«Was tun Sie da?»

Sie fuhr herum, wieder ertappt, wieder im Unrecht.

«Tut mir leid. Ich bin aufgewacht.»

Quins Gesicht wirkte immer noch grimmig und verschlossen, aber jetzt bemühte er sich. «Körperlich fehlt ihr nichts», hatte der Arzt zu ihm gesagt, «aber sie scheint einen seelischen Schock erlitten zu haben.»

«Das ist ja wohl verständlich», hatte Quin erwidert. «Schließlich wäre sie beinahe ertrunken.»

Aber der alte Dr. Williams hatte ihn nur angesehen und den Kopf geschüttelt. Er glaube nicht, daß es das sei, hatte er gesagt; sie sei ja jung und kräftig und auch nicht lange im Wasser gewesen. «Seien Sie nicht zu streng zu ihr», hatte er gesagt. «Gehen Sie sanft mit ihr um.»

Darum kam er jetzt zu ihr ans Fenster und sagte: «Fühlen Sie sich besser?»

«Ja, mir fehlt überhaupt nichts. Am liebsten würde ich jetzt gleich weggehen.»

«Das ist leider nicht möglich, armes Rapunzel; nicht vor morgen früh. Und Ihr schönes Haar ist auch nicht lang genug, um daran einen Prinzen heraufzuziehen, der Sie retten könnte.»

«Außerdem sind Prinzen knapp», entgegnete sie, um einen leichten Ton bemüht.

Quin sagte nichts. Früher am Abend hatte er Sam auf der Terrasse angetroffen, wie er zu Ruths Fenster hinaufsah, und hatte ihn weggeschickt.

«Das ist Ihre Mutter, nicht wahr?» fragte sie, den Blick auf die Fotografie gerichtet.

«Sind wir uns so ähnlich?»

«Ja. Sie hat ein sehr intelligentes Gesicht. Und so – lebendig.»

«Ja, ich denke, so war sie auch. Bis ich sie umgebracht habe.» Jetzt war es Ruth, die zornig wurde. «So ein Unsinn! Das ist doch absoluter Quatsch. Schmarrn!» rief sie echt wienerisch. «Sie reden wie ein Küchenmädchen.»

«Wie bitte?» sagte er verblüfft.

Sein Angriff auf dem Boot hatte Ruth befreit. Sie fühlte sich nicht mehr verpflichtet, ihm gefällig zu sein, auf ihn Rücksicht zu nehmen; und so nahm sie jetzt kein Blatt vor den Mund.

«Nein, das hätte ich nicht sagen sollen. Küchenmädchen sind oft sehr intelligent, wie Ihre Elsie zum Beispiel, die mir die Namen aller Pflanzen oben auf den Felsen gesagt hat. Aber Sie reden wie jemand aus einem drittklassigen Liebesroman – Sie, als Mörder Ihrer Mutter! Na ja, was kann man schon von einem Mann erwarten, der sich mit toten Tieren zudeckt ... dem das ganze Meer gehört.»

Besser als gehofft, war es ihr gelungen, ihn aus der Reserve zu locken.

«Das Meer gehört niemandem», entgegnete er heftig. «Und falls es Sie interessieren sollte, das, was mir gehört, werde ich weggeben. Übernächstes Jahr geht Bowmont in den Besitz des National Trust über.»

Sie schnappte nach Luft. Sie war völlig verwirrt und, schlimmer noch, zutiefst bestürzt; sie hatte das Gefühl, einen Schlag in den Magen bekommen zu haben.

«Den ganzen Besitz?» stammelte sie. «Das Haus und den Park und den Garten und den Hof?»

«Ja.» Er hatte seinen Gleichmut wiedergefunden. «Sie als gute Sozialdemokratin wird das doch sicher freuen.»

Sie nickte. «Ja», antwortete sie mühsam. «Es ist bestimmt das richtige. Es ist nur ...»

Aber was es «nur» war, konnte sie nicht in Worte fassen. Daß sie tief getroffen war vom Verlust eines Orts, der mit ihr nichts zu tun hatte, den sie nie wiedersehen würde. Daß sie sich Bowmont anverwandelt hatte, seine Felsen und Blumen, seinen Duft und seine hellen Strände ... In ihrem Leben mit Heini würde sie viel Zeit mit Warten zubringen müssen; in muffigen Zimmern, in überfüllten Zügen. Wie die Nonnen in mittelalterlichen Klöstern, die goldene Bäume und kristallene Flüsse in ihre Gobelins woben, hatte sie sich einen Traum von Bowmont gesponnen: von Pfaden, auf denen sie wandern konnte, von einer verblichenen blauen Tür in einer hohen Mauer. Und der Traum meinte Bowmont so, wie es war – als Quins Reich, als einen Ort, an dem eine gallige alte Frau Blumen mit Zärtlichkeit pflegte.

«Tun Sie es zum Nutzen der Allgemeinheit?» fragte sie.

Quin zuckte die Achseln. «Ich bezweifle, ob die Allgemeinheit wer auch immer sie ist – großes Interesse an Bowmont hat; das Haus ist nichts Besonderes. Den Leuten liegt vor allem am Zugang zum Meer, vermute ich, und das ließe sich mit ein paar zusätzlichen Wegerechten arrangieren. Ich kann leider Ihre Leidenschaft für <die Allgemeinheit> nicht teilen. Man weiß ja nie genau, wer sie eigentlich ist.»

«Warum tun Sie es dann?»

Quin nahm ihr die Fotografie seiner Mutter aus den Händen. «Sie haben sich über mich mokiert, als ich sagte, ich hätte sie umgebracht. Aber es ist wahr. Mein Vater wußte, daß sie keine Kinder bekommen sollte. Sie war sehr krank gewesen – sie lernten sich in der Schweiz kennen, als er dort im diplomatischen Dienst war. Sie war in einem Sanatorium, sie hatte Tuberkulose gehabt. Er wollte ein Kind. Er wollte einen Erben für Bowmont. Um jeden Preis.»

«Ja, und?» Ruth zuckte die Achseln. Sie erschien ihm plötzlich erbarmungslos; erwachsen, nicht länger seine Studentin, sein Schützling. «Das wollten Männer doch immer schon. Der Tabakhändler möchte einen Erben für seinen Laden ... der ärmste Rabbi möchte einen Sohn, der für ihn den Kaddisch betet, wenn er tot ist. Warum bauschen Sie das so auf?»

«Wenn ein Mann eine Frau zur Schwangerschaft zwingt ... wenn er ihr Leben aufs Spiel setzt, nur damit er vor seinen eigenen Vater –, den Vater, mit dem er sich entzweit hatte und den er haßte – hintreten und sagen kann: <Hier ist ein Erbe> – dann macht er sich schuldig.»

Aber das akzeptierte sie nicht. «Und sie? Glauben Sie, daß sie so schwach war? Glauben Sie, daß sie es nicht wollte? Sie war tapfer und mutig – sehen Sie ihr doch ins Gesicht. Sie hat sich ein Kind gewünscht. Nicht für Bowmont und nicht für Ihren Vater. Sie wollte ein Kind haben, weil es wunderbar ist, ein Kind zu haben. Warum billigen Sie Frauen nicht zu, daß sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können? Warum dürfen sie nicht genau wie die Männer ihr Leben riskieren? Sie haben das gleiche Recht dazu.»

«Zum Beispiel, um eine Promenadenmischung aus dem Wasser zu retten?» fragte er spöttisch.

«Ja. Für alles, was sie für richtig halten.» Dennoch senkte sie den Kopf; sie wußte, daß sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, sondern auch seines und vielleicht Sams – daß seine Grausamkeit unten auf dem Boot eine Ursache gehabt hatte. «Ich bin auch ein Mischling», sagte sie leise. «Und außerdem hat Ihre Tante ihn sehr lieb.»

«Was? Das Hündchen? Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Sie bemüht sich doch ständig nur, es loszuwerden.»

Wieder zuckte Ruth die Achseln. «Mein Vater sagt immer: <Höre nicht darauf, was die Leute sagen, sieh dir an, was sie tun.> Warum hat sich Ihre Tante ausgerechnet den Zimmermann ausgewählt – jeder weiß doch, daß seine Frau Asthma hat und keine Tiere ins Haus dürfen? Warum ausgerechnet den Wirt vom Black Bull, dessen Mutter als kleines Mädchen von einem Schäferhund angefallen wurde und seither vor Hunden Todesangst hat?»

«Woher wissen Sie das alles?» fragte er gereizt. Woher wußte sie nach einer Woche Aufenthalt in Bowmont, daß Elsie sich für Heilpflanzen interessierte, daß Mrs. Ridleys Großmutter die Darlings gekannt hatte? Dieser Drang, alles ganz genau wissen, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, war ja zum Wahnsinnig werden! Der Mann, der sie einmal heiratete, würde die Wände hochgehen. Heini würde die Wände hochgehen. «Na ja, wie dem auch sei, mein Vater hat sich davon nie erholt. Er hat das Gefühl seiner Schuld sein Leben lang mit sich herumgeschleppt. Wahrscheinlich hat es ihn auch umgebracht – er meldete sich 1916 freiwillig, obwohl dazu überhaupt keine Notwendigkeit bestand.»

«Jetzt fangen Sie schon wieder an! Ihr Engländer seid unglaublich melodramatisch! Eine Kugel hat ihn umgebracht.»

«Was ist eigentlich los mit Ihnen?» fragte Quin, der es nicht gewöhnt war, melodramatischer Neigungen beschuldigt zu werden, noch dazu von einem jungen Ding, das stark zu Gefühlsausbrüchen neigte. Und dennoch ging er, völlig perplex über seine eigene Reaktion, zu dem kleinen Schreibpult an der Wand, sperrte eine Schublade auf und nahm ein altes Heft mit blau marmoriertem Einband heraus.

«Lesen Sie es», sagte er. «Das ist das Tagebuch meines Vaters.»

Das Heft fiel von selbst bei jener Seite auseinander, die er hundertmal gelesen und niemals einer Menschenseele gezeigt hatte. Ruth nahm es und trat näher an die Lampe.


«Eben bin ich von Claires Beerdigung zurückgekommen», las sie, «und Marie brachte mir das Baby, als könnte sein Anblick mich trösten, der Anblick dieses zerknitterten kleinen Geschöpfs mit seiner unersättlichen Lebensgier. Das Kind hat sie umgebracht – nein, ich habe sie umgebracht. Ich war klüger als die Ärzte, die mir gesagt hatten, daß sie kein Kind haben darf. Ich wußte es besser, ich wollte einen Sohn. Ich wollte den Jungen nach Bowmont bringen und meinem Vater zeigen, daß ich einen Erben hervorgebracht habe – daß er mich nicht länger zu verachten braucht. Ja, ausgerechnet ich, der ihn gehaßt hat, der aus Bowmont floh und Reichtum und Erbe den Rücken kehrte, war genauso verdorben von dem Verlangen nach Macht wie er. Claire wollte ein Kind; ich versuche, das nicht zu vergessen, aber es war meine Aufgabe, bedachter zu sein als sie.

Jetzt muß ich versuchen, dieses Kind zu lieben, ihm keinen Vorwurf zu machen; aber ohne sie fehlt mir die Lust am Leben, und ich habe keine Liebe mehr zu geben. Wenn ich einen Wunsch habe, so den, daß dieses Kind wenigstens sich von seinem Erbe befreien und ein freier Mensch unter gleichen werden wird.»


Ruth klappte das Tagebuch zu. «Der arme Mann», sagte sie leise. «Aber warum balsamieren Sie ihn ein? Sie sollten Radieschen ziehen, wie mein Onkel Mishak.»