Verena trat nicht auf das Hündchen, und sie schlug auch nicht platt hin. Das wäre jeder anderen so ergangen, nicht aber Verena. Immerhin stolperte sie arg, warf einen Arm nach vorn, taumelte – und fiel recht ungraziös auf die Knie.

Quin war selbstverständlich augenblicklich zur Stelle, um ihr aufzuhelfen und sie zu einem Sessel zu führen, wo sie das ihr geschehene Mißgeschick sogleich herunterspielte.

«Es ist nichts», beteuerte sie, wie tapfere englische Mädchen das in Schulbüchern seit Generationen tun, auch wenn der Schmerz des verstauchten Knöchels kaum auszuhalten ist.

Dem Hündchen gegenüber Nachsicht walten zu lassen war schwieriger, zumal sie sich bei dem Sturz das Innenfutter ihres Kleides zerrissen hatte, und Lady Plackett, die ihrer Tochter eiligst zu Hilfe kam, machte gar nicht erst den Versuch.

«Was ist denn das für eine mißratene Kreatur!» rief sie. «Gehört sie einem der Angestellten?»

Frances, die sich zu Tode schämte, erklärte, das Hündchen werde am folgenden Tag an den Zimmermann im Dorf abgegeben werden, und versuchte es einzufangen. Aber Quin erhaschte den kleinen Hund vor ihr, hielt ihn an den Hinterbeinen in die Höhe und musterte ihn mit der Aufmerksamkeit, die Zoologen im allgemeinen einer bisher unbeschriebenen Spezies zu zollen pflegen.

«Erstaunlich!» sagte er und sah seine Tante grinsend an. «Dieser Bart am Unterbauch ist bestimmt einmalig, nicht? Weiß Barker schon von seinem Glück?»

Frances, die seine Unbekümmertheit gar nicht erheiternd fand, antwortete, Barker sei mit den Reparaturen der Kirchenstühle im Verzug und würde schon wissen, was seine Pflicht sei. Dann trug sie den Hund hinaus.

Trotz dieses wenig verheißungsvollen Beginns nahm das Abendessen einen erfreulichen Verlauf, und Frances Somerville, die in der Stille ihres Schlafzimmers den Abend einer kritischen Betrachtung unterzog, hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Vielleicht hatte Verenas verunglückter Auftritt Quins ritterliche Instinkte geweckt, auf jeden Fall war er den ganzen Abend über aufmerksam und charmant, und Verena verhielt sich ganz so, wie es sich gehörte. Sie bewunderte die Porträts der Somervilles, behauptete sogar, der Basher habe einen ausgesprochenen Charakterkopf gehabt; sie konnte sich intelligent über die Landwirtschaft unterhalten, da ihr Onkel in Rutland nicht nur Schafe züchtete, sondern auch hochklassige Rinderherden besaß. Und als Frances auf bemüht scherzhafte Art erwähnte, daß Quin die Absicht habe, Bowmont dem National Trust zu vermachen, hatten die Damen Plackett genau mit der Ungläubigkeit und dem Entsetzen reagiert, die sie sich erhofft hatte.

«Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Professor!» hatte Lady Plackett gerufen. Und Verena hatte die recht unverblümte Bemerkung riskiert: «Seien Sie mir nicht böse, aber da käme ich mir vor, als beginge ich Verrat an meinen ungeborenen Kindern.»

Tatsächlich sprach Verena an diesem Abend all das aus, was Frances dachte. Verena hatte gesunde Ansichten zum Thema Flüchtlinge und hatte, als Quin aus dem Zimmer gegangen war, ihrer Befriedigung darüber Ausdruck gegeben, daß eine Österreicherin ihres Jahrgangs nicht an dieser Exkursion teilnehmen würde. Sie konnte eine Verbindung zwischen den Croft-Ellis' und den Somervilles herstellen, eine sehr entfernte zwar nur, die aber dennoch beruhigend war, und was sie über das Hündchen zu sagen wußte, entsprach genau dem, was Frances selbst gedacht hatte daß es in solchen Fällen wirklich barmherziger sei, die kleinen Dinger gleich nach der Geburt zu ertränken.

«Ein sehr angenehmes junges Mädchen», urteilte Frances, als Martha mit der allabendlichen heißen Schokolade in ihr Zimmer trat.

Ein mittelalterlicher Mönch mit dem Ziel, ein Leben in Armut und Askese zu führen, hätte sich in Frances Somervilles Schlafzimmer wie zu Hause gefühlt. Die Fenster waren geöffnet und ließen die feuchte Nachtluft herein, die Teppiche auf den nackten Dielenbrettern waren abgetreten, die Matratze in dem Himmelbett war schon voller Knubbel gewesen, als Frances nach Bowmont gekommen war, und war es immer noch.

Martha stimmte ihrer Herrin zu. «Ja, auf uns unten hat sie auch einen guten Eindruck gemacht», sagte sie und hielt es nicht für nötig hinzuzufügen, daß die Dienerschaft auch ein Kalb mit zwei Köpfen akzeptiert hätte, wenn dadurch gewährleistet gewesen wäre, daß Bowmont in Privatbesitz blieb und man seine Arbeit nicht verlor. «Soll ich Ihnen nicht eine Wärmflasche bringen?» meinte sie jetzt, da sie ihre Herrin trotz des gelungenen Abends müde und abgespannt aussehend fand und wußte, daß die Kälte für ihre Arthritis nicht gut war.

«Kommt nicht in Frage!» fuhr Frances sie an. «Am ersten Dezember kannst du mir eine bringen, aber keinen Tag früher – das weißt du doch!» Doch sie ließ es zu, daß Martha die silberne Haarbürste zur Hand nahm und ihr das spärliche graue Haar ausbürstete. «Es war wohl Elsie, die das Hündchen hinausgelassen hat?» bemerkte sie nach einer kleinen Pause.

Martha nickte. «Sie hat so ein weiches Herz, die Kleine. Comely will ja mit dem Tierchen nichts zu tun haben. Und Elsie hört es immer winseln.»

«Sieh zu, daß es gleich morgen früh zu Barker gebracht wird. Seinetwegen hätte es beinahe einen bösen Unfall gegeben.»

«Das wird bis übermorgen warten müssen. Morgen ist Barker in Amble, um Holz abzuholen, das er dort bestellt hat.»

Als Frances später, die eiskalten Füße hochgezogen, in ihrem Bett lag, dachte sie noch einmal darüber nach, wie gut der Abend doch verlaufen war. Sie wollte jedenfalls ins Dorf ziehen, wenn Quin heiraten sollte. Quin hatte zwar kein auffallendes Interesse an Verena gezeigt, aber das würde schon noch kommen.


Von den Hoffnungen seiner Tante nichts ahnend und am Schicksal Verena Placketts nicht im geringsten interessiert, stand Quin am Fenster seines Turmzimmers und sah zum Meer hinaus und zum Mond, der ständig hinter wirbelnden schwarzen Wolken verschwand. Es regnete immer noch, aber das Barometer stieg. Es war ein Risiko gewesen, so spät im Jahr mit den Studenten hier heraufzukommen, aber wenn es in Northumberland einen Altweibersommer gab, dann war er um so schöner. Der Herbst konnte hier von einer herzzerreißenden Schönheit sein.

Quin bewohnte das Zimmer ganz oben im Turm, seit der Großvater den Achtjährigen das erstemal dort hinaufgeführt hatte, ein verwirrtes, elternloses Kind, fremdländisch gekleidet, mit einer großen Brille auf der Nase, die zur Kräftigung seiner Augen nach einer Masernerkrankung beitragen sollte. Durch drei Stockwerke von seiner Erzieherin getrennt, für die Nacht unter das Fell eines Eisbären gebettet, den der Basher in Alaska geschossen hatte, war Quin Abend für Abend zitternd vor Angst zu Bett gegangen – und doch hätte er selbst damals sein Krähennest um nichts in der Welt eingetauscht.

Die Studenten mußten jetzt jeden Moment eintreffen; der Bus, der gemietet worden war, sie in Newcastle abzuholen, würde direkt den holprigen Weg zur Bucht hinunterschaukeln. Quin war etwas früher am Abend unten gewesen, um sich zu vergewissern, daß alles bereit war: daß der Ofen in dem kleinen Aufenthaltsraum brannte, die Bunsenbrenner an die Gasleitung angeschlossen, die Schlafräume über dem Labor gelüftet und die Decken frisch und sauber waren. Er fand alles in Ordnung, und dennoch war er innerlich rastlos, und beinahe ohne recht wahrzunehmen, was er tat, griff er zu der Gitarre in der Ecke des Zimmers und begann sie zu stimmen.

Quins Gitarrestudien waren nie sehr weit gediehen, und seine Freunde in Cambridge hatten immer wenig schmeichelhaft reagiert, wenn er gespielt hatte; entweder hatten sie sich die Ohren zugehalten, oder sie waren aus dem Zimmer geflohen. Obwohl er nur wenige Stücke spielen konnte, hatte er doch für jede Gefühlslage das Richtige parat: Tiptoe Through the Tulips war heiter; die Evening Elegy war, wie der Titel sagte, elegisch; und Mississippi Moan war – nun, eine Klage eben.

Gerade bei diesem letzten Stück hatte sich, wenn er es im College spielte, das Zimmer stets besonders schnell geleert, aber Quin liebte es nun einmal. Als jetzt die Töne des schwermütigen Lieds aus dem amerikanischen Süden durch den Raum klangen, wurde er sich bewußt, daß er das Stück nicht ganz zufällig gewählt hatte. Er fühlte sich tatsächlich innerlich unruhig – bedrückt – und einige Akkorde später wurde ihm auch klar, warum.

Es war nicht zu leugnen, daß er sich Felton gegenüber, der so sehr bemüht gewesen war, Ruth die Exkursion nach Bowmont zu ermöglichen, nicht anständig benommen hatte. Roger arbeitete unermüdlich für die Studenten und sprang jederzeit bereitwillig für ihn ein, ertrug geduldig die endlose Langeweile der Ausschußsitzungen. Wenn er nun sein Herz daran gehängt hatte, Ruth den Aufenthalt in Northumberland zu ermöglichen, so hätte er – Quin – ihm bei seinen Bemühungen helfen sollen. Es wäre ein leichtes gewesen, eine Möglichkeit zu finden, und die Mißbilligung der Placketts hatte ihn ja nie im geringsten gekümmert. Tatsache war, daß er sich äußerst selbstsüchtig verhalten hatte, weil er die Emotionalität dieses Mädchens scheute.

Nun, jetzt war daran nichts mehr zu ändern, und der Mississippi Moan hatte, wie so oft, die Atmosphäre gereinigt. Alles Bedauern hinter sich lassend, ging Quin zu seinem Schreibtisch und nahm sich Hackenstreichers letzten Brief an die Zeitschrift Nature vor. Zeit, diesem Idioten ein für allemal den Marsch zu blasen. Er zog die Schreibmaschine zu sich heran und spannte ein leeres Blatt ein.

«Sehr geehrte Herren», schrieb er, «im Zusammenhang mit Professor Hackenstreichers Beitrag (Nature vom 6. August 1938) darf vielleicht darauf hingewiesen werden, daß seine Untersuchung eines einzigen Schädelabgusses des Styracosaurus Coratopsius doch wohl kaum eine Ablehnung von Brooms Rekonstruktion der Evolution aus einem gemeinsamen Stamm rechtfertigt. Nicht nur war der Abguß unvollständig, auch seine Herkunft ist in Zweifel zu ziehen, da ...»