«Und sie kommt nicht mit nach Bowmont, das steht fest», erklärte Verena, die vom Eingreifen ihrer Mutter in dieser Frage nichts wußte.

«Ach ja, Bowmont», meinte Lady Plackett nachdenklich. «Weißt du, Verena, irgendwie behagt es mir gar nicht, daß du in einem Schlafsaal mit jungen Mädchen übernachten sollst, die ... von Sitte und Anstand keine Ahnung zu haben scheinen.»

«Ja, ich muß zugeben, daß mir das auch zu schaffen macht», sagte Verena. «Aber man möchte natürlich demokratisch sein.»

«Das ist richtig», stimmte Lady Plackett zu. «Trotzdem ... alles hat seine Grenzen.» Sie hielt inne und legte ihrer Tochter beruhigend die Hand auf den Arm. «Weißt du, ich habe da eine Idee.»

Verena hob den Kopf. «Ich bin gespannt», erwiderte sie, «ob es die gleiche ist wie meine.»

16

«Schau ihn dir an», sagte Frances Somerville bitter und reichte ihrem Mädchen den Feldstecher. «Wie er sich schon die Hände reibt vor lauter Genugtuung.»

Martha nahm das Fernglas und richtete es auf den Herrn mittleren Alters mit der hohen Stirn des Intellektuellen, der auf dem felsigen Küstenweg dem Kap entgegenschritt.

«Er schreibt was in sein Buch», bemerkte sie, als sei das ein weiterer Beweis für Mr. Fergusons Verachtenswürdigkeit.

«Also, er braucht jedenfalls nicht zu erwarten, daß ich ihn zum Mittagessen einlade», sagte Frances. «Meinetwegen kann er im Black B1411 essen.»

Mr. Ferguson, auf Quins Ersuchen hin vom National Trust gesandt, um zu sehen, ob Bowmont den Trust interessieren konnte, war kurz nach dem Frühstück eingetroffen. Obwohl er ein Mann mit tadellosen Formen war, taktvoll und zurückhaltend, hatte Frances ihn behandelt, als sei er soeben aus einer stinkenden Kloake emporgekrochen.

«Vielleicht wird ja gar nichts draus», sagte Martha und reichte das Fernglas zurück. Nach vierzig Jahren in Frances Somervilles Diensten durfte sie es sich erlauben, wie eine Freundin zu sprechen. «Vielleicht gefällt's ihm hier überhaupt nicht.»

«Ha!» sagte Frances nur.

Ihre Skepsis war berechtigt. Obwohl Mr. Ferguson eine offizielle Meinung erst Quin in London mitteilen würde, hatte er bereits durchblicken lassen, daß drei Meilen herrlicher Küste, ganz zu schweigen von dem berühmten Garten, den Trust höchstwahrscheinlich sehr interessieren würden.

Nun ist es also soweit, dachte Frances unglücklich; nun kommen die Männer mit den Schirmmützen, die Toilettenhäuschen, die kreischenden Ausflügler. Quin hatte gesagt, wenn es zu Verhandlungen käme, werde er darauf bestehen, daß ihr ein lebenslanges Wohnrecht im Haus eingeräumt würde; aber wenn er glaubte, sie würde ins stille Kämmerlein eingesperrt mitansehen, wie dieses Haus und dieses Land, die sie zwanzig Jahre lang wie ihren Augapfel gehütet hatte, zerstört wurden, dann täuschte er sich. An dem Tag, an dem der Trust hier einzog, würde sie ausziehen.

Wäre Lady Placketts Brief nicht ausgerechnet gekommen, nachdem Mr. Ferguson sich gerade empfohlen hatte, dann hätte Frances Somerville vielleicht ganz anders darauf reagiert. So aber erreichte er sie in einem Moment, in dem sie sich so alt und verzagt fühlte wie nie zuvor in ihrem Leben und bereit war, nach jedem Strohhalm zu greifen.

Lady Plackett begann ihr Schreiben mit einem kurzen Rückblick auf ihre gemeinsame Zeit im Mädchenpensionat in Paris.

«Sie werden sich vielleicht nicht mehr an das schüchterne kleine Ding erinnern, das soviel jünger war als Sie», schrieb Lady Plakkett, die sich noch nie durch besonderes Taktgefühl ausgezeichnet hatte, «aber ich werde nie vergessen, wie lieb und freundlich Sie sich meiner in meiner Verwirrung und meinem Heimweh angenommen haben.»

Frances erinnerte sich weder des heimwehkranken kleinen Mädchens noch ihrer eigenen Güte, aber als Lady Plackett ihr offenbarte, daß sie eine geborene Croft-Ellis war und im selben Jahr wie Miss Somervilles Cousine, Lydia Barchester, bei Hof vorgestellt worden war, las sie mit jener Aufmerksamkeit weiter, die man den Briefen derer zollt, die sich in den eigenen Gesellschaftskreisen bewegen.


«Ich war überaus erfreut festzustellen, daß Ihr lieber Neffe unserem Lehrkörper angehört, und er hat Ihnen vielleicht erzählt, daß Verena, unsere einzige Tochter, bei ihm studiert. Sie ist begeistert von seinem Wissen und seiner Art, dieses Wissen zu vermitteln, und bei einem kleinen Abendessen neulich führten die beiden ein angesagtes Gespräch miteinander, das, wie ich leider gestehen muß, weit über meinen Bildungsgrad hinausging. Sie werden sich fragen, woher ich die Kühnheit nehme, Ihnen nach so vielen Jahren der Abwesenheit in Indien zu schreiben, und ich will ganz offen sein. Sie wissen ja, daß Quinton in Bowmont für unsere Studenten ein praktisches Übungsseminar eingerichtet hat, das er selbst leitet. Verena muß als eine seiner Studentinnen, die dem Hochbegabtenprogramm angehören, selbstverständlich an diesem Seminar teilnehmen, und sie freut sich schon sehr darauf. Ihre Position hier in Thameside ist jedoch äußerst heikel, wie Sie gewiß verstehen werden. Sie selbst besteht darauf, in allem, sei es Prüfungen oder sonst etwas, genauso behandelt zu werden wie alle anderen Studenten, und in dieser Hinsicht gibt es keinerlei Schwierigkeiten, denn sie ist ein intelligentes junges Mädchen.

Aber gesellschaftlich gesehen, führt sie natürlich ein ganz anderes Leben, und wir achten sehr darauf, bei ihren Kommilitonen gar nicht erst die Erwartung zu wecken, daß sie an Universitätsveranstaltungen teilnehmen wird. Wenn es nicht eine gewisse Trennung zwischen dem Vizekanzler und seiner Familie und dem Rest der Universitätsgemeinde gäbe, würden Autorität und Stabilität leiden. Das brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern. Sie werden verstehen, daß mich unter diesen Umständen bei der Vorstellung, daß Verena sich mit den anderen Studenten einen Schlafsaal teilen soll, eine gewisse Besorgnis ergreift. Es soll ja auf diesen Exkursionen recht <ungezwungen> zugehen, und auf Disziplin wird offenbar nicht viel Wert gelegt. Ich weiß natürlich, daß die Studenten das Salz der Erde sind, aber einige von ihnen kommen nun einmal aus Kreisen, in denen man den Umgang mit Angehörigen unserer Gesellschaftsschicht nicht gewöhnt ist, und ich fürchte, sie würden sich in einem so dichten Zusammenleben mit Verena unbehaglich fühlen. Wäre es angesichts dieser Tatsachen dreist von mir zu fragen, ob meine Tochter für die Dauer des Seminars bei Ihnen im Haus wohnen kann? Soviel ich weiß, hat Ihr Neffe seine eigenen Räume und überläßt die Führung des Hauses ganz Ihnen; er brauchte sich also um Verena nicht zu kümmern, es sei denn, er wünschte es. Ich werde selbst um diese Zeit nach Nordengland reisen, und da Verenas vierundzwanzigster Geburtstag auf den letzten Freitag des Seminars fällt, darf ich mich vielleicht für diesen Tag einladen, ehe ich weiterreise, um Lord Hartinton und die vielen anderen Freunde meiner Familie zu besuchen, die ich so lange nicht gesehen habe. Verzeihen Sie mir meine Unverblümtheit, aber Verenas Wohl ist mir, wie Sie sicher verstehen werden, sehr wichtig. Und was könnte es für mich Schöneres geben, als die Freundin und Beschützerin meiner Kindertage wiederzusehen?

Mit allen guten Wünschen,

Ihre Daphne Plackett.»


Frances las den Brief zweimal durch und blieb eine Weile nachdenklich in ihrem Sessel sitzen. Dann läutete sie Turton.

«Sagen Sie Harris, ich brauche den Wagen», befahl sie. «Ich fahre nach Rothley hinüber.»

Gerade wollte sie in den alten Buick einsteigen, den Quin auf ihr strenges Geheiß nicht durch ein neueres Modell ersetzen durfte, da veranlaßte schrilles Gekläff sie, sich umzudrehen, und im selben Moment sauste ein Hündchen, kaum größer als ihr Schuh, auf ihre Beine los, setzte zum Sprung auf das Trittbrett des Wagens an, verfehlte sein Ziel und fiel auf den Rücken – während die ganze Zeit sein dünnes Rattenschwänzchen wie wild kreiselte und seine ungleichen Augen vor Lebensfreude blitzten.

«Bringen Sie ihn weg!» befahl Frances grimmig. «Und sagen Sie denen, die ihn rausgelassen haben, daß ich, wenn sie in Zukunft nicht die Tür schließen, ihn ertränken lasse.»

Der Chauffeur unterdrückte ein Grinsen. Die leidenschaftliche Anhänglichkeit des kleinen Mischlings an die Herrin von Bowmont wurde von der ganzen Dienerschaft gutmütig belacht, doch Frances, die steif und aufrecht im Fond des Wagens saß, konnte nichts Erheiterndes an dem finden, was ihrer mit vielerlei Preisen ausgezeichneten Labrador-Hündin widerfahren war. Kaum waren alle Welpen aus Comelys letztem Wurf – lauter Hunde edelster Rasse – verkauft worden, da war die Hündin, früher als erwartet, erneut läufig geworden und für eine ganze Nacht verschwunden. Das Resultat dieses Ausflugs war ein Wurf, wie Frances Somerville ihn sich in ihren schlimmsten Träumen nicht vorgestellt hätte. Unter Zuhilfenahme verbaler Gewalt gegen diverse Gutsangestellte war es ihr gelungen, Abnehmer für die Welpen zu finden – aber um jemand dazu zu bringen, den Zwerg des Wurfs zu nehmen, hätte Frances die Dörfler schon aufs Rad spannen müssen. Irgendwie schien ihr dieses Desaster von einem Hund zu all den anderen Unbilden zu passen, die ihre geordnete Welt bedrohten: Stallburschen, die Opernarien sangen, und Fremde, die mit Notizbüchern in der Hand über das Land von Bowmont trampelten.

Die Straße nach Rothley führte an der Festung Bamburgh vorbei, einstmals Bowmonts Rivalin im Norden, und weiter am Deich entlang bis Holy Island, ehe sie landeinwärts schwenkte, nach Rothley Hall – einem langen roten Sandsteinbau, der nur vom buschigen Gestrüpp immergrünen Efeus zusammengehalten schien. Das Gebell eines halben Dutzends Jack-Russell-Terrier empfing sie, und wenig später saß sie in Lady Rothleys kleinem Salon, während die Freundin den Brief durchlas.