Sie atmete den würzigen Duft der feuchten Erde, die hier das Wasser verdrängt hatte, während sie vom Wind geschützt zwischen den Hecken vorwärtsging, die von wilder Klematis durchwoben waren. Hagebutten und Vogelbeeren leuchteten im dunklen Laub; die schwarzblauen Früchte von Schlehen hingen von den Zweigen herab.
Nach einer Weile machte das Sträßchen einen Bogen und führte nun zwischen offenen Weiden hindurch, auf denen Schafe grasten, die wie frisch gewaschen aussahen. Ruth beugte sich über den Zaun und sprach mit ihnen, aber diese Tiere waren keine schwermütigen Gefangenen dunkler Keller, sondern freie Geister, die nur kurz aufblickten, ehe sie gemächlich weiterkauten.
Sie war jetzt in der Nähe des Hauses hinter einem Lärchenwäldchen. Sie konnte in die Auffahrt einbiegen und von dort in den Park auf der dem Land zugewandten Seite gelangen; oder sie konnte den Weg über den Graben nehmen. Sie entschied sich für das letztere und kam zu einer mit Flechten überzogenen Mauer, an der ein Kiesweg entlangführte. Ein Stück weiter in der Mauer war eine verblichene blaue Tür, von Kletterrosen umrankt. Einen Moment lang zögerte Ruth – aber es war kein Mensch in der Nähe, kein Laut störte die sonntägliche Stille. Beherzt stieß sie die blaue Tür auf und trat in den Garten dahinter.
«Es ist wahrscheinlich wegen der Essensgebote», sagte Verena beschwichtigend zu Frances. «Sie ist Jüdin, wissen Sie. Aus Wien. Vielleicht nahm sie an, daß wir Schweinefleisch essen.» Und sie lachte herzlich über die seltsamen Grillen der Ausländer.
Pilly und Sam, die im Salon Sherry tranken, sahen Verena zornig an. «Ruth macht wegen des Essens überhaupt kein Theater, das weißt du ganz genau. Außerdem ist sie katholisch erzogen worden.»
Sehr geschickt war diese Verteidigung allerdings nicht, da nun keiner wußte, was man sonst als Entschuldigung für Ruth vorbringen sollte. Frances gab sich dennoch mit Verenas Erklärung des koscheren Essens zufrieden und bemerkte, mit dem Stallknecht, der bei Lady Rothley gearbeitet habe, sei es genauso gewesen. «Wir hätten ihr sicher irgend etwas anderes servieren können. Ein Omelett zum Beispiel.»
Lady Plackett verbrachte den Tag bei Verwandten in Cumberland, aber Verena hatte Frances Somerville zur Kirche begleitet und bemühte sich nun, in Kaschmir-Twinset und Perlenkette, ihren Kommilitonen die Befangenheit in der ungewohnten Umgebung zu nehmen. Sie hatte Sam und Huw bereits daran gehindert, selbst ihre Jacken aufzuhängen, und ihnen erklärt, daß es dafür einen Butler gab, und als die jungen Leute sich zu Tisch setzten, behielt sie jene im Auge, von denen sie vermutete, sie könnten mit der Handhabung des Bestecks auf Kriegsfuß stehen. In Bowmont begnügte man sich heute zwar mit einem Minimum an Personal, aber Verena konnte sich gut vorstellen, daß diejenigen unter den Studenten, die aus kleinen Verhältnissen kamen, sich angesichts des Dieners in Schwarz und des Mädchens mit Schürze und Häubchen eingeschüchtert fühlten, und da Dr. Felton sich mit Frances Somerville unterhielt und Dr. Sonderstrom Quin von ihrer jüngsten Reise nach Lappland erzählte, nahm Verena es auf sich, freundliche Konversation zu machen. Selbstverständlich kümmerte sie sich auch um ihren Protegé Kenneth Easton. Es stand natürlich überhaupt noch nicht zur Debatte, ihn ins Haus ihrer Eltern einzuladen, und sie hätte ihn nicht gern im Kampf mit einer Artischocke gesehen, aber wenn man seine Herkunft bedachte, hielt Kenneth sich recht gut.
Den Kaffee nahmen sie im Salon ein, und dann stand Quin auf, empfahl seinen Schützlingen eine Partie Krockett oder ein Tennismatch auf dem ziemlich holprigen Rasenplatz und verschwand mit Roger Felton und Elke Sonderstrom in der Bibliothek.
«Möchte jemand vielleicht einen Rundgang durchs Haus machen?» fragte Frances.
Mehrere Studenten zeigten Interesse, doch ehe die Gruppe aufbrechen konnte, sagte Verena mit angemessenem Respekt: «Wäre es Ihnen recht, wenn ich die Führung übernehme, Miss Somerville? Sie würden sich doch jetzt sicher gern ein wenig Ruhe gönnen.»
Flüchtig runzelte Frances die Stirn. Aber sie selbst hatte Verena ja eingeladen, sich wie zu Hause zu fühlen; das Mädchen wollte sich gewiß nur nützlich machen.
«Sehr schön – aber natürlich nicht den Turm.» Damit ging sie hinaus, ohne sich bewußt zu sein, daß sie eine sehr verärgerte Gruppe von Studenten zurückließ. Sie ging jedoch nicht nach oben, um sich hinzulegen. Sie ging in den Keller, um einen Beutel Knochenmehl und die Blumenzwiebeln zu holen, die am Tag zuvor angekommen waren, und machte sich auf den Weg zum Garten.
Als Frances die Tür in der hohen Mauer öffnete, sah sie zu ihrem Mißvergnügen, daß sie nicht allein war. Ein junges Mädchen stand an der Südwand. Sie stand mit dem Rücken zu ihr und hatte einen Arm zu einem blütenschweren Zweig der Autumnalis-Rose erhoben, die sich an der Mauer emporrankte. Frances machte einen zornigen Schritt vorwärts, um ihren Unmut kundzutun, und sah, daß das Mädchen gar nicht die Absicht hatte, eine Rose zu stehlen, sondern dabei war, einen lang herabhängenden Trieb im Spalier zu verankern, ehe sie erneut die Nase im köstlichen Duft der üppigen tief rosa Blüten vergrub.
«Was tun Sie hier?» sagte sie, keineswegs versöhnt durch diese Würdigung einer ihrer Lieblingspflanzen.
Das Mädchen fuhr erschrocken herum, jedoch Frances' Meinung nach nicht angemessen eingeschüchtert. «Oh, entschuldigen Sie. Professor Somerville sagte, wir könnten uns hier frei bewegen, aber ich sehe ein, daß das hier etwas anderes ist. Der Garten ist ja beinahe ein privater kleiner Raum, nicht? Ein hortus conclusus. Nur das Einhorn fehlt.»
«Das wird auch weiterhin fehlen», versetzte Frances unwirsch. «Die Schafe richten genug Schaden an, wenn sie hereinkommen.»
«Ich gehe gleich», versprach Ruth. «Aber er ist wirklich unwahrscheinlich schön, dieser Garten. So geschützt ... so in sich geschlossen und so üppig ... Diese Rosen! Wie sie blühen! Als wäre es noch Sommer. Und diese silbrig schimmernde Pflanze da mit den Blättern, die wie Federn aussehen – ich weiß nicht, wie sie heißt.»
«Wermut», sagte Frances immer noch mit unwillig gefurchter Stirn.
«Ach, es ist eine Zauberwelt. Dieser Garten hier direkt am Meer ... Beides zu haben ... Oh, und Ihr Schal!»
«Was reden Sie da?» Frances überlegte, ob das Mädchen vielleicht nicht ganz richtig im Kopf sei. Sie starrte den Schal um ihren Hals so beglückt an wie zuvor die weißen Sterne einer spät blühenden Klematis.
«Er ist wunderschön!» rief Ruth, plötzlich richtig glücklich. «Ich habe ihn an dem Hominiden in Professor Somervilles Zimmer gesehen, aber an Ihnen sieht er viel besser aus.»
«Unsinn! Dieses alte Ding. Es wundert mich, daß Quin überhaupt daran gedacht hat, ihn mit herzubringen.»
Nun jedoch mußte sie der Tatsache ins Auge sehen, daß sie die Studentin vor sich hatte, die sich geweigert hatte, zum Mittagessen zu kommen. Wie viele Frauen ihrer Generation hatte Frances als junges Mädchen ein halbes Jahr in Florenz verbracht, um den «letzten Schliff» zu bekommen. Es war ihr schwergefallen, zwischen Tizian und Tintoretto zu unterscheiden, und das Klima hatte ihr zu schaffen gemacht. Aber sie hatte von diesem Aufenthalt doch genug behalten, um zu sehen, daß dieses fremde Mädchen trotz ihrer dunklen Augen in die Tradition all der Primaveras und blumenbekränzten Göttinnen gehörte, die die Maler gern beim heiteren Spiel im grünen Hain zeigten. Hätte sie sich wirklich eine Rose abgerissen und ins Haar gesteckt, es hätte gepaßt. Als jüdische Kellnerin jedoch, für die besonders gekocht werden mußte, war sie nicht zufriedenstellend.
«Sie sind wohl die kleine Österreicherin? Die mit den Eßschwierigkeiten?»
«Ich glaube nicht, daß ich Eßschwierigkeiten habe», entgegnete Ruth verwirrt. «Obwohl ich ehrlich sagen muß, daß ich Kutteln nicht besonders mag.»
«Miss Plackett erklärte uns, daß Sie kein Schweinefleisch essen. Es ist sehr töricht von Ihnen zu glauben, daß man Sie hier zwingen würde, etwas zu essen, das Sie nicht essen möchten. Sie hätten jederzeit ein Omelett haben können.»
Sie ging in die Knie und begann, ein Fleckchen Erde für ihre Zwiebeln zu bereiten, und Ruth kniete neben ihr nieder, um ihr zu helfen.
«Aber ich esse Schweinefleisch sehr gern. Das hat es bei uns zu Hause in Wien oft gegeben – meine Mutter macht es mit Kümmel; es schmeckt köstlich.»
Frances zupfte ein Grasbüschel aus der Erde. «Ich dachte, Sie seien ein jüdischer Flüchtling», sagte sie mit einer Spur Verdrossenheit im Ton, da ihr schon klar war, daß wieder einmal nicht alles so einfach sein würde; wie bei Ann Rothleys blondem Stallknecht, der eigentlich Opernsänger war.
«Ja, das bin ich wohl auch. Ich bin fünf Achtel Jüdin, wissen Sie–oder vielleicht auch drei Viertel – wir wissen es nicht ganz genau, weil Esther Olivares Jüdin gewesen sein kann, aber genausogut auch Spanierin. Sie war aus Valencia und ist immer in einem Schal gemalt worden. Das kann ein Gebetsmantel gewesen sein, aber es kann auch einfach das Tuch gewesen sein, das sie immer umgelegt hat, wenn sie zum Stierkampf gegangen ist. Aber meine Mutter ist katholisch, und wir haben nie koscher gegessen.» Sie riß ein Farnkraut aus und warf es auf das Häufchen Unkräuter. Sie drehte den Kopf und sah Frances an. «Soll ich lieber aufhören zu reden? Ich kann auch still sein, wenn Sie möchten. Ich muß mich nur darauf konzentrieren.»
Frances sagte, es sei ihr gleich, und reichte ihr den Beutel mit dem Knochenmehl.
«Dieser Garten ist wirklich unglaublich schön», sagte Ruth nach einer kleinen Pause. «Wer ihn angelegt hat, muß ein guter Mensch gewesen sein.»
«Ja. Sie war Quäkerin.»
«Wer mit Liebe im Garten arbeitet, kann gar nicht böse sein, nicht wahr? Eigensinnig vielleicht, oder mürrisch und eigenbrötlerisch, aber nicht böse. Ach, schauen Sie doch den wilden Wein an! Ich habe den Oktober immer geliebt. Sie nicht? Diese Farbenpracht. Soll ich einen Schubkarren holen?»
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