«Was?» Einen Moment lang fürchtete er, ihr Verstand hätte unter dem Unfall gelitten.
«Marianne mochte keine Radieschen. Seine Frau. Solange sie lebte, hat er nie welche gezogen. Als sie gestorben war, sagte er, <Jetzt muß ich Radieschen ziehen, sonst bleibt sie für immer unter der Erde.> Er meinte, daß es den Toten gestattet sein muß, sich in uns frei zu bewegen, daß man sie nicht einkapseln und in die Form ihrer Vorurteile pressen darf.» Sie schwieg einen Moment und strich sich das Haar aus den Augen. Es war eine Geste, die ihm mittlerweile sehr vertraut war. «Seitdem zieht er mit Begeisterung Radieschen, und ich mag sie nicht besonders, aber ich esse sie. Wir alle essen sie.» Wieder machte sie eine Pause. «Vielleicht ist es richtig, Bowmont wegzugeben; ich weiß es nicht, und es geht mich auch nichts an – aber ganz bestimmt sollte doch Ihr eigener Wunsch dahinterstehen, und nicht der vermeintliche Wunsch Ihres Vaters. Er hätte sich entwickelt und verändert und die Dinge vielleicht ganz anders gesehen, wenn er älter geworden wäre. Überlegen Sie doch nur, wie wütend Sie heute nachmittag auf mich waren – aber das war nicht immer so, und vielleicht wird es eines Tages wieder vergehen.»
Quin sah sie an und wollte etwas sagen. Aber dann nahm er nur das Tagebuch und schloß es wieder im Schreibpult ein. «Kommen Sie», sagte er, «ich glaube, es ist Zeit, daß Sie den Basher kennenlernen.»
Er nahm sein altes Tweedjackett vom Haken hinter der Tür und legte es ihr um die Schultern. Dann führte er sie nach unten, und sie gingen durch den Korridor, der den Turm mit dem Haus verband. Behutsam berührte sie dies und jenes, den schäbigen schwarzen Ledersessel, die Platte eines vielbenützten, vielpolierten Tischs, während er sie, die Hand leicht auf ihrem Rücken, durch die Räume führte. Was sie sah, gefiel ihr. Im Inneren der Festung war ein schlichtes Heim ganz ohne Prätentionen, in dem alles den Stempel jener Frau trug, die seit Jahren die Hüterin des Hauses war. Frances Somerville, die Quin in Ruhe gelassen hatte, hatte auch dieses Haus in Ruhe gelassen.
In der Bibliothek blieb Quin stehen, und Ruth, in Frances' voluminösem Flanellnachthemd, Quins Jackett lose um die Schultern, sah vor sich in schwerem goldenen Rahmen das Bildnis des Konteradmirals Quinton Henry Somerville.
Der Basher war siebzig Jahre alt gewesen, als das Porträt in Auftrag gegeben worden war, und der Maler, ein verdienstvoller Einheimischer, hatte sich offensichtlich alle Mühe gegeben, seinem Modell zu schmeicheln, doch der Erfolg war bescheiden geblieben. In den roten Wangen des Basher sah man die infolge von Wetter und Whisky geplatzten Äderchen; seine kurze, stark aufgeworfene Nase hatte an der Spitze einen bläulichen Schimmer. Trotz der prächtigen Uniform, trotz des bulligen Nackens, der aus dem goldbetreßten Kragen emporstieg, ähnelte Quins Großvater mit seinem schmalen Mund, dem kahlen Kopf und den eigensinnigen blauen Augen vor allem einem schlechtgelaunten Säugling.
«Und trotzdem», sagte Ruth, «da ist irgend etwas ...»
«Oh ja, da ist eine ganze Menge. Sturheit, Gewalt ... in der Marine hat er seine Offiziere tyrannisiert, und den einfachen Matrosen, meinte er, könnten Hiebe nur guttun. Er hat des Geldes wegen geheiratet – es war eine Menge Geld – und hat seine Frau abscheulich behandelt. Und als er starb, hat sich ganz Northumberland zu seiner Beerdigung eingefunden, und alle schüttelten sie die Köpfe und sagten, die guten Zeiten seien vorbei und England würde nie wieder das werden, was es einmal gewesen war.»
«Ja, das kann ich mir vorstellen.»
«Er hat meinen Vater verachtet, weil der Gedichte liebte – weil er gern mit seiner Mutter im Garten war. Er hatte eine Todesangst, er könnte einen Feigling großgezogen haben. Das war das einzige, was ihm je Angst gemacht hat – daß sein Sohn ein Schwächling sein könnte. Mein Vater war todunglücklich auf dem Internat – er kam hin, als er sieben war, und weinte sich jahrelang jeden Abend in den Schlaf. Er haßte das Meer und er haßte das Segeln. Er war ein sanfter Mensch, und der Basher verachtete ihn dafür aus tiefstem Herzen. Er wollte meinen Vater zwingen, zur Marine zu gehen, aber mein Vater weigerte sich. Und er gab auch nicht klein bei. Als er fünfzehn war, lief er von zu Hause weg. Zu einer Verwandten seiner Mutter. Sie nahm ihn mit ins Ausland, und er trat in den diplomatischen Dienst ein. Er machte eine anständige Karriere, aber nach Bowmont ist er nie zurückgekehrt. Er verabscheute alles, wofür es stand – Macht, Privilegien, Philistertum, Geringschätzung all der Dinge, die er hochschätzte. Und dennoch hat er am Ende das Leben meiner Mutter aufs Spiel gesetzt, damit eben das alles weiterbestehen konnte.»
Ruth sagte nichts. Sie betrachtete das Porträt und fragte sich, wieso dieser grimmige Engländer eine Nase wie Beethoven hatte, wunderte sich, daß ihr dieses harte alte Gesicht nicht unsympathisch war.
«Aber Sie haben ihn gemocht?»
«Nein.» Quin zögerte. «Ich war acht, als ich nach Bowmont kam. Ich hatte nur Schlimmes von ihm gehört, und er entsprach allem, was ich gehört hatte. Er verfrachtete mich in den Turm, packte mich unter das Eisbärenfell und fertig. Ich war vollkommen allein dort oben, ein Kind von acht Jahren, dessen Vater gerade im Krieg gefallen war. Ich hatte Angst im Dunklen, jeder Abend, wenn ich zu Bett mußte, war die Hölle. Es gefiel mir im Turm, aber ich wollte ein Nachtlicht – ich bettelte darum, aber er sagte nein. Draußen, im Freien, hatte ich vor nichts Angst; ich kletterte, ich segelte, ich liebte das Meer genau wie er. Er sah das auch, aber er war stur. Eines Tages sagte ich: <Wenn ich ganz allein bis Harcar Rock und wieder zurück segle, kann ich dann ein Nachtlicht haben?> Er sagte: <Wenn du allein nach Harcar Rock segelst, vertrimm ich dich, daß dir Hören und Sehen vergeht.> So hat er immer geredet, wie in einem Abenteuerroman für Jungen.»
«Harcar? Das ist doch die Stelle, wo die Forfarshire gesunken ist? Wohin Grace Darling gerudert ist?»
«Ja. Jedenfalls – ich tat es. Bei Tagesanbruch bin ich losgesegelt – ich war klein, aber kräftig; segeln ist nur Geschicklichkeit, sonst nichts. Trotzdem ist mir unbegreiflich, wie ich das geschafft habe, ohne umzukommen; es gibt dort schreckliche Strömungen. Als ich zurückkam, stand er am Strand. Er sagte kein Wort. Er nahm mich nur am Arm und führte mich mit eiserner Hand zum Haus hinauf. Dort schlug er mich mit solcher Gewalt, daß ich eine Woche lang nicht sitzen konnte. Aber am Abend, als ich zu Bett ging, war es da – mein Nachtlicht.»
«Ja», sagte Ruth nach einer Pause. «Ich verstehe.»
«Es wäre kein Problem für mich, Bowmont zu übernehmen, Ruth. Ich kann mir eine Frau suchen ...» Er unterbrach sich – «eine neue Frau –, ich kann Söhne in die Welt setzen. Das ist keine Sache. Aber ich kann nicht vergessen, was Bowmont und alles, was es verkörpert, aus meinem Vater gemacht hat. Ich kann nicht vergessen, daß meine Mutter für seinen Familienstolz sterben mußte. Sollen andere es haben. Ich werde sowieso bald wieder auf Reisen gehen. Es sei denn ...» Aber es war überflüssig, ihr von dem Krieg zu sprechen, der seiner Überzeugung nach kommen würde.
Wieder zurück im Turm, nahm er ihr das Jackett ab. «Morgen können Sie zu Ihren Freunden zurückkehren, Rapunzel», sagte er. «Jetzt schlafen Sie sich erst einmal richtig aus.»
Die plötzliche Sanftheit warf sie fast um. «Dann kann ich also bleiben?» fragte sie, den Tränen nahe.
«Ja, Sie können bleiben.»
«Liebling! Kind!» rief Lady Plackett, als sie ihre Tochter am Abend der Geburtstagsfeier in großer Toilette sah. «Er wird hingerissen sein.!»
Verena lächelte. Sie konnte nicht umhin, mit ihrer Mutter einer Meinung zu sein. Gleich nachdem beschlossen worden war, ihren Geburtstag mit einem kleinen Fest zu feiern, war Verena auf der Suche nach einem passenden Abendkleid zu Fortnum geeilt. Die Direktrice hatte ein schmales, fließendes Kleid aus weißem Georgette im Stil einer römischen Tunika vorgeschlagen, um, wie sie meinte, Verenas klassische Schönheit zu unterstreichen.
Aber damit war Verena nicht einverstanden gewesen. Gerade an dem Abend, an dem, wie sie hoffte, ihr Schifflein in den Hafen einlaufen würde, wollte sie von Kopf bis Fuß feminin wirken, und so hatte sie sich gegen den Rat der Verkäuferin für ein erdbeerrotes Taftkleid mit Stufenrock entschieden, dessen einzelne Volants genau wie die Puffärmel und das herzförmige Dekolleté mit Rüschen gesäumt waren. Um die jugendliche Frische ihrer Erscheinung zu betonen, die, wie sie wußte, manchmal hinter ihrer hohen Intelligenz zurücktrat, trug sie im Haar einen Kranz aus Rosenknospen.
Für eine kleine Feier, wie sie ursprünglich geplant gewesen war, wäre ihre Toilette zweifellos viel zu aufwendig gewesen, aber die Planungen hatten, genau wie die Placketts gehofft hatte, ihre eigene Dynamik entwickelt, so daß auf das bevorstehende Fest das Wort «klein» längst nicht mehr anzuwenden war. Etwa zur gleichen Zeit, als Verena in ihre Satinschuhe schlüpfte – mit flachem Absatz natürlich, da nicht zu erwarten war, daß Quin, der inzwischen seinen einunddreißigsten Geburtstag hinter sich hatte, noch wachsen würde –, warfen junge Mädchen in allen Teilen Northumberlands letzte prüfende Blicke in den Spiegel, banden junge Männer ihre schwarzen Smokingschleifen oder zogen die Jacken ihrer Ausgehuniformen über, um sich auf den Weg nach Bowmont zu machen. Diese meerumschlungene Festung nämlich, die, während ihr Herr meist durch Abwesenheit glänzte, von einer strengen Hüterin verwaltet wurde, war immer etwas Besonderes gewesen – und vielleicht wußten sie, was Quin wußte: daß das Schicksal an die Tür klopfte und Vergnügen jetzt Pflicht war.
Ann Rothley und Helen Stanton-Derby waren früher gekommen, um Frances zu helfen. Helen hatte Ladungen rost- und goldfarbener Chrysanthemen mitgebracht, Hagebutten und Waldrebe, und verschwand mit mehreren Rollen Blumendraht, um den Salon in eine farbenprächtige herbstliche Laube zu verwandeln, während Ann nach oben gegangen war, um Frances bei der Toilette zu beraten. Jetzt saßen die drei Frauen in der großen Eingangshalle und tranken vor dem Eintreffen der Gäste ein wohlverdientes Glas Sherry.
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