«Nun, hier an der Universität ist es ein offenes Geheimnis.»

«Darf ich fragen, warum sie hier nicht bleiben kann?»

Bergers Ton war trocken und distanziert, aber die tiefe Bekümmerung hinter seinen Worten war deutlich zu hören, und Quin, der sich stets als Schüler Bergers gesehen hatte, wurde immer unbehaglicher zumute.

«Ich hielt es für unangebracht, eine junge Dame zu unterrichten, mit deren Familie ich so gut bekannt bin. Das würde Ihre Tochter möglicherweise der Beschuldigung der Begünstigung aussetzen.»

Kurt Berger strich über seinen schwarzen Hut. «Wirklich? Ich muß sagen, wenn ich es abgelehnt hätte, die Kinder der Leute zu unterrichten, die mir in Wien gut bekannt waren, so hätte es bei meinen Vorlesungen viele leere Plätze gegeben.»

«Möglich. Aber an britischen Universitäten geht es anders zu. Da gibt es mehr Klatsch. Sie sind kleiner.»

«Professor Somerville, bitte sagen Sie mir die Wahrheit», bat Kurt Berger, und erst als Quin hörte, wie dieser Mann, der fast dreißig Jahre älter war als er, ihn mit seinem Titel ansprach, erkannte er, wie tief verletzt der Mann war. «Hat Ruth sich etwas zuschulden kommen lassen? Ist sie den Anforderungen hier nicht gewachsen? Wir haben uns bemüht, ihr eine gute Bildung mitzugeben, aber ...»

«Nein, aber nein! Ruth ist eine hervorragende Studentin.»

«Was ist es dann? Ihr Verhalten? Finden Sie sie vielleicht zu direkt? Zu keck? Sie ist das Universitätsmilieu gewohnt, da mag es scheinen, daß es ihr an Respekt fehlt.»

«Keineswegs. Sie hat sich hier bereits viele Freunde geschaffen, sowohl unter den Studenten als auch unter den Dozenten.»

«Dann – ist es möglich – hat es vielleicht einen Skandal gegeben? Sie ist ein hübsches Ding, ich weiß, aber ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, daß sie ...»

Quin beugte sich über seinen Schreibtisch, um mit dem gehörigen Nachdruck zu sprechen. «Bitte glauben Sie mir, Sir. wenn ich Ihnen versichere, daß ich sie einzig deswegen an eine andere Universität schicke, weil ich glaube, daß die Verbindung zu Ihrer Familie, meine Schuld Ihnen gegenüber ...»

«Schuld? Was für eine Schuld?» unterbrach Kurt Berger scharf.

«Das Symposion in Wien, Ihre Gastfreundschaft, der Ehrendoktor.»

«Ach ja, der Ehrendoktor. Wir hörten von Kollegen, daß Sie an der Zeremonie teilgenommen haben, aber zum Bankett nicht erschienen sind.»

«Das ist richtig. Als ich hörte, daß Sie nicht da waren ...», begann Quin und brach ab. «Ich hätte Ihnen danken sollen, daß Sie mich vorgeschlagen haben, aber ich bin direkt nach Bowmont hinaufgereist.»

Danach trat eine kleine Pause ein. Dann sagte Kurt Berger nachdenklich: «Meine Frau ist überzeugt, daß Sie es waren, der Ruth in Wien geholfen hat.»

Quin schwieg einen ganz kleinen Moment zu lange. «So? Wie kommt sie denn darauf?»

«Eine gute Frage», meinte Kurt Berger mit einer Spur Bitterkeit. «Normale Denkvorgänge sind Leonie völlig fremd. Soweit ich ihren Worten entnehmen konnte, glaubt sie es, weil Sie damals in den Grundlsee gesprungen sind, um die Monographie ihrer Schwägerin über die Mi-Mi zu retten. Und weil Sie auf dem Universitätsball zweimal mit ihrer Patentochter Franzi getanzt haben. Franzi hatte eine sehr schlimme Akne, und sie schielte auf einem Auge. Nur weil Sie sie zum Tanz aufgefordert haben und so nett zu ihr waren, war sie endlich damit einverstanden, sich am Auge operieren zu lassen. Die Akne verging von selbst, und heute ist sie verheiratet und hat zwei schrecklich schlecht erzogene Kinder. Zum Glück hat sie sich in New York niedergelassen.»

«Ich kann Ihnen leider nicht recht folgen», sagte Quin entschuldigend.

«Es gab noch andere Gründe, mit denen ich Sie jetzt nicht langweilen will. Anscheinend warfen Sie Ihren Hut über einen Steinpilz, auf den Onkel Mishak es abgesehen hatte, und verhinderten damit, daß Frau Pollack ihn ihm wegschnappte. Wir haben die Pilze rund ums Haus immer als unser Eigentum betrachtet, und ...» Er schüttelte den Kopf.»Ach, wie fern das alles zu sein scheint. Aber wie dem auch sei, die Argumente meiner Frau laufen darauf hinaus, daß Menschen sich treu bleiben. Mit anderen Worten, wenn Sie damals hilfsbereit waren, dann müssen Sie es auch heute noch sein. Wenn Sie mich an der Universität nicht angetroffen hätten, dann hätten Sie versucht, mich aufzusuchen, und hätten Ruth vorgefunden. Das glaubt meine Frau – ich nicht. Und Sie brauchen mir auch nichts zu sagen, was Sie gern für sich behalten möchten. Aber wenn Leonies Vermutung richtig ist, dann ist es möglich, daß Ihnen die Vorstellung, Ruth hierzuhaben, Unbehagen verursacht. Dann könnte es sein, daß Sie fürchten, sie könnte sich allzusehr an Sie anschließen.»

«Nein, das fürchte ich wahrhaftig nicht.»

«Aber es wäre nur natürlich. Sie ist sehr warmherzig, und sie hat damals, nach dem Sommer, den Sie bei uns verbrachten, ständig von Ihnen gesprochen. Ganz zu schweigen von dem blauen Kaninchen.» Als Quin verständnislos die Stirn runzelte, erklärte er: «Das Stofftier, das Sie ihr an der Schießbude im Prater geschossen haben. Sie hat es jeden Abend mit ins Bett genommen, und als es sein Ohr verlor, mußten wir Dr. Levy zur Behandlung rufen.»

«Das hatte ich ganz vergessen.»

«Sie waren jung. Sie hatten das Leben noch vor sich; wie Sie es auch heute noch vor sich haben. Möge Gott verhüten, daß Sie jemals so an der Vergangenheit hängen müssen, wie wir das heute tun. Aber was ich sagen wollte, war, daß Sie in dieser Hinsicht keine Befürchtungen zu hegen brauchen – wie groß Ruths Zu neigung zu Ihnen auch ist, wie sehr sie auch zu Ihnen als ihrem Retter aufsehen mag, ihre ganze Hingabe gilt ihrem Vetter, Heini Radek. Alles, was sie tut, tut sie letztlich für ihn. Sie sehen also, Sie hätten nichts zu befürchten. Sie wird Radek heiraten und ihm die Noten umblättern und die Kamelien für das Knopfloch seines Fracks auswählen. So war es, seit er das erstemal nach Wien kam.»

«Spielt es denn dann eine so große Rolle, wo sie studiert? Oder ob sie überhaupt studiert?»

«Vielleicht messe ich dem Wissen und der Bildung zuviel Bedeutung bei. Vielleicht bin ich auch einer jener Väter, die meinen, für ihre Tochter sei keiner gut genug. Heini ist ein begabter Junge, aber mir wäre es lieber gewesen, sie hätte eine Wahl gehabt.» Er wechselte abrupt das Thema. «Eines steht fest, nach Tonbridge wird Ruth nicht gehen. Sie war den ganzen Morgen auf dem Arbeitsamt, und jetzt sitzt sie zu Hause und schreibt Bewerbungen und versucht, nicht zu weinen.»

«Ich bin sicher, sie wird zur Einsicht kommen.»

«Gestatten Sie mir zu sagen, daß ich meine Tochter kenne», versetzte Berger mit Würde. Er griff zu seinem Spazierstock. «Tja, Sie müssen tun, was Sie für richtig halten. Mir wäre es auch nicht recht gewesen, wenn mir jemand hätte sagen wollen, wie ich meine Abteilung führen soll. Ich reise für einige Wochen nach Manchester und hatte gehofft ...»

«Ach ja!» Quin ging froh und flink auf den Themawechsel ein. «Das Institut wird Ihnen gefallen. Feldberg ist ein großartiger Mensch – aber lassen Sie sich von dem knausrigen Buchhalter ja nicht um ihr rechtmäßiges Honorar bringen. Es gibt extra einen gutausgestatteten Fonds für Klassifizierungsarbeit.»

«Ach, ich kann mich gar nicht erinnern, meinen Ruf an das Institut erwähnt zu haben», sagte Kurt Berger mit strenger Miene. «Und auch nicht, daß man mich gebeten hat, die Howard-Kollektion zu ordnen.»

So seinem Ausweichmanöver von hinten durch die Brust geschossen, schob Quin verlegen einige Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. «So etwas spricht sich herum», murmelte er.

«Sie haben also diese Sache mit Manchester arrangiert? Sie haben Feldberg den Vorschlag gemacht, sich mit mir in Verbindung zu setzen? Das hätte ich mir eigentlich denken können.»

«Ja, um Himmels willen, Sie haben aber auch seit Ihrer Ankunft hier nichts getan, um sich selbst zu helfen. Da sitzt ein Mann von Ihrem Format Tag für Tag mit einem Landstreicher zusammen in der öffentlichen Bibliothek! Warum haben Sie nicht mit den Leuten Kontakt aufgenommen, denen Sie irgendwann einmal geholfen haben? Ich brauchte nur Ihren Namen zu erwähnen – Feldberg wußte nicht einmal, daß Sie in England sind.»

Berger setzte seinen Hut auf und erhob sich. Als er wieder sprach, lächelte er. «Es ist schon merkwürdig – da habe ich jahrelang studiert und Wissen angehäuft, während meine Frau nicht einmal ihre Prüfung in der Blumensteckkunst bestanden hat, weil sie immer viel zu viele Blumen in die Vase tat, und doch hatte sie recht. Die Menschen bleiben sich treu.»

Erst an der Tür drehte er sich noch einmal um. Seine Stimme war jetzt wieder ernst, sein Gesicht wirkte erschöpft. «Lassen Sie das Kind dableiben, Quin», sagte er, den Namen gebrauchend, den er vor so vielen Jahren gebraucht hatte. «Es ist ja nicht einmal ein Jahr, und wer weiß, was für ein Schicksal uns erwartet.» Sehr leise fügte er hinzu: «Sie wird Ihnen keine Umstände machen.»

Aber letztendlich waren es nicht die Bitte ihres Vaters und nicht die Intervention ihrer Kommilitonen, die Ruth die Begnadigung brachten. Und auch nicht Lady Placketts offensichtliche Genugtuung über den beabsichtigten Ausschluß dieses Mädchens, das nicht in den allgemeinen Rahmen paßte. Es war ein Plakat an dem Zeitungskiosk, an dem Quin auf der Heimfahrt vorbeikam. HITLER IN DER TSCHECHOSLOWAKEI lautete die Schlagzeile.

Quin kaufte die Zeitung. Die Bilder zeigten einen grinsenden, mit Blumenkränzen geschmückten Führer, flatternde Hakenkreuzfahnen an allen Häusern, genau wie im Frühjahr in Wien. Österreich im März, die Tschechoslowakei im Oktober ... Konnte irgend jemand noch ernstlich glauben, daß es da ein Ende haben würde?

Die durchschnittliche Lebensspanne eines Infanterieoffiziers hatte im Jahr 1918 sechs Wochen betragen. In der Marine hatte der Soldat auf eine nur unwesentlich längere Lebensdauer hoffen können. Wenn es Krieg geben sollte – und er schien unvermeidlich zu sein –, würde es dann noch eine Menschenseele kümmern, wer mit wem wie lange verheiratet war?