Er saß noch immer an der Maschine, als der Bus das Tor hinter dem Haus passierte und schwankend zum Strand hinunterzuckelte.
Ruth erwachte früh. Alle anderen im Schlafsaal über dem Bootshaus schliefen noch. Pilly, die neben ihr lag, war so fest zusammengerollt, als wollte sie sich gegen die Katastrophen des kommenden Tages schützen; nur ein paar Haarbüschel lugten über den Rand der grauen Decke.
Vom vorhergehenden Abend hatte Ruth nur noch den peitschenden Regen in Erinnerung, die plötzliche Kälte, als sie aus dem stickigen Bus gestiegen und ins Haus gelaufen waren – und das monotone Klatschen der Wellen an den Strand. Doch jetzt hatte sich etwas verändert, und auf den ersten Blick schien ihr, daß diese Veränderung einfach durch die Beleuchtung hervorgerufen worden war.
Sie kleidete sich eilig an, huschte an ihren schlafenden Freundinnen und an Dr. Sonderstrom vorbei, kletterte die Leiter hinunter und öffnete die Tür.
«Oh!» sagte sie und trat hinaus – ungläubig, verwirrt, geblendet. Wie hatte dies über Nacht geschehen können, dieses Wunder? Woher kam plötzlich dieses viele Licht? Woher diese unendliche Bewegung?
Die Sonne erhob sich aus einem silbern glänzenden Meer, dessen flirrendes Wasser seine Farben beinahe von Augenblick zu Augenblick veränderte. Und auch der Himmel wechselte die Farben, während sie zu ihm hinaufsah; zuerst war er rosig und amethystfarben, dann türkis ... und schon wartete ungeduldig eine Handvoll frischer Schäfchenwolken ...
Auch die Luft bewegte sich. Man brauchte sie nicht zu atmen, sie atmete sich selbst. Es war kein Wind, nein, noch nicht, nur diese neu geschaffene, frisch gewaschene Luft, die nach Salz und Seetang roch und dem Beginn der Schöpfung.
Es war zuviel. Zuviel Schönheit, zuviel Luft, zuviel Himmel, zuviel Meer. Sie hatte sie sich so oft vorgestellt: die glatte, graue, ziemlich traurige Weite der Nordsee, aber dies ...
Ein blendender Lichtstrahl fiel aus dem Himmel herab und brach sich glitzernd an einem Leuchtturm auf einer fernen Insel ... Es gab Felder auf diesem Meer: Flecken leuchtender Helligkeit, andere wie mattes Blei und stille Oasen wie Lagunen. Und es befand sich in ständiger Bewegung und Veränderung. Darauf war sie nicht gefaßt gewesen.
Es war Ebbe. Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und rannte wie trunken mit bloßen Füßen über den kühlen, welligen Sand zum Wasserrand. Allmählich beruhigte sie sich und nahm nun auch die Bewohner dieser lichtgesprenkelten Welt wahr: drei schwere Vögel, die im Flug von den Felsen wie drei schwarze Kreuze aussahen – Kormorane, dachte sie. Aber die Schar schmalgeschwingter Vögel, deren Weiß so intensiv war, daß sie wie von innen erleuchtet wirkten, konnte sie nicht benennen.
Dann kam sie zum ersten Felstümpel, und hier warteten einfachere, leichter zu fassende Freuden. Dr. Felton hatte sie gut unterrichtet; sie kannte die lateinischen Namen der Anemonen und Seesterne, der kleinen Garnelen, doch dies war eine Märchenwelt. Hier gab es Unterwasserwälder, winzige Sandbuchten, Kiesel wie Edelsteine ...
Am Meeresrand blieb sie stehen und streckte einen Fuß ins Wasser. Sie schnappte erschrocken nach Luft. Die Kälte traf sie wie ein elektrischer Schlag. Selbst der Gischt schien geladen ... aber dann, beinahe sofort, gewöhnte sie sich daran. Nein, das stimmte nicht; man konnte sich an diesen Schock eisiger Kälte und Reinheit nicht gewöhnen; man konnte nur immer mehr davon wollen.
Das habe ich nicht gewußt, dachte sie. Ich hätte nie geglaubt, daß etwas so sein könnte – daß es einem ein solches Gefühl der Reinheit geben könnte ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit und doch des Einsseins mit allem. Einen Moment lang wünschte sie all die Menschen, die sie liebte, herbei – ihre Eltern und Mishak und Mishaks geliebte Marianne, von den Toten auferstanden. Dann aber vollführte der Himmel eines seiner Zauberkunststücke, sandte eine Flotte purpurfarbener Wolken aus, die vor der neuen Sonne vorüberzogen, so daß einen Augenblick lang sich alles wieder veränderte – unruhig, dunkel und turbulent wurde. Und dann kam die Sonne wieder hervor, erstarkt, höher am Himmel, und sie dachte, nein, hier kann ich allein sein, weil es kein Allein oder Nichtallein gibt; es gibt nur Licht und Luft und Wasser, und ich bin ein Teil von allem, und alle, die ich liebe, sind Teil davon, doch es ist außerhalb der Zeit, jenseits von Wollen und Müssen.
An diesem Punkt ekstatischer Wonne bemerkte sie ein kleines weißes Segel und darunter ein Boot, das um das Kap herumkam und auf die Bucht zuhielt.
Auch Quin war schon bei Tagesanbruch erwacht und zu der geschützten Bucht von Bowmont Mill hinuntergegangen, wo er sein Boot liegen hatte. Er war froh gewesen, diesen Vorwand zu haben, um das Haus zu verlassen und das Boot für die Studenten um das Kap herumzusegeln; und er freute sich, daß das Wetter aufgeklart hatte; der goldene Tag war ein unerwartetes Geschenk. Sonst dachte er nichts, achtete nur auf den Wind, kümmerte sich um sein Segel ...
Er sah die einsame Gestalt, sobald er das Kap umrundete, und selbst aus der Ferne erkannte er, daß die Frau, wer immer sie sein mochte, sich in einem Zustand der Glückseligkeit befand. Der Wind peitschte ihr Haar, mit einer Hand hielt sie ihren Rock gerafft, während sie im Spiel mit den Wellen vorwärts und rückwärts sprang.
Die Bilder, die sich aufdrängten, wurden bald aufgegeben. Das war nicht Botticellis Venus, die Schaumgeborene; nicht Undine, die die Morgendämmerung willkommen hieß; es war etwas viel Einfacheres und unter den gegebenen Umständen Überraschenderes. Es war Ruth.
Sie stand still da und sah zu, wie er das Segel einholte und das Boot auf Sand laufen ließ. Erst als sie hinauswatete, um ihm beim Hinaufziehen des Boots zu helfen, sprach er.
«Ein unerwartetes Vergnügen», sagte er wie ein Idiot, doch Ruth sah die reine Erhabenheit dieser überwältigenden Welt einen Moment lang von dem vertrauten zerknitterten Lächeln bedroht. «Ich dachte, Sie kämen nicht mit.»
«Meine Mutter und Onkel Mishak haben mich praktisch gezwungen. Ach, aber stellen Sie sich vor, sie hätten es nicht getan! Denken Sie nur, dann hätte ich das alles hier nie erlebt.»
«Es gefällt Ihnen?» fragte Quin, der es für ratsam hielt, sich auf Banalitäten zu beschränken, da sie ihn so beunruhigend an den Traum aller heimkehrenden Seefahrer erinnert hatte: die Frau mit den langen Haaren, die am Gestade wartet.
Sie schüttelte voll staunender Verwunderung den Kopf. «Ich hätte nicht gedacht, daß es so etwas gibt. In der Musik kann man sich verlieren, aber letztendlich ist sie von Menschen gemacht. Das hier dagegen ... vielleicht kann man auch hier kleinliche Gedanken haben, aber ich kann es mir nicht vorstellen.»
Das Boot lag jetzt sicher auf dem Trockenen. Quin vertäute es an einem zackigen Felsbrocken, dann schlugen sie gemeinsam den Weg zum Bootshaus ein. Ruth, die zuvor in ihrer Verzückung nicht einen Blick landwärts geworfen hatte, blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und rief: «Oh, was ist denn das dort? Was ist das für ein Haus?»
«Was meinen Sie?» Quin verstand ihre Frage nicht gleich.
«Da oben. Auf dem Felsen. Das Haus.»
«Das? Wie, das wissen Sie nicht? Das ist Bowmont.»
Ruth hätte es im strömenden Regen sehen können, oder im Winter, wenn es so heftig stürmte, daß niemand Zeit hatte, aufwärts zu blicken. Sie hätte es, wie viele vor ihr, zu einer Zeit sehen können, da ein Schiffsunglück weinende Frauen an den Strand zog, oder an einem Tag, wenn es nur wie ein bedrohlicher dunkler Schatten hinter grauen Nebelschleiern stand. Aber sie sah es an einem lichten, klaren Morgen, und sie sah es praktisch vom Wasser aus, halb Wohnhaus, halb Festung. Der blasse Kalkstein seiner Mauern war wie in Gold getaucht, und am Fuß der Felsen, die es bewachten, spielte sanft der weiße Gischt. Möwen segelten über den Turm hinweg, und in den hohen Fenstern spiegelte sich das blendende Licht der Sonne.
«Sie haben gesagt, es sei ein kaltes Haus auf einem Kliff», sagte Ruth, als sie wieder sprechen konnte.
«Das ist es auch. Sie werden es sehen, wenn Sie am Sonntag zum Mittagessen kommen.»
Ruth schüttelte den Kopf. «Nein», entgegnete sie leise. «Ich komme am Sonntag nicht zum Mittagessen. Und auch an keinem .anderen Tag.»
Kenneth Easton hatte den Studenten schließlich erzählt, daß Verena nicht mit ihnen im Bootshaus wohnen würde.
«Sie wohnt oben in Bowmont», sagte er, als der Zug aus dem King's-Cross-Bahnhof hinausstampfte. «Die Somervilles haben sie eingeladen.» Als die anderen ihn verblüfft anstarrten, setzte er hinzu: «Es ist ganz natürlich – ihre Familie und die des Professors gehören derselben Welt an. Was anderes war doch gar nicht zu erwarten.»
«Finde ich schon», widersprach Sam energisch. «Es ist doch eigentlich überhaupt nicht Professor Somervilles Art, jemandem eine Extrawurst zu braten.»
«Lady Plackett ist auch eingeladen. Sie und die Tante vom Professor sind seit Ewigkeiten befreundet. Und an Verenas Geburtstag geben sie ein Fest. Das wollten sich die Somervilles einfach nicht nehmen lassen», berichtete Kenneth, getreulich Verenas Worte wiederholend.
Pilly und Janet fanden es nur angenehm, nicht mit Verena unter einem Dach schlafen zu müssen, Ruth jedoch hüllte sich in Schweigen und starrte ins flache, regenüberströmte Land hinaus. Ihre Geschichte mit Quin war vorbei – dennoch tat es ein bißchen weh, hören zu müssen, daß ihm Verena im Gegensatz zu dem, was er über sie gesagt hatte, doch am Herzen lag.
Sie hatte nicht lange gebraucht, um sich an die Kandare zu nehmen und sich vorzuhalten, wie wenig sie das anging, aber es war ihr ernst, als sie sagte, daß sie zum Mittagessen nicht kommen würde. Der Gedanke, Verena Plackett in einem Haus die Gastgeberin spielen zu sehen, das ihr Heim hätte sein können, wäre dies eine richtige Ehe gewesen, war einfach bitter. Auch die überwältigende Schönheit des Meeres konnte einen darüber nicht hinausheben.
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