Sie begab sich in den Hörsaal, und als er eintrat, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. «Er sieht aus, als hätte er die Nacht durchgemacht», sagte Sam. Ruth nickte. Das schmale Gesicht war blaß, die hohe Stirn gefährlich umwölkt, und irgend jemand schien stundenlang auf seiner Robe gesessen zu haben.

Doch als er seine Vorlesung begann, stellte sich der alte Zauber ein. Nur eines hatte sich geändert – sein Abgang. Mit täuschender Beiläufigkeit bewegte er sich zur Tür, während er seinen letzten Satz sprach, und war verschwunden. Er als einziger unter den Dozenten erhielt keinen Dank von Verena Plackett.


Er hatte ihr gesagt, sie könne um zwei Uhr kommen, aber er hatte sich verspätet, und sie hatte Zeit, sich die Hominidenfrau anzusehen, die ohne Frances' Schal ein wenig nackt aussah; dann ging sie hinüber zu der flachen Schale, in der sich aus dem Durcheinander von Reptilienknochen allmählich eine erkennbare Gestalt herauszubilden begann.

Als Quin ins Zimmer kam, sah er sie dort stehen und war an Wien erinnert. Ihm schien, sie sähe genauso aus wie damals: verloren und hoffnungslos. Aber ihm war nicht nach Mitleid zumute. Der vergangene Abend mit Claudine Fleury war eine unerwartete Enttäuschung gewesen. Sie kannten sich lange, sie verstanden sich. Sie war zweimal verheiratet gewesen, lebte jetzt in Mayfair, im luxuriösen Haus ihres Vaters, eines Konzertagenten, der viel auf Reisen war, eine Französin, wie jedermann sie sich erträumt: zierlich und dunkeläugig, von erlesener Eleganz.

Der Abend war nach dem gewohnten Muster abgelaufen: Abendessen bei Rules, Tanzen im Domino und dann nach Hause zu den Wohltaten ihres intimen Himmelbetts.

Wenn man überhaupt jemandem schuld geben konnte, dann ihm, das wußte er, und er konnte nur hoffen, daß Claudine nichts gemerkt hatte. Die Wahrheit war, daß alles, was ihn zu ihr hingezogen hatte, ihre Erfahrung, ihre innere Distanziertheit, die Tatsache, daß sie die Liebe nicht allzu ernst nahm, jetzt seinen Zauber verloren hatte. Plötzlich hatte er das Zusammensein mit ihr als seelenlos empfunden und sich unglaublich einsam gefühlt.

Ruth, die sein verschlossenes Gesicht sah, machte sich auf das Schlimmste gefaßt.

«Was kann ich für Sie tun?»

Ruth holte tief Atem. «Sie können mir verzeihen», sagte sie. Quin zog die Augenbrauen hoch. «Du lieber Gott! Ist es so schlimm? Was soll ich Ihnen denn verzeihen?»

«Ich sage es Ihnen gleich – nur versprechen Sie mir bitte, nicht von Freud zu reden, denn das macht mich schrecklich wütend.»

«Das wird mir wahrscheinlich ganz leichtfallen», erwiderte er. «Ich schaffe es häufig, ihn monatelang nicht zu erwähnen. Aber was hat er Ihnen Schlimmes angetan?»

«Er selbst war es eigentlich gar nicht», antwortete Ruth. «Es war Fräulein Lutzenholler.» Und als Quin sie verständnislos ansah, erklärte sie: «Sie ist Psychoanalytikerin. Sie kommt aus Breslau, und sie macht nichts als Ärger. Sie läßt alles anbrennen – sogar harte Eier, und das ist doch wirklich schwierig –, und dauernd kocht ihre Suppe über und überschwemmt den ganzen Herd, und meine Mutter ist überzeugt, daß wir nur ihretwegen Mäuse im Haus haben. Und jeden Abend um halb zehn steigt sie auf einen Stuhl und klopft an die Zimmerdecke, damit Heini zu üben aufhört. Und dann wagt sie es noch ...» Ruth konnte vor Entrüstung nicht weitersprechen.

«Was wagt sie?»

«Sie wagt es, mich darüber aufzuklären, was Freud über das Verlieren von Dingen gesagt hat.»

«Was hat er denn gesagt?»

«Daß wir das verlieren, was wir verlieren möchten, und das vergessen, was wir vergessen möchten. Es steht alles in seiner Traumdeutung. Ich hätte ihr ja gar nicht erzählt, daß ich die Papiere im Bus liegengelassen habe, aber es war sonst niemand zu Hause, und ich war total außer mir, weil ich schon überall gewesen war, im Depot und beim Fundbüro. Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, was ich im Bus liegengelassen hatte, nur daß es etwas Wichtiges war – und da untersteht sie sich, mir mit meinem Unbewußten zu kommen – eine Frau, die nicht mal Suppe kochen kann!»

Quin beugte sich über seinen Schreibtisch. «Ruth, würden Sie mir jetzt einfach mal in aller Ruhe sagen, worum es eigentlich geht? Was haben Sie im Bus liegengelassen?»

Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. «Die Papiere für die Nichtigkeitserklärung. Den ganzen Packen, den Mr. Proudfoot mir gegeben hatte. Sie waren alle in einer großen Pappröhre.»

Quin war aufgestanden und zum Fenster gegangen. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Seine Schultern zuckten. Er mußte wirklich zornig sein.

«Es tut mir so leid. Es tut mir wirklich schrecklich leid.»

Quin drehte sich um, und sie sah, daß er sich bemühte, nicht zu lachen.

«Sie finden das komisch?» fragte sie perplex.

«Ja, ich muß es gestehen», antwortete er entschuldigend. Dann ging er zu ihr und blieb neben ihr stehen. «Jetzt erzählen Sie mir mal genau, wie es passiert ist. Möglichst in chronologischer Reihenfolge.»

«Also, ich war bei Mr. Proudfoot, und er hat mir diese Rolle mit den Dokumenten gegeben, und ich wollte gleich nach Hampstead fahren, mit dem Bus, um die Papiere bei einem Notar zu unterschreiben. Ich weiß, daß in der High Street einer ist. Ich hab einen von diesen altmodischen Bussen genommen, die oben offen sind, Sie wissen schon, und bin hinaufgegangen, weil es in Wien solche Doppeldecker überhaupt nicht gibt. Ich habe mich ganz vorn hingesetzt und mir einfach alles angesehen, woran wir vorüberkamen. Es war schön, so hoch oben zu sitzen und ganz im Freien. Und als wir nach Hampstead Heath kamen, habe ich plötzlich unten am Rand des Parks eine ganze Gruppe Steinpilze gesehen, Sie wissen schon, diese großen Pilze, die wir auch am Grundlsee gefunden haben. Sie standen gleich hinter der Damentoilette, und ich wußte genau, daß sie da nicht mehr lange sein würden, weil die Flüchtlinge ja immer auf der Suche sind; deshalb bin ich die Treppe hinuntergerannt, um an der nächsten Haltestelle auszusteigen und sie zu pflücken. Bei uns ist es nämlich mit dem Essen ein bißchen knapp, seit Heini gekommen ist – ich meine, meine Mutter ist immer froh, wenn jemand etwas mitbringt. Ja, und als ich dann im Park war, merkte ich, daß ich die Papiere vergessen hatte. Aber ich habe mich eigentlich nicht weiter aufgeregt, weil ich ganz sicher war, daß ich sie im Depot wiederbekommen würde. Aber da waren sie nicht, und beim Fundbüro auch nicht. Ich war in den letzten zwei Tagen mehrmals dort, aber es ist hoffnungslos. Ich weiß nicht, wie ich das Mr. Proudfoot erklären soll. Er war doch so nett und hat sich so bemüht.»

«Machen Sie sich keine Sorgen, ich spreche mit ihm. Aber etwas anderes, Ruth. Meinen Sie nicht, es wäre jetzt an der Zeit, Heini und Ihren Eltern von unserer Heirat zu erzählen? Wir haben schließlich nichts getan, dessen wir uns schämen müssen. Ich bin überzeugt, sie würden ...»

«Nein, nein, bitte!» Ruth umklammerte seinen Arm und sah ihn flehend an. «Ich bitte Sie ... meine Mutter hat viel Verständnis, sie macht Heinis ganze Wäsche, und sie verköstigt ihn mit, und sie beklagt sich auch nicht, wenn er immer so lange im Bad bleibt ... aber was es bedeutet, ein Konzertpianist zu sein, hat sie irgendwie doch nicht ganz begriffen. Als zum Beispiel Paul Ziller für Heini diese Arbeit fand – er hätte zwei Abende in der Woche im Lyons Corner House Klavier spielen sollen –, da hat sie tatsächlich erwartet, daß er sie annimmt.»

«Aber er hat es nicht getan?»

«Nein. Er hat gesagt, wenn man diesen Weg einmal einschlägt, wird man als Musiker nie wieder ernstgenommen; aber Paul Ziller tut es natürlich auch, und meine Mutter ... sie ist Ihnen sowieso schon so dankbar dafür, daß Sie meinem Vater die Arbeit besorgt haben, und sie würde Sie bestimmt aufsuchen, um Ihnen zu danken, und Sie würden das fürchterlich lästig finden.»

«Ach ja, würde ich das?» fragte Quin in einem Ton, den sie bei ihm nie vorher gehört hatte. «Na ja, kann sein. Wie dem auch sei, ich werde Dick anrufen, damit er die Papiere noch einmal aufsetzen läßt. Machen Sie sich keine Vorwürfe, wir haben wahrscheinlich nur einen oder zwei Monate verloren.»

Sie lächelte. «Vielen Dank. Ich bin so erleichtert. Jetzt kann ich mich in Ruhe über meine Hausarbeit setzen.»

Erst am Ende des Tages kam Quin, der auf geheimnisvolle Weise seine gute Laune wiedergefunden hatte, dazu, seinen Anwalt anzurufen.

«Was hat sie getan?» fragte Proudfoot ungläubig.

«Das hab ich dir doch eben gesagt. Sie hat die Papiere im Bus liegengelassen .»

«Das ist doch nicht zu fassen! Ich hatte sie ihr extra in eine Riesenpappröhre gesteckt, die mit rotem Band zugeknotet war.»

«Aber sie hat sie nun mal verloren», sagte Quin und wiederholte in aller Kürze die Geschichte von den heißumkämpften Pilzen. «Du wirst das Ganze also noch einmal schreiben lassen müssen.»

«Ja, gut, aber diese Woche geht das nicht mehr – meine Sekretärin ist krank. Und nächste Woche reise ich für vierzehn Tage nach Madeira, du kannst also die nächste Sitzungsperiode des Gerichts vergessen.»

«Tja, das läßt sich nicht ändern», sagte Quin, und Dick Proudfoot dachte sich im stillen, wenn er wirklich Verena Plackett heiraten wollte, so schien es kein sonderlich dringender Wunsch zu sein. «Was tust du denn in Madeira?»

«Ich mache Urlaub», antwortete Proudfoot. «Und ich werde ein bißchen malen. Deine Frau meinte, ich sollte wieder anfangen.»

«Meine ...» Quin brach ab. Es wäre ihm nie eingefallen, Ruth so zu bezeichnen.

«Na ja, sie ist doch deine Frau, oder etwa nicht? Ich versteh sowieso nicht, wieso du sie unbedingt loswerden möchtest – du mußt wirklich verrückt sein. Aber mich geht das ja nichts an.»