlesen und danach seine Tante zur alljährlich stattfindenden Weihnachtsfeier bei den Rothleys begleiten – den heutigen Tag jedoch hatte er für sich in Anspruch genommen.

Aber als er sich dem Problem zuwandte, das ihn hier heraufgetrieben hatte, stellte er fest, daß es nichts zu entscheiden gab. Die Entscheidung war von selbst gefallen, der Himmel mochte wissen, wann. Statt abstrakter Gedanken kamen Bilder: ein Dampfschiff nach Daressalam ... das Flußschiff nach Lindi ... einige Tage beim Commissioner, um Träger anzuheuern. Und dann der lange Marsch über die weiten Ebenen auf der anderen Seite der Schlucht. Er hatte von dieser Expedition schon geträumt, als er vor Jahren in Tanganjika gearbeitet hatte – und wenn Farquarson die Wahrheit sprach, wenn es in der Kulamali-Schlucht tatsächlich einen Sandsteinausläufer gab, in den Fossilien eingebettet waren ...

So wie er die Landschaft vor sich sah, so sah er die Menschen vor sich, die er mitnehmen würde. Milner natürlich, Jacobson von der geologischen Abteilung des Museums ... Alec Younger, eben erst aus Ostindien zurückgekehrt und schon voller Ungeduld, erneut aufzubrechen ... Colonel Hillborough, der von der Verwaltungsarbeit genug hatte und der Expedition die zusätzliche Unterstützung der Geographischen Gesellschaft sichern würde ... und noch einen weiteren Mitarbeiter, einen jungen Menschen, dem er eine Chance geben wollte. Vielleicht einer seiner Studenten aus dem dritten Jahr. Es kam natürlich auf die Prüfungsergebnisse an, aber Sam Marsh war eine Möglichkeit.

Afrika war seine erste Liebe gewesen, und wenn dies seine letzte Expedition werden sollte, so würde sie einen würdigen Abschluß seiner Reisen bilden. Der Vorteil einer Expedition nach Kulamali war zudem, daß das Gebiet unter britischer Herrschaft stand und man von dort aus durch andere Protektorate zum Meer zurückgelangen konnte. Wenn es also zum Krieg kommen sollte, bestand keine Gefahr, daß man als Ausländer eingesperrt wurde. Er würde nach Hause zurückkehren und sich an die Front melden können.

Eine weitere Entscheidung war da offenbar ganz von selbst gefallen. Dies war keine Reise, die in die Sommerferien hineingepackt werden würde; er würde aus Thameside weggehen, für immer.

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