«Ich war nie auf dem Riesenrad im Prater. Ich bin nie auf der Donau Boot gefahren. Ich habe Franz Joseph nie aus der Hofburg kommen sehen, ich kann mich überhaupt nicht an Wien erinnern, weil ich nie in meinem Leben in Wien gewesen bin. Ich war nur in Prez und einmal in Berlin, das ist alles. Darum gehen Sie jetzt bitte. Ich bin nur eine arme alte Frau, und meine Schwiegertochter zwingt mich, in feuchter Luft zu schlafen, und es wäre bestimmt für alle am besten, wenn ich tot wäre.»
Dieser Gefühlsausbruch, der im ganzen Lokal zu hören war, stieß natürlich bei allen auf große Teilnahme. Während Ziller und Dr. Levy den erschütterten Hoyle beruhigten, tröstete Ruth die alte Dame – und Miss Maud und Miss Violet hatten unter diesen Umständen (und weil Mr. Hoyles Artikel, falls er veröffentlicht würde, sicher geschäftsfördernd wirkte) nichts dagegen, daß zwei Tische zusammengeschoben wurden.
Nun füllte sich Martin Hoyles Heft sehr rasch mit brauchbaren Geschichten und Anekdoten. Dr. Levy erzählte, wie er bei der Entfernung einer Fischgräte aus dem Hals des Erzherzogs Otto mitgewirkt hatte; Paul Ziller schilderte, wie ihn bei der Uraufführung von Schönbergs Verklärte Nacht eine Tomate ins Gesicht getroffen hatte, und von Hofmann gab die klassische Anekdote von Tosca zum besten, die nach ihrem Todessprung von der Burgmauer von einem zu stramm gespannten Trampolin wieder in die Höhe geschleudert wurde.
Doch am meisten interessierte Martin Hoyle die Kellnerin des Willow, die ihn ebenfalls an ihren Erinnerungen teilhaben ließ, denn ihm war plötzlich klargeworden, was seiner Story fehlte. Die Liebe fehlte ihr. Liebe und Jugend und ein zentrales Thema. Eine junge Frau, die auf den geliebten Mann wartete und für ihn arbeitete. Liebe, das war es doch, was die Leser wollten. Liebe im Tea-Room Willow ... Liebe in Wien und in Belsize Park. Wenn nur die junge Frau mit ihm sprechen würde, dann würde er seine Story verkaufen, dessen war er sicher.
Und Ruth sprach mit ihm; von Heini zu erzählen, war ihr Wonne und Vergnügen. Während sie zwischen den Tischen hin und her flitzte, erzählte sie ihm von Heinis triumphalen Erfolgen am Konservatorium, und wie er auf der Wiese oberhalb vom Grundlsee dazu inspiriert worden war, eine Alpenetüde zu schreiben. Er hörte von Heinis Leidenschaft für heiße Maroni, die man überall an den Straßenecken der Innenstadt bekam – und daß er im Alter von zwölf Jahren ein Mozart-Klavierkonzert gespielt hatte, für dessen Rondo im letzten Satz das Gezwitscher eines Stars als Vorlage gedient hatte, was Mr. Hoyle sehr erstaunte, da er Stare bisher nur als laute Beschmutzer von Bahnhofsdächern kannte.
«Er wird es sicher auch hier spielen», sagte Ruth. «Dann müssen Sie unbedingt kommen.»
Eine Stunde spáter klappte Hoyle sein Heft zu und verabschiedete sich, nicht ohne sich großzügig zu revanchieren, wie sich zeigte, als Ruth seinen Teller abräumte. Darunter lag säuberlich gefaltet eine knisternde Banknote, die sie selig in die Küche trug.
«Schaut her!» rief sie. «Schaut doch! Zehn Shilling! Ist das nicht fabelhaft?»
«Dann reicht es jetzt?» fragte Mrs. Burtt.
«Ja, jetzt reicht es.»
Das Klavier wurde gegen Mitte des Vormittags erwartet, doch Leonie war schon um sechs auf den Beinen, machte die Zimmer sauber, erneuerte die Pfropfen in den Mauselöchern, kehrte und wischte. Um sieben begann sie zu backen, aber da ging dann leider nicht mehr alles nach ihrem Plan.
Die Ankunft von Heinis Klavier war Leonie relativ gleichgültig, aber Ruth wollte ihre Freunde mit nach Hause bringen, um das Ereignis zu feiern, und das konnte einen nicht gleichgültig lassen. Verena Plackett, die in Ruths Berichten von ihrem Tageslauf kaum eine Rolle spielte, würde nicht mitkommen, dafür aber Priscilla Yarrowby, Sam Marsh, Janet und der Waliser, der das Klavier auf dem Heimweg vom Rugbytraining in einem obskuren Laden entdeckt hatte.
Wäre ihr Mann zu Hause gewesen, so wäre es Leonie schwergefallen, den jungen Leuten etwas Leckeres anzubieten, denn das Haushaltsgeld war denkbar knapp; während der Abwesenheit des Professors jedoch hatten sie höchst bescheiden von Kartoffeln und dem Apfelmus gelebt, das sie aus den Falläpfeln machte, die Mishak von seinen Streifzügen mitzubringen pflegte. Und so hatten sie gespart.
Mit dem Gesparten hatte Leonie nun zwei Kilo feines Mehl gekauft, frisch gemahlene Mandeln, Puderzucker, ungesalzene Butter und die feinsten Vanilleschoten, und um neun zog sie das erste Blech voll perfekt gebackener Vanillekipferl aus dem Rohr.
Das war der Moment, als ihre Planungen für diesen Morgen zunichte gemacht wurden. Sie hatte gewünscht, Mishak möge bleiben und Ruths Freunde kennenlernen – sie hatte Mishak immer gern da –, Hilda jedoch, hoffte sie, werde wie immer in das Britische Museum abdampfen und Fräulein Lutzenholler den Hügel hinaufmarschieren und Freuds Haus anstarren.
Sie hatte jedoch nicht mit der Macht der menschlichen Nase gerechnet, Emotionen und Erinnerungen wachzurufen. Hilda erschien zuerst. In ihrem Morgenrock kam sie schlaftrunken in die Küche getaumelt.
«Dann ist es also wirklich wahr!» rief sie. «Ich habe sie gerochen, .aber ich dachte, es sei ein Traum.» Und dann beschloß sie, da Samstag war, nicht ins Museum zu gehen, sondern zu Hause zu arbeiten.
Wenig später kam Fräulein Lutzenholler, nicht so finster wie sonst, sondern vielmehr ungläubig. «Ach so, ja, das Klavier», sagte sie und fügte die Worte hinzu, die Leonie gefürchtet hatte: «Da bleibe ich natürlich und helfe.»
Als später der Duft frisch gemahlenen Kaffees sich mit dem süßen, warmen Aroma der Kipferl vermischte, zeigte sich, daß an diesem Morgen nicht nur niemand freiwillig Nummer 27 verlassen, sondern viele andere dazukommen würden. Ziller war natürlich eingeladen worden, aber kurz nach ihm traf Mrs. Weiss in einem Taxi ein, und wenig später Mrs. Burtt, die ihren freien Tag hatte, und dann eine Dame aus dem Nachbarhaus, die irgend etwas Ekstatisches auf Polnisch murmelte.
So kam es, daß Ruth, als sie mit ihren Freunden eintraf, von heimatlichen Wohlgerüchen und aufgeregtem Stimmengewirr empfangen wurde. Einen Moment lang blieb sie von Erinnerungen überwältigt an der Tür stehen, dann rannte sie nach oben und fiel ihrer Mutter um den Hals.
«Ach, du hättest doch nicht backen sollen, aber es ist natürlich köstlich!» rief sie und rieb ihre Wange an der ihrer Mutter.
Jeder, den Ruth gern hatte, wäre von Leonie mit Herzlichkeit aufgenommen worden, aber in Pilly erkannte sie unter den teuren Kleidern sogleich eines jener armen Hascherin, deren sie sich in Wien stets angenommen hatte. Was Sam anging, so war der so überwältigt von diesem Zusammentreffen mit Paul Ziller, dessen Schallplatten er alle gesammelt hatte, daß er kaum einen Ton herausbringen konnte. Selbst ohne die Ankunft des Klaviers wäre es eine gelungene kleine Feier geworden.
Pünktlich um halb zwölf Uhr jedoch wurde das Instrument gebracht. «Immer schön vorsichtig», sagte der Möbelpacker, während er das Klavier die Rampe hinuntergleiten ließ, und «Langsam, langsam», sagten die Männer, während sie Seile und Gurte anlegten, um es in die oberste Etage hinaufzubefördern. «Immer ruhig Blut.»
Aber ruhig Blut zu behalten, war schwierig. Fräulein Lutzenholler war aus dem Wohnzimmer entwichen und gab den Möbelmännern gute Ratschläge; Hilda schwirrte aufgeregt um sie herum ... Doch endlich war es geschafft, und mit höflicher Verbeugung wurde Ruth der Schlüssel übergeben.
«Nein, sperr du es auf, Huw», sagte sie, und alle mußten anerkennen, wie richtig diese Geste war. Der schweigsame Waliser nämlich, der unermüdlich die Musikgeschäfte Londons durchgestöbert hatte, war schließlich in einer entlegenen Vorstadt in der Nähe des Rugbyfelds der Universität genau auf das Klavier gestoßen, das Heini haben wollte: ein Bösendorfer, eines der letzten, das aus den alten Werkstätten hervorgegangen war, berühmt für die Süße seines Klangs.
«Jetzt kann ich wirklich glauben, daß Heini kommt» sagte Ruth leise und ließ die Finger leicht über die Tasten gleiten.
«Komm, probier es doch aus», schlug Leonie vor, während sie den Möbelmännern, die geglaubt hatten, sie könnten jetzt gehen, Teller mit Kipferin anbot.
Obwohl sich einer der weltbesten Geiger im Zimmer befand, setzte sich Ruth ohne Verlegenheit an das Klavier und spielte einen Schubert-Walzer – und Ziller lächelte, denn diese leidenschaftliche Liebe zur Musik, die sie seit ihrer frühen Kindheit beseelte und die alle Begrenzungen reiner Technik überwand, rührte ihn immer wieder.
«Äh – Sir – könnten Sie nicht – ich meine, Sie würden uns wohl nicht etwas vorspielen?» fragte Sam nervös und aufgeregt.
«Aber natürlich.»
Ziller holte seine Geige und spielte ein Stück von Kreisler und eine Beethoven-Bagatelle – und danach alberten er und Ruth herum, karikierten die Gäste in dem ungarischen Restaurant, die sich bemühten, den Zigeunern, die an ihren Tisch kamen, ja kein Trinkgeld zu geben, und da hörte man unversehens ein ganz außergewöhnliches Geräusch, ein eingerostetes Keuchen, das vorher noch nie einer gehört hatte: Fräulein Lutzenhollers Lachen.
Und Pilly, die Arme, die immer ins Fettnäpfchen trat, verpatzte dann alles. «Ach, Mrs. Berger», rief sie impulsiv, «bitte, bitte überreden Sie doch Ruth, mit uns auf die Exkursion zu kommen. Wir möchten sie alle so gern dabeihaben.»
Leonie stellte ihre Kaffeetasse nieder. «Was ist das für eine Exkursion?»
Es war auf einmal mucksmäuschenstill, als Ruth der Freundin einen vorwurfsvollen Blick zuwarf und Pilly brennend rot wurde.
«Es ist ein praktisches Seminar in Northumberland, auf dem Landsitz von Professor Somerville», stammelte Pilly. «Wir fahren alle mit. In drei Tagen geht es los.»
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