Sie passierten den Leuchtturm von Longstone, und der Wärter, der gerade sein Gemüsegärtchen umgrub, richtete sich auf, um ihnen zuzuwinken.
«Da ist Grace Darling hergekommen, nicht wahr?» bemerkte Sam, der gerade dachte, wie ähnlich Ruth mit ihrem im Wind flatternden Haar dieser Heldin viktorianischer Zeiten sah.
Quin nickte. «Die Harcar-Felsen sind im Süden, wo die Forfarshire aufgelaufen ist. Wir werden sie auf der Rückfahrt sehen.»
«Mrs. Ridleys Großmutter hat sie noch gekannt. Ist das nicht interessant», sagte Ruth. «Sie hat erzählt, nicht die Tuberkulose hätte sie eigentlich umgebracht, sondern vielmehr der Wirbel, den hinterher alle um sie gemacht haben, als sie sie zur Heldin hochjubelten. Ich hätte nichts dagegen, zur Heldin hochgejubelt zu werden – mich würde das nicht umbringen.»
Daran zweifelte Quin nicht. «Wie haben Sie denn Mrs. Ridleys Großmutter kennengelernt?» erkundigte er sich neugierig. «Sie lebt doch sehr zurückgezogen.»
«Ich war dort, um Eier zu holen, und da sind wir ins Reden gekommen.»
Sie waren dem Ufer schon sehr nahe, als es geschah. Elke Sonderstrom war in die Kabine hinuntergegangen, um ihnen ihre Sachen heraufzureichen. Quin behielt die Landspitze im Auge, während er auf den Steg auf der anderen Seite zuhielt.
Was passierte, war zunächst nur komisch. Ein mächtiger Robbenbulle tauchte plötzlich etwa anderthalb Meter vom Boot entfernt auf der der Insel zugewandten Seite aus dem Wasser empor. Das Hündchen, das auf einem Stapel Segeltuch gedöst hatte, hob neugierig den Kopf.
Der Robbenbulle nieste.
Wie von der Tarantel gestochen, sprang das Hündchen auf und begann aufgeregt zu bellen. Es kletterte zum Rand des Boots hinauf. Unglaublich, was es da sah – einen Vorfahr vielleicht? Ein Ungeheuer? Sein Gebell wurde noch aufgeregter. Es versuchte füßescharrend, sich an der Bordwand hochzuziehen.
Das Boot neigte sich scharf zur Seite. Und innerhalb einer Sekunde war es geschehen – innerhalb einer jener Sekunden, von denen man einfach nicht glauben will, daß sie nicht rückgängig zu machen sind.
«Es ist reingefallen! O Gott! Das Hündchen ist über Bord.»
Quin sah sich um und versuchte, die Chancen des Tieres abzuschätzen. Die See war ruhig, aber die Tide lief hier mit fünf Knoten. Entweder gegen die Felsen geschleudert oder am Boot vorbei ins offene Meer hinausgetrieben zu werden, das waren die Alternativen. Dennoch begann er, das Boot zu wenden, es in den Wind zu steuern.
Keiner hätte sich träumen lassen, daß dies nur der Anfang war. Ruth war impulsiv, aber sie war nicht verrückt. Elke Sonderstrom kam gerade aus der Kabine herauf, sie war zu weit weg, um etwas zu sehen; die anderen hingen über die Bordwand und versuchten, den Kurs des kleinen Hundes zu verfolgen, der wild rudernd mit den Wellen kämpfte, verschwand und wiederauftauchte, verschwand und wiederauftauchte. Erst als Pilly zu schreien begann, sahen sie es. Sahen Ruths erschrockenes Gesicht, als die Strömung sie erfaßte, sahen, wie sie den Kopf drehte, nicht mehr jetzt, um nach dem Hündchen zu suchen, sondern um die beängstigende Geschwindigkeit zu messen, mit der die See sie davontrug.
Die nächsten Sekunden waren für Quin der reinste Alptraum. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, zu warten, bis er das Boot voll in den Wind gedreht und den Motor ausgeschaltet hatte. Er zwang sich, am Steuer zu bleiben, bis er sich darauf verlassen konnte, daß die Peggoty nicht abgetrieben und nicht kentern würde.
«Halten Sie das Boot genau so», befahl er Verena. «Tun Sie nichts anderes.» Sie nickte und übernahm das Steuer.
Jetzt konnte er schnell machen, aber als er das Seil nahm, das Elke ihm hinhielt, gingen wieder wertvolle Sekunden verloren: Sam hatte seine Jacke ausgezogen und kletterte zur Bootsseite hinauf. Quin stürzte sich auf ihn und riß ihn mit solcher Gewalt ins Boot zurück, daß der Junge wie betäubt liegenblieb. Dann endlich hatte er das Seil um seine Mitte, der Knoten war fest.
«Jetzt laßt mich hinunter», sagte er, und gleich darauf war er im Wasser.
Die Felsen waren seine einzige Chance. Wenn sie sich dort so lange festhalten konnte, bis er sie erreicht hatte; doch sie ragten glitschig und glattgeschliffen aus dem Wasser. Er sah, wie sie sich plagte, einen Halt zu finden, wie sie sich aus dem Wasser zog, dann den Halt verlor und versuchte, ihm entgegenzuschwimmen. Doch das war hoffnungslos. Niemand konnte gegen diese Strömung anschwimmen.
In der Peggoty drehte Huw plötzlich den Kopf und übergab sich. Doch das Seil hielt er ruhig und fest in seinen Händen.
Quin war es gelungen, näher heranzukommen – so nahe, daß sie nur den Arm auszustrecken brauchte, um ihn zu erreichen. Aber da schlug eine Welle über ihrem Kopf zusammen, und sie war verschwunden. Zweimal fand er sie und verlor sie wieder. Und dann, als er die Hoffnung beinahe aufgegeben hatte, bekam er etwas zu fassen, das er festhalten und um seine Hand wickeln konnte; das ihm nicht wieder entglitt: ihr Haar.
«Nein», sagte Elke Sonderstrom. «Laß sie jetzt. Du kannst später mit ihr sprechen.»
Quin schüttelte ihre Hand ab. Ohne seine nassen Sachen auszuziehen, hatte er mit klappernden Zähnen das Boot wieder gewendet und es in Richtung Hafen auf Kurs gebracht. Aber jetzt konnte und wollte er nicht länger warten. In ihm kochte ein Zorn, wie er ihn noch nie gekannt hatte; ein Zorn, in dem alles unterging, Kälte, Anstand, Mitleid.
Ruth lag nackt bis auf eine grobe graue Decke in der muffigen kleinen Kabine, in die er sie geschleift hatte. Es roch nach Fisch und nach Teer. Es war beinahe dunkel, aber nicht so dunkel, daß sie Quins Gesicht nicht gesehen hätte.
«Ich hoffe, Sie sind zufrieden. Sie sind jetzt eine Heldin – genau wie Grace Darling! Sie haben das Leben Ihrer Freunde aufs Spiel gesetzt – dieser Junge, der so vernarrt in Sie ist, wollte ihnen hinterherspringen, aber das spielt natürlich gar keine Rolle. Nichts spielt eine Rolle, wenn Sie nur im Mittelpunkt stehen können, Sie verwöhnter, geltungssüchtiger Fratz! Aber eines kann ich Ihnen sagen, Ruth. Niemand wird Sie je wieder auf eine Exkursion mitnehmen. Dafür werde ich sorgen. Sie sind für alle eine Gefahr. Ihnen fehlen nämlich die zwei Dinge, die nötig sind – Rücksicht auf andere und gesunder Menschenverstand. Lieber Himmel, Verena Plackett ist ein Musterexemplar im Vergleich zu Ihnen. Sobald der Arzt bei Ihnen war, schicke ich Sie nach Hause.»
Sie hatte die Augen geschlossen, aber seiner Stimme konnte sie nicht entkommen. «Ist er tot?» fragte sie leise.
«Wer?»
«Der Hund.»
«Vermutlich ja. Sie können froh und dankbar sein, daß er das einzige Opfer ist. Wir schippern hier nicht auf einem idyllischen österreichischen See herum, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Das hier ist die Nordsee.» Und als sie den Kopf drehte, um ihre Tränen zu verbergen, flammte sein Zorn von neuem auf. «Hören Sie mir überhaupt zu? Sind Sie überhaupt fähig zu begreifen, was Sie getan haben?»
Ihre Stimme war fast unhörbar. «Könnte ich – bitte – einen Eimer haben? Ich – ich muß mich übergeben.»
Am späten Abend geschah ein kleines Wunder. Von der Wasserwacht kam eine Nachricht, die besagte, daß das Hündchen auf der Insel angespült worden war und lebte. Aber Ruth war nicht da, um sich mit ihnen zu freuen.
«Wir müssen es ihr sagen», rief Pilly. «Wir müssen ihr eine Nachricht zukommen lassen.»
«Der Professor wird es ihr sagen», meinte Elke Sonderstrom. «Nein, bestimmt nicht.» Pillys runde blaue Augen waren tief bekümmert. «Der will sie doch nur bestrafen. Er haßt sie.»
Elke sagte nichts. Sie, die höchst glücklich und zufrieden ohne Männer lebte, sah manchmal tiefer, als sie es sich wünschte.
«Nein, Pilly», widersprach sie ruhig. «Er haßt sie nicht. So ist das nicht.»
20
Ruth erwachte verwirrt und benebelt aus dem Schlaf der Betäubung. Die Uhr auf dem Nachttisch neben dem Bett zeigte auf drei die Stunde vor Tagesanbruch, in der sich einem der Alp auf die Brust setzt, in der die Menschen sterben. Im ersten Moment wußte sie nicht, wo sie war. Sie sah nur, daß sie in einem großen Bett lag und mit irgendeinem Fell zugedeckt war – einem Bärenfell oder etwas noch Ausgefallenerem. Als sie es berührte, erinnerte sie sich.
Sie war in Quins Turm. Nachdem das Boot angelegt hatte, hatte er sie hier herauftragen lassen – immer noch böse und ohne von ihr Notiz zu nehmen, als sie sagte, ihr fehle nichts, sie wolle mit den anderen ins Bootshaus zurück. Er hatte den Studenten befohlen zu gehen und nach zwei Männern vom Hof geschickt, um sie ins Haus hinauftragen zu lassen.
«Solange der Arzt sie nicht gesehen hat, kann niemand zu ihr», hatte er gesagt. Es war nicht Fürsorge oder Besorgnis; das war Strafe.
«Aber mir fehlt doch gar nichts», hatte sie immer wieder beteuert, als später der Arzt gekommen war, ein alter Mann, und sie untersucht hatte.
«Ja, ja», hatte er nur gesagt und ihr ein Schlafmittel gegeben.
Aber ihr fehlte doch etwas. Selbst als Martha mit der Nachricht kam, daß das Hündchen gerettet war, konnte sie sich nicht richtig freuen. Quins Zurückweisung quälte sie, seine Grausamkeit. Sie war in Ungnade; sie sollte nach Hause geschickt werden.
Sie setzte sich auf und ließ die nackten Füße zu den Holzdielen hinunter. Ein so spartanisches Zimmer hatte sie nie gesehen; beinahe ganz ohne Mobiliar; Fenster ohne Vorhänge, durch die das Mondlicht hereinfiel; das Bärenfell achtlos über das Bett mit seinem einen Kopfkissen geworfen. Es war fast so, als schliefe man im Freien.
Das Nachthemd, das sie anhatte, mußte Frances Somerville gehören. Weit geschnitten, aus dickem weißen Flanell, fiel es ihr in losen Falten auf die Füße hinunter; ihr Kinn versank fast in den Rüschen am Hals. Als sie das Licht anknipste, sah sie auf einem kleinen Schreibpult, das an der Wand stand, die Fotografie einer jungen Frau, deren schmales dunkles Gesicht ihr überraschend vertraut war. Sie trat mit dem Bild ans Fenster, um es näher anzusehen.
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