«Ach nein! Doch nicht diese ollen Kamellen!» Sie hörte den geringschätzigen Ton des blonden jungen Mannes mit dem gestriegelten Haar ganz deutlich. «Spielen Sie doch was Anständiges!» Ein zweiter junger Mann, fast das genaue Abbild des ersten, torkelte kopfschüttelnd zum Podium.

Aber die Band spielte verbissen weiter; spielte vielleicht nicht sehr gut, aber gewissenhaft, und die jungen Männer gaben nach und zogen ihre Mädchen auf die Tanzfläche hinaus, wo sie den anmutigen Schwung des Walzers parodierten, die Schritte übertrieben. Die meisten waren inzwischen betrunken, sie machten sich einen Spaß daraus, Zusammenstöße zu provozieren, die Musik eines anderen Landes zu verspotten. Einer von ihnen stolperte und wäre beinahe gefallen – ein hochaufgeschossener Junge mit schwarzen Locken, und das war nun wirklich komisch. Seine Partnerin versuchte, ihn hochzuziehen, und dann kippte ihm ein rothaariger Junge mit Sommersprossen Champagner ins Gesicht. Es war ja alles so lustig. Zum Kaputtlachen ...

Der Stein lag in ihrer Hand, noch ehe sie sich bewußt war, ihn aufgehoben zu haben. Sie mußte ihn schon früher bemerkt haben, denn er hatte genau die richtige Größe, schwer genug, um Wirkung zu haben, leicht genug, um von ihr mit Kraft geworfen zu werden. Der Akt des Werfens selbst war wie eine Katharsis; dann das Klirren des zersprungenen Glases. Ihr schien, daß sie Sekunden, beinahe Minuten wartete, aber es war nicht so, denn als Quin, von einer ärgerlichen Gruppe junger Leute verfolgt, auf die Terrasse herauskam, rannte sie schon über den Rasen in die Dunkelheit, auf dem Weg zur Straße.

«Da ist sie!»

«Es ist ein Mädchen! Komm, die schnappen wir uns!»

Dann Quins Stimme, ruhig, aber scharf wie ein Peitschenknall. «Nein. Sie gehen jetzt alle wieder hinein. Ich kenne das Mädchen, sie ist aus dem Dorf, und ich werde das mit ihr erledigen.»

Sie gehorchten ihm. Er hatte gesehen, in welche Richtung sie gelaufen war, aber es bestand die Gefahr, daß sie versuchen würde, sich im Wäldchen zu verstecken. Er wußte, daß sie nicht entkommen konnte, denn das Wäldchen endete an einem hohen Zaun, aber es gab dort manchmal Fallen, die die Wilderer stellten. Dennoch zwang er sich, nicht zu laufen, solange er noch im Blickfeld des Hauses war.

Er holte sie leicht ein. Sie hatte genau das getan, was er erwartet hatte.

«Warten Sie!» rief er. «Da im Wald sind manchmal Fallen! Seien Sie vorsichtig!» Er sprach Deutsch, weil er hoffte, sie dadurch zu beruhigen, und näherte sich ihr langsam. «Bleiben Sie stehen.»

Sie war schon stehengeblieben. Sie lehnte an einer jungen Tanne, und ihre Haltung im wechselnden Mondlicht erinnerte an einen jungen Sankt Sebastian, der auf die Pfeile wartet.

«Ich habe für schlechte Manieren nichts übrig», sagte Quin ruhig. «Diese Leute sind meine Gäste.»

Sie hob ruckartig den Kopf und richtete sich auf. «Ja, genau solche Gäste, wie man sie bei Ihnen erwarten würde – bei einem Mann, dem das ganze Meer gehört. Grölende, dumme Lackaffen, die sich über Musik lustig machen. Wissen sie, was vorgeht? Können sie überhaupt lesen? Haben sie gesehen, was in den Zeitungen steht? Nein, natürlich nicht, denn sie lesen ja nur den Sportteil; welches Pferd schneller war als die anderen. Und den Gesellschaftsklatsch, damit sie genau wissen, wer wieder mal vor dem König geknickst hat.» Sie zitterte so heftig, daß sie nur stoßweise sprechen konnte. «Heute – jetzt – während die da drinnen sich betrinken und amüsieren, werden die Menschen meines Volkes zusammengetrieben und in Viehwagen verladen und abtransportiert. Während hier der Champagner in Strömen fließt und die da drinnen sich vor Trunkenheit kaum noch auf den Beinen halten können, werden junge Männer, die an Gleichheit und Brüderlichkeit geglaubt haben, auf den Straßen zusammengeschlagen.»

Quin machte keinen Versuch, sie zu trösten. Er war so zornig wie sie, aber seine Stimme war völlig beherrscht. «Ich will Sie nicht darauf hinweisen, daß die Menschen Ihres Volkes – wenn wir das Wort einmal in einem anderen Sinn gebrauchen – zu Tausenden auf dem Heldenplatz standen und Hitler entgegenjubelten. Aber dies eine will ich Ihnen doch sagen: Wenn Sie die jungen Leute verhöhnen, die Sie hier gesehen haben, begehen Sie nicht nur eine Ungezogenheit; Sie begehen eine Ungerechtigkeit, derer Sie sich noch zutiefst schämen werden – und sehr bald schon. Denn genau diese dummen Lackaffen sind es, die in den Kampf ziehen werden, wenn es zum Krieg kommen sollte. Sie werden sich dem Bösen entgegenstellen, das Hitler ist, wenn auch nur aus Jux und Tollerei. Der Junge, der zuviel getrunken hat und hingefallen ist, hat gerade Sandhurst absolviert. Er ist Ann Rothieys einziger Sohn, und wenn es zum Krieg kommt, werden ihm wahrscheinlich keine sechs Monate gegönnt sein. Sein Freund – der, der ihm den Champagner ins Gesicht gekippt hat – ist Leutnant bei der Marineinfanterie. Er ist mit dem Mädchen in dem blauen Kleid verlobt, und sie haben die Hochzeit vorverlegt, weil er nach Übersee versetzt wird. Die Bainbridge-Zwillinge – die beiden, die keinen Walzer mögen – sind bei der Air Force. Alle beide. Ich würde ihnen vielleicht ein Jahr geben, weil sie hervorragende Piloten sind, aber mehr ganz gewiß nicht. Wenn Sie nächstes Jahr oder das Jahr danach in dieses Zimmer schauen, werden Sie ein Zimmer voller Gespenster sehen – voll toter Männer und weinender Frauen. Während Ihr Heini, vermute ich, immer noch seine Arpeggios üben wird.»

«Nein!» Ihre Stimme war kaum zu hören. Sie schaffte es nicht, den Schutz des Baums zu verlassen. «Ich habe heute abend einen Anruf bekommen. Sie haben ihn gefangen. Heini ist in einem Lager.»

21

«Ich kann nicht», sagte Heini mit erstickter Stimme. «Ich kann das nicht.»

Das rote Gesicht des Aufsehers mit dem brutalen Kinn und den kleinen blauen Augen schob sich dicht vor das Heinis. «Oh doch, das können Sie. Sie werden gleich merken, daß Sie das können.»

Heini sah das Blitzen des Messers in der Hand des Mannes und begriff, daß er geschlagen war. Nicht einmal einen Kartoffelschäler gab es – man erwartete von ihm, daß er drei Eimer voll Kartoffeln unter fließendem kalten Wasser schälte. Er hatte ihnen erklärt, daß er Pianist war, daß er seine Hände brauchte, daß sie sein Lebensunterhalt waren; aber keiner hatte ihm zugehört, keinen interessierte das. Ein Abrutschen der Klinge, und er würde vielleicht wochenlang nicht üben können.

Meierwitz neben ihm hatte bereits angefangen. Säuberlich schnitt er die schwarzen Augen heraus und ließ die nackten Kartoffeln ins Wasser fallen. Aber bei Meierwitz war das auch etwas anderes; er kam aus einem Arbeiterviertel im Ruhrgebiet; Meierwitz war harte körperliche Arbeit gewöhnt; er pfiff bei der Arbeit vergnügt vor sich hin und machte Heini auf ein Rotkehlchen aufmerksam, das auf einem Zaunpfahl saß und sie beobachtete.

Für Heini waren die grauen Felder, der graue Himmel, das Murmeln des Meeres auf dem eine Meile entfernten Kiesstrand nur trostlos, alptraumhaft. Die lethargischen schwarz-weißen Kühe, die jenseits der Stacheldrahtumzäunung des Lagers weideten, hätten Kreaturen aus dem Hades sein können. Es war sein dritter Tag in der Gefangenschaft, und er wußte jetzt schon, daß er diese Strapazen nicht aushalten würde. Die Männer schliefen zu sechst in einer Baracke; sie standen um sieben Uhr auf und wuschen sich in eisiger Kälte; zum Frühstück gab es Porridge, von dem er gehört, den er aber nie gesehen hatte, und Tee, immer Tee, Tee, Tee – niemals auch nur eine einzige Tasse Kaffee. Dann folgten die fürchterlichen Arbeiten – Kartoffelschälen, Gemüseschnipseln, lauter Dinge, bei denen er sich die Hände verletzen konnte, und abends der nervtötende Krach von Mundharmonikas oder des Radios oder von Leuten, die um Streichhölzer pokerten. Und jetzt sollten auch noch Vorträge eingeführt werden, deren Besuch man zur Pflicht machen wollte, und am vergangenen Abend hatte man ihnen einen Film vorgeführt, in dem ein vertrottelter Komiker auf der Ukulele gespielt und dauernd seine Hose verloren hatte. Wenn das britische Kultur war, so würde er sich hier sehr unglücklich fühlen.

Meierwitz hatte ein Stück Kartoffel abgeschnitten und es dem Rotkehlchen hingeworfen, das es mit seitlich geneigtem Kopf betrachtete und dann zu dem Schluß kam, daß es weiterer Beachtung nicht wert sei. Der brutale Aufseher, ein Eisenwarenhändler aus Graz, der fest entschlossen war, diesen unordentlichen Haufen von Flüchtlingen zu einer ordentlichen Arbeitstruppe hinzutrimmen, trat zu Meierwitz und sagte: «Gib dir keine Mühe, der frißt nur Würmer.» Er war schon richtig stolz auf das wählerische Gebaren dieses britischsten aller Vögel und warf Heini Radek einen geringschätzigen Blick zu. Man sollte meinen, der Junge wäre froh, aus Deutschland rauszukommen; statt dessen winselte er ständig wegen seiner Hände.

Die Entdeckung, daß sein Visum eine Fälschung war, hatte Heini getroffen wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Die Stunden bei der Einwanderungsbehörde am Flughafen waren ein Alptraum gewesen, den er bis an sein Lebensende nicht vergessen würde. Zusammen mit den anderen, deren Papiere nicht in Ordnung waren, hatte man ihn in dieses Transitlager gebracht und – fand er – wie ein Tier behandelt; eingesperrt, in Baracken zusammengepfercht, herumgestoßen. Anfangs hatte er gefürchtet, man würde ihn zurückschicken; aber man hatte in England das schreckliche Dilemma der Flüchtlinge endlich begriffen, und nach dem ersten Tag hatten alle im Dovercamp erfahren, daß sie bleiben konnten. Diejenigen, die sich freiwillig zur Landarbeit meldeten oder bereit waren, sich dem Pionierkorps anzuschließen, konnten schnell entlassen werden; die anderen mußten erst geprüft werden und ein Verfahren durchlaufen; vor allem mußte ein Bürge gefunden werden, der garantierte, daß sie dem Steuerzahler nicht zur Last fallen würden.