Die Kellnerin brachte das Gebäck, das er für Ruth bestellt hatte, und sie nahm es begeistert in Empfang.

«Englische Patisserie ist so – so bunt, nicht wahr?» meinte sie, während sie die gelben Ränder der Törtchen, das leuchtende Rot und Grün ihrer Füllung betrachtete. Sie bot Quin den Teller an, der sagte, er nehme Natriumbikarbonat nur zu sich, wenn es ihm der Arzt verordnet habe, und reichte ihr den Teller zurück. «Eigentlich wollte ich Sie treffen», sagte sie, «weil ich Ihnen etwas Wichtiges wegen der Eheauflösung sagen muß. Ich meine, für den Fall, daß etwas schiefgeht. Das passiert bestimmt nicht, aber nur für den Fall. Wissen Sie, ich habe mich nämlich mit Mrs. Burtt unterhalten. Sie ist eine gescheite Frau, und sie hat für viele Leute gearbeitet, die sich scheiden ließen. Da ging es nicht um Nichtigkeitserklärung, sondern um Scheidung. Ich wußte gar nicht, daß da so ein großer Unterschied ist.»

«Wer ist Mrs. Burtt?»

«Sie ist die Küchenhilfe im Willow, wo ich ...» Sie brach ab, da sie fürchtete, Quin könnte, wie ihr Vater, ein Theater machen, wenn er hörte, daß sie immer noch abends arbeitete. «Das ist ein Café, wo wir uns immer alle treffen. Na ja, und sie hat mir genau erklärt, was man tun muß, wenn man sich scheiden lassen möchte.»

«Ach, ja?»

«Ja.» Ruth biß in ihr Törtchen. «Man mietet sich in einem Hotel an der Südküste ein. Am besten in Brighton, weil es da einen Pier gibt und Spielautomaten. Da mietet man sich, wie gesagt, in ein Hotel ein, aber mit einer Dame, die man vorher engagiert hat. Und dann bleibt man die ganze Nacht mit der Dame auf und spielt Karten.» Sie sah ihn etwas ratlos an. «Mrs. Burtt hat mir nicht gesagt, was für Kartenspiele – Rommé, nehme ich an, oder vielleicht Siebzehn-und-Vier? Denn für Bridge braucht man ja mehr Leute, nicht wahr, und Poker wäre wohl ein bißchen unpassend.

Jedenfalls – wenn es dann Morgen wird, legt man sich mit der Dame ins Bett und läutet dem Zimmermädchen, um das Frühstück zu bestellen. Sie kommt, und dann erinnerte sie sich an einen, und der Detektiv, der einen beschattet hat, ruft sie dann beim Scheidungsprozeß als Zeugin auf.»

Höchst zufrieden mit sich, lehnte sie sich zurück.

«Mrs. Burtt scheint ja gut informiert zu sein. Und wenn nötig, werde ich selbstverständlich ...»

«Nein, nein, eben nicht. Das wollte ich Ihnen ja sagen. Sie haben schon so viel für mich getan, daß ich Sie das nicht auch noch tun lassen könnte, vor allen Dingen weil ich glaube, daß es Ihnen gar keinen Spaß machen würde. Darum werde ich es tun. Nur engagiere ich natürlich keine Dame, sondern einen jungen Gentleman. Das kann ich mir dann auch leisten, denn bis dahin habe ich Heinis Klavier bezahlt und habe eine Arbeit. Nur Kartenspiele kann ich keine, aber die kann ich ja lernen und ...»

«Ruth, würden Sie jetzt bitte aufhören, solchen Blödsinn zu reden! Als würde es mir im Traum einfallen, Sie in solche Hintertreppengeschichten hineinzuziehen. Das ist doch Unsinn, und ...»

«Ist es nicht! Für Sie ist es doch auch wichtig, frei zu sein, damit Sie Verena Plackett heiraten können.»

«Ich würde Verena Plackett nicht heiraten, wenn sie die letzte ...», begann Quin unvorsichtig und brach ab.

«Ja, weil Sie finden, daß sie zu groß ist – aber selbst wenn Sie Verena nicht heiraten wollen, wartet bestimmt eine andere Frau auf Sie – und ich möchte Ihnen doch helfen.»

«Damit, daß Sie sich solche dummen Geschichten ausdenken, helfen Sie mir gewiß nicht», erklärte Quin ziemlich grob. «Sagen Sie mir lieber – wie geht es Ihren Eltern? Wie kommen sie mit ihrem neuen Leben in Belsize Park zurecht?»

Obwohl Ruth unverkennbar gekränkt war, daß Quin ihren schönen Plan so schnöde abgelehnt hatte, ging sie bereitwillig auf den Themawechsel ein, und ihre verletzten Gefühle hinderten sie auch nicht daran, ein zweites Törtchen und danach noch ein Schokoladeneclair zu vertilgen. Als sie später das Lokal verließen, machte sie ihm mit gewohnter Hochherzigkeit ein Versprechen.

«Ich weiß, Sie mögen es nicht, wenn man Ihnen dankt, aber für eine Einladung zum Tee bedankt man sich nun mal. Sie können sich also darauf verlassen, daß ich nie wieder versuchen werde, Sie allein zu sprechen. Ich werde nur noch ein anonymes Gesicht in der Menge sein», beteuerte Ruth etwas theatralisch. «Ich werde nicht existent sein.»

Quin sah sie nur schweigend an. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Ruths Augen glühten mit dem Feuer jener, die heilige Eide schwören, und ihr ungebärdiges Haar leuchtete im Licht der Lüster. Ein junger Mann, der mit einem Freund vorüberkam, blickte zurück, um sie anzustarren, und stieß mit dem Portier zusammen.

«Da bin ich aber gespannt», sagte Quin gedankenvoll. «Ja, auf Ihre Nichtexistenz bin ich wirklich gespannt.»

Ruth hielt Wort. Bei den Vorlesungen saß sie stets ganz hinten (wenn auch nicht mehr in Hildas Regenmantel); sie wich an die Wand zurück, wenn der Professor an ihr vorüberging; niemals wurde in seinen Seminaren ihre Stimme vernommen.

Das hieß aber nicht, daß sie keine Fragen stellte. Während Quin mit seinen Vorlesungen und Seminaren immer neue Türen in ihrem Geist öffnete, drillte sie ihre Freunde, für sie zu fragen, und es bereitete Quin ein köstliches Vergnügen zu hören, wie Pilly durch Formulierungen stolperte, die unverkennbar Ruths Stempel trugen.

Dennoch, Mutter Natur hatte Ruth nicht zur Nichtexistenz geschaffen, darauf wiesen besonders Sam und Janet hin, die Ruth offen sagten, sie fänden, sie übertreibe. «Nur weil du ihn in Wien mal gekannt hast, brauchst du doch nicht solche Verrenkungen zu machen, um ihm ja nicht unter die Augen zu kommen», meinte Sam. «Außerdem ist es sowieso die totale Zeitverschwendung – mit deinem Haar kann man dich über den ganzen Hof sehen. Ich wette, der weiß ganz genau, wo du bist.»

Damit hatte Sam leider nur allzu recht. Wenn Ruth sich über die Terrassenbrüstung beugte, um die Enten zu füttern, wenn sie in der Bibliothek hinter einem Stapel Bücher saß und auf einem Grashalm kaute, wenn sie unter dem Walnußbaum saß und Pilly abhörte oder trunken von Musik aus der Chorprobe kam, dann existierte sie auf unübersehbare Weise. Quin hätte von sich ohne jede Überheblichkeit gesagt, daß er im allgemeinen ein Mann mit ausgezeichneten Nerven sei, aber eine Woche demonstrativer Anonymität von seiten Ruths hatte ihren Tribut gefordert.

Während Ruth sich bemühte, Quin Somerville aus dem Weg zu gehen, tat Verena Plackett nichts dergleichen. Pünktlich wie die wandelnde Uhr trat sie jeden Morgen aus dem Haus, unter dem einen Arm ihre Krokodilledertasche, über dem anderen einen blütenweißen Laborkittel, einen von dreien, die sie täglich wechselte. Sie blieb bei ihrer Gewohnheit, jedem Dozenten nach seiner Vorlesung auch im Namen ihrer Eltern zu danken, und bei praktischen Übungen akzeptierte sie einzig den kriecherischen Kenneth Easton als Partner. In Quin Somervilles Seminaren brillierte Verena. Die Beine adrett an den Knöcheln gekreuzt, saß sie auf dem Stuhl gleich neben dem Professor und stellte intelligente Fragen, sprach niemals in abgerissenen Sätzen und ließ deutlich durchblikken, daß sie nicht nur die von ihm empfohlenen Texte gelesen hatte, sondern noch viele andere mehr.

Daß Ruth eine ernstzunehmende Konkurrentin um akademische Ehren sein könnte, war Verena zunächst gar nicht in den Sinn gekommen. So ein schüchternes Ding, das mit Schafen schwatzte, verdiente keine Beachtung. Um so schockierender fand sie es, als sie bei der Rückgabe der ersten Aufsätze feststellen mußte, daß Ruths Noten den ihren in nichts nachstanden und daß man dieses unscheinbare kleine Ding allgemein für fähig hielt, ein erstklassiges Examen zu machen. Verena warf den Kopf in den Nacken und beschloß, noch mehr zu arbeiten. Und Ruth faßte den gleichen Entschluß. Nur machte Ruth sich Vorwürfe, fühlte sich beschmutzt, und in der Nacht, wenn Hilda schlief, setzte sie sich in ihrem Bett auf und sprach sehr ernst mit Gott.

«Bitte, Gott», betete sie, «laß mich nicht konkurrieren. Laß mich immer daran denken, daß es ein Privileg ist, studieren zu dürfen, und laß mich nie vergessen, daß Wissen um seiner selbst willen erworben werden will. Und bitte, bitte gib, daß es mir gleich ist, ob ich in den Prüfungen besser bin als Verena oder nicht.»

Sie betete mit Inbrunst, und es war ihr ernst mit dem, was sie sagte. Aber Gott hatte anderes zu tun in jenem Herbst, als die Internationalen Brigaden geschlagen aus Spanien zurückkehrten und die von Hitler verübten Grausamkeiten weiter zunahmen. Außerdem verpatzte Ruth alles, indem sie nach ihren Gebeten aufzustehen pflegte, um mit ihren Büchern und Heften ins Bad zu gehen, den einzigen Ort in Nummer 27, an dem man, wenigstens in der Nacht, ungestört lernen konnte.


Mit dem Voranschreiten des Semesters kam die Rede immer häufiger auf die Exkursion, die am Ende des Monats unternommen werden sollte. Jene Studenten, die bereits in Bowmont gewesen waren, erzählten stets mit großer Begeisterung von dieser Unterbrechung in der Routine täglicher Seminare und Vorlesungen.

«Man fährt mit Booten raus, abends sitzt man am Lagerfeuer, und am Sonntag gibt's oben im Haus ein Riesenmittagessen.»

Ruth war durchaus bereit, sich das alles staunend anzuhören, aber für sie stand fest, daß sie nicht mitfahren würde.

«Ich kann mir schon das Fahrgeld nicht leisten, geschweige denn die Ausrüstung mit Gummistiefeln und Ölzeug und so», erklärte sie. «Außerdem muß ich hier alles bereit haben, wenn Heini kommt. Es macht mir nichts aus, ehrlich.»

Aber Pilly machte es etwas aus, und sie hielt damit, genau wie Ruths andere Freunde, nicht hinter dem Berg. Auch Roger Felton machte es etwas aus. Mehr noch, er war fest entschlossen, Ruth diese Exkursion zu ermöglichen.