«Aber was hat sie gebetet?» fragte Leonie.
Dr. Levy zuckte die Achseln, und Ziller sagte, von Hofmann würde es sicher wissen. «Er wird gleich hier sein.»
«Wieso sollte gerade er es wissen? Er ist doch überhaupt kein Jude», sagte Mrs. Weiss wegwerfend.
«Aber er hat doch in diesem Stück von Isaac Bashevis Singer mitgespielt, wissen Sie nicht mehr? Der Nebbich. Das ist ein sehr jüdisches Stück», sagte Ziller.
Von Hofmann jedoch konnte keine klare Auskunft geben. «In dem Akt war ich nicht dabei», sagte er, «aber es ist eine wunderschöne Feier. Alle Schauspieler waren sehr bewegt, und Steffi hat hinterher auf dem Flohmarkt eine Menora gekauft. Ich könnte sie ja mal fragen – sie verkauft bei Harrod's Strümpfe.»
Aber niemand wollte Steffi bemühen, die zwar eine hervorragende Schauspielerin, aber eine äußerst langweilige Frau war, und Miss Violet und Miss Maud, die diese Diskussion mitangehört hatten, sagten jetzt, sie müßten langsam daran denken, die Weihnachtsdekorationen aus dem Keller zu holen.
Leonie, die sich hier auf vertrautem Boden fühlte, wurde munter. «Wie feiern Sie Weihnachten?» fragte sie die Damen.
«Also, wir gehen zur Abendmesse», antwortete Miss Maud. «Und wir schmücken das Tea-Room und legen auf jeden Tisch einen Stechpalmenzweig.»
«Und die Adventskränze?» fragte Leonie.
«Die gibt es bei uns nicht», antwortete Miss Maud entschieden, der das bedenklich pfäffisch roch.
«Aber einen kleinen Baum mit roten Äpfeln und einem silbernen Stern werden Sie doch haben?»
Die Damen schüttelten die Köpfe und sagten, sie hielten nichts von solchem Aufwand.
«Aber das ist doch kein Aufwand», protestierte Leonie. «Das ist einfach schön.» Und schüchtern fügte sie hinzu: «Ich könnte ja Lebkuchen backen ... mit Zuckerguß und roten Bändern.»
«Georg hat eine große Fichte in seinem Garten», bemerkte Mrs. Weiss. «Ich kann in der Nacht, wenn Moira schläft, ein paar Zweige davon abschneiden.»
«Meine Frau hat ihr kleines Glockenspiel mitgenommen», sagte der Bankier unerwartet. «Ich hielt das für blödsinnig, aber sie hat es schon seit ihrer Kindheit.»
Wieder in der Küche, sahen Miss Maud und Miss Violet einander an.
«Na ja, so schlimm wäre es wahrscheinlich gar nicht», sagte Miss Maud, «aber ich möchte nicht den ganzen Boden voller Tannennadeln haben.»
«Auf jeden Fall ist es besser als dieses Channukka. Ich meine, da werden sie nicht weit kommen, wenn sie sich nicht mal erinnern können, wie es gefeiert wird», meinte Miss Violet.
Mrs. Burtt wand ihren Spüllappen aus und hängte ihn am Spülbecken auf, über dem Ruth mit Reißzwecken ein Diagramm befestigt hatte, das den «Lebenszyklus des Pololo-Wurms» zeigte.
«Und es wird Ruth bestimmt aufmuntern, wenn hier alles so hübsch aussieht», bemerkte sie.
Miss Maud runzelte die Stirn. Sie konnte nicht ganz verstehen, wieso ihre Kellnerin Aufmunterung brauchen sollte. «Sie ist doch sehr glücklich, seit Heini da ist.»
«Ja, aber müde», entgegnete Mrs. Burtt.
Drei Tage nachdem Leonie ihre Idee mit dem Lichtfest wieder ad acta gelegt hatte, ging Ruth auf dem Weg zur Universität auf der Post vorbei und entnahm ihrem Schließfach ein Päckchen mit rotem Siegel, das sie mit klopfendem Herzen öffnete. Minuten später stand sie mitten im Getümmel eilender Menschen und blickte wie gebannt auf den dunkelblauen Reisepaß mit dem goldenen Löwen, dem sich aufbäumenden Einhorn und dem Motto Dieu et Mon Droit in ihrer Hand.
«Ich bin britische Staatsbürgerin», sagte sie laut und sah im Geist, wie der Außenminister in Cut und Zylinder ihr einen Schlagbaum nach dem anderen öffnete.
Wenn sie es doch nur allen hätte zeigen können: die Einbürgerungsurkunde, die ihren neuen Status bestätigte; den Reisepaß, der auf sie allein ausgestellt war. Ach, hätte sie doch jetzt, den Reisepaß schwenkend, ins Willow marschieren können, um ihre Eltern zu umarmen und mit Mrs. Burtt einen Freudentanz aufzuführen.
Aber sie konnte die Papiere natürlich niemandem zeigen. Sie waren auf Ruth Somerville ausgestellt, nicht auf Ruth Berger, und darum würden Reisepaß und Einbürgerungsurkunde dort verschwinden müssen, wo schon die anderen Papiere lagen, in dem geheimen Versteck, in dem sich die nicht totzukriegenden Mäuse tummelten.
Sie war sehr früh auf dem Weg zur Universität. Seit Heini da war, stellte Ruth den Wecker unter ihrem Kopfkissen immer auf halb sechs, damit sie zwei Stunden arbeiten konnte, solange es noch ruhig war. Als sie jetzt in der Untergrundbahn saß, überkam sie der Wunsch, diesen Tag irgendwie zu feiern, und impulsiv stieg sie an der nächsten Haltestelle aus und eilte die Stufen zur National Gallery hinauf, um auf den Trafalgar Square hinunterzublicken.
Sie hatte recht getan, dies war das Herz ihrer neuen Heimatstadt. Die Brunnen glitzerten, die Löwen lächelten ... Durch den Admiralty Arch auf der anderen Seite konnte sie die Mall sehen, die zum Buckingham-Palast führte, wo der schüchterne König lebte und die Königin mit der sanften Stimme sich um die Prinzessinnen auf ihrer Keksdose kümmerte.
Sie neigte den Kopf nach hinten, um zu Nelson hoch oben auf seiner Säule hinaufzuschauen, zu diesem kleinen Mann, dem Lieblingshelden der Engländer. Er war ungeheuer tapfer gewesen ... Aber die Briten waren alle tapfer. Ihre jungen Mädchen schlugen einander mit Hockeystöcken grün und blau und weinten keine Träne; ihre Frauen waren in früheren Zeiten in wollenen Röcken durch die Urwälder marschiert, um die Heiden zum Wort Gottes zu bekehren.
Auch sie würde stark und tapfer sein. Sie würde die Prüfungen zu Weihnachten bestehen und abends wach bleiben, damit Heini reden konnte, wenn er das brauchte. Es war lächerlich zu glauben, daß ein Mensch mehr brauchte als vier Stunden Schlaf. Sie konnte alles schaffen, wenn sie nur wollte. «Der Wille muß nur geboren werden, damit er triumphieren kann.» Das hatte Ruth in einem Kalender gelesen und war sehr beeindruckt gewesen. Daran wollte sie sich halten.
Erst jetzt wandte sie sich dem Schreiben zu, das Mr. Proudfoot dem Paß beigelegt hatte, und sah, daß er sie am folgenden Nachmittag in seiner Kanzlei erwartete.
Proudfoot hatte es für das einfachste gehalten, mit Ruth persönlich zu sprechen, und hatte das Quin auch gesagt. «Es wäre am vernünftigsten, wenn ihr zusammen kämt, aber wir können wohl nicht vorsichtig genug sein.»
Denn auf die Einbürgerung folgte der nächste Schritt – die Nichtigkeitserklärung. Zu diesem Zweck war ein umfangreiches Dokument vorbereitet worden, das von beiden Parteien vor einem Notar unterzeichnet werden mußte. Diese eidesstattliche Erklärung sollte dann dem Gericht in der Hoffnung vorgelegt werden, daß sie in die Hände eines Richters gelangte, dem sie genügen würde, um die Ehe für nichtig zu erklären, ohne weitere Beweise zu verlangen. Ob es sich tatsächlich so entwickeln würde, war nicht vorauszusehen, da die Verfahrensordnung für die Nichtigkeitserklärung von Ehen mit im Ausland geborenen Staatsbürgern derzeit revidiert wurde.
Als Mr. Proudfoot Ruth zum erstenmal sah, stand sie mit dem Rücken zu ihm in seinem Vorzimmer und betrachtete ein kleines Aquarell, das dort an der Wand hing. Das Sonnenlicht fiel schräg durch das Fenster direkt auf ihr Haar, so daß er als erstes diese flammende Pracht sah und sich augenblicklich wappnete. Mr. Proudfoot war für weibliche Reize äußerst empfänglich und hatte einmal in der Great Portland Street seinen Wagen mitten in eine Telefonzelle gefahren, weil er nur Augen für ein Mädchen gehabt hatte, das gerade aus einem der Häuser kam. Er wußte, daß Enttäuschung wartet, wenn Frauen mit flammendem blonden Haar sich umdrehen. Bestenfalls bekam man Mittelmäßigkeit zu sehen, schlimmstenfalls eine scharfe, mißvergnügte Nase, einen verkniffenen Mund, denn Gott geht mit seiner Fülle haushälterisch um.
«Miss Berger?»
Ruth drehte sich um – und eine riesige Welle der Dankbarkeit überschwemmte Mr. Proudfoot, während gleichzeitig seine Bewunderung für Quin als hochherzigen Retter der vom Schicksal Geschlagenen deutlich zurückging. Es blieb nur Verwunderung darüber, daß Quin es so eilig hatte, eine Frau loszuwerden, auf die die meisten Männer sich gestürzt hätten.
«Ich finde dieses Bild wunderschön», sagte sie, nachdem sie ihm die Hand gegeben hatte. «Es hat etwas so Freundliches – es erinnert mich an die Gegend, in der wir immer den Sommer verbracht haben, an den Grundlsee.»
«Ah, ja. Das ist der Lake District; die Landschaft ist wahrscheinlich ähnlich.»
«Wer hat das Bild gemalt?»
«Ich. Als Student. Ich habe mich damals im Aquarellieren versucht. Ziemlich stümperhaft, wie Sie sehen», sagte er, sich in britische Bescheidenheit zurückziehend.
Ruth gefiel das nicht. «Von stümperhaft kann keine Rede sein», sagte sie vorwurfsvoll. «Das Bild ist wirklich schön. Aber jetzt malen Sie wohl mehr die hiesige Gegend?»
«Nein. Ich habe seit Jahren keinen Pinsel mehr in der Hand gehabt.»
«Aber warum denn nicht? Haben Sie hier soviel zu tun?» fragte sie, während sie ihm in sein Zimmer folgte.
«Äh, ja – aber es ließe sich wahrscheinlich schon Zeit finden. Man ist nur als Amateur so leicht entmutigt.»
Ruth runzelte die Stirn. «Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ich halte das für ganz verkehrt. Ein Amateur ist jemand, der eine Tätigkeit liebt. In allen Haydn-Quartetten gibt es eine Stimme für einen Amateur – meistens die zweite Geige oder das Cello – und sie ist genausoschön wie die anderen.»
Der Anblick des Dokuments jedoch, das Mr. Proudfoot vorbereitet hatte, brachte Ruth jetzt zum Schweigen. Sie brauchte ihre ganze Konzentration, um sich durch mehrere Seiten gotischer Schrift und juristischen Jargons hindurchzukämpfen, aus denen hervorging, daß sie niemals von Quinton Alexander St. John Somerville berührt worden war und den Mann ihrerseits niemals berührt hatte.
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