Verena runzelte die Stirn. Sie sah Probleme voraus. Aber da der Professor Anstalten machte, sich seiner Nachbarin zur Linken zuzuwenden, der unerwartet hübschen Mrs. LeClerque, Ehefrau des Berkeley-Biographen, stimmte sie eilig eine Lobeshymne über die Vorlesung dieses Morgens an.

«Ihre Analyse der Fehlinterpretationen Dr. Hackenstreichers fand ich faszinierend. Es scheint tatsächlich keinen Zweifel zu geben, daß der Mann sich von A bis Z etwas vorgemacht hat.»

«Freut mich, daß Sie es so sehen», sagte Quin, während ein verfroren aussehendes Mädchen ihm Salzkartoffeln reichte. «Miss Berger fand meine Auffassung nicht zwingend.»

«Ach. Aber sie verläßt uns ja, nicht wahr?»

«Ja.»

«Meine Mutter war froh, das zu hören», sagte Verena mit einem Blick zu Lady Plackett, die sich mit einem unerwarteten, in letzter Minute eingetroffenen Gast unterhielt, einem Musikologen, der eben aus New York zurückgekehrt war und dessen Zusage auf die Einladung in der Post verloren gegangen war. «Ich glaube, sie ist der Meinung, daß es einfach zu viele sind.»

«Zu viele?» Quin zog eine Augenbraue hoch.

«Ach, Sie wissen schon – Ausländer – Flüchtlinge. Sie findet, die Studienplätze sollten unseren eigenen Staatsbürgern vorbehalten bleiben.»

Lady Plackett, die den Erfolg ihrer Tochter bei Professor Somerville mit Genugtuung beobachtet hatte, mißachtete jetzt das Protokoll, um über den Tisch hinweg zu sprechen.

«Nun, natürlich wagt keiner, etwas zu sagen», bemerkte sie, «aber man kann sich des Gefühls nicht erwehren, daß sie hier allmählich das Regiment übernehmen. Natürlich kann man auch nicht rückhaltlos billigen, was Hitler da macht.»

«Nein», antwortete Quin. «Es gehörte schon einiges dazu, das zu billigen.»

«Aber sie ist in jedem Fall ein ziemlich merkwürdiges Mädchen», warf Verena ein. «Ich meine, sie führt Gespräche mit einem Schaf. Das hat doch etwas Schrulliges, ganz Unwissenschaftliches.»

«Jesus hat auch mit ihnen gesprochen», bemerkte der Philologe aus dem Britischen Museum, ein alter Mann mit weißem Bart, der unerwartet energisch sprach.

«Hm, ja, das ist wohl richtig», gestand Verena ihm zu. «Aber sie trägt ihm auf Deutsch Gedichte vor.»

«Was für Gedichte?» fragte der Berkeley-Biograph.

«Goethe», antwortete Quin kurz. Die Schafsaga begann ihm auf die Nerven zu fallen. «Wanderers Nachtlied.»

Der Philologe war angetan. «Eine ausgezeichnete Wahl. Auch wenn man vielleicht einen der pastoralen Lyriker des achtzehnten Jahrhunderts erwartet hätte. Zum Beispiel Matthias Claudius.»

Darauf folgte eine erstaunlich lebhafte Diskussion über die Frage, welche Art von Lyrik in deutscher Sprache Haus- und Hoftieren wohl am ehesten entsprechen würde, und obwohl dies genau die Art gelehrten Geplänkels war, das Lady Plackett nur zu gern förderte, hörte sie mit tief gerunzelter Stirn zu.

«War Goethe nicht der Mann, der sich dauernd in irgendeine Charlotte verliebt hat?» fragte die reizend dumme Ehefrau des Biographen.

Quin wandte sich ihr mit Erleichterung zu. «Richtig. Er hat das alles in einem Roman mit dem Titel Die Leiden des jungen Werthers verarbeitet, in dem der Held so unsterblich in eine Charlotte verliebt ist, daß er sich am Ende das Leben nimmt. Thackeray hat ein Gedicht darüber geschrieben.»

«War es gut?»

«Sehr gut», antwortete Quin. «Es fängt so an:


<Werther faßt' ne Lieb' zu Charlotte

Die ging über alle Worte hinaus:

Er sah die Schöne das erstemal

beim Brotestreichen in ihrem Haus.>


Und am Schluß trägt man ihn <als Leiche hinaus>.»

Verena, die diesen Abstieg ins Frivole mit unmutig gekrauster Stirn verfolgte, machte einen letzten Versuch, das Gespräch wieder auf ein Thema zu bringen, das ihr am Herzen lag.

«Wann wird denn Miss Berger nun eigentlich gehen?» fragte sie. «Das ist noch nicht entschieden.»

Worauf er sich wieder Mrs. LeClerque zuwandte, die ihm nun von einer Freundin erzählte, die sich nicht weniger als dreimal mit Männern namens Henry verlobt hatte, deren jeder sich leider als zum Ehemann ungeeignet entpuppte. Verena beschloß resigniert, sich ihrem anderen Nachbarn zu widmen.

«Ach, sagen Sie, haben Sie vor, Ihre Forschungsarbeit über die Knochenfische hier in England weiterzuverfolgen?» fragte sie.

Doch für dieses eine Mal hatte ihre Mutter sie im Stich gelassen. Die unerwartete Ankunft des Musikologen hatte eine Änderung der Sitzordnung erforderlich gemacht. Verständnislos und einigermaßen verblüfft starrte der Ikonenexperte sie an.


Quin hatte die Gewohnheit, in einem großen Crossley Tourenwagen mit Messinglampen und einer dröhnenden Hupe nach Thameside zu fahren. Am Tag nach dem Abendessen bei den Placketts empfing ihn, als er den Wagen unter dem Torbogen parkte, nicht wie gewohnt ein ganzer Haufen junger Leute, die ihm guten Morgen wünschten, sondern ein Fähnlein von zwei durchgefroren aussehenden Aufrechten mit einem Transparent, auf dem die Worte standen: RUTH BERGERS AUSSCHLUSS IST UNGERECHT!

Sobald er in seinem Zimmer war, griff er zum Telefon. «Verbinden Sie mich mit O'Malley in Tonbridge, bitte, Hazel.»

«In Ordnung, Professor. Sir Lawrence Dempster hat übrigens eben angerufen. Er bittet Sie, sobald wie möglich zurückzurufen.»

«Gut. Erledigen wir das zuerst.»

Als Quin das Gespräch mit dem Direktor der Geophysikalischen Gesellschaft beendet hatte, war es zu spät, O'Malley noch anzurufen, der um diese Zeit bereits unterrichtete. Quin widmete sich also seiner Korrespondenz, bis es Zeit war, ins Dozentenzimmer zu gehen, wo Elke Sonderstrom, mit ihren prächtigen Zähnen ein Cremeschnittchen zermalmend, ein Thema zur Sprache brachte, das er für erledigt erklärt hatte.

«Sie hat mir nach nicht einmal einer Woche eine erstklassige Arbeit geschrieben. Und das in einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist.»

«Mir ist nicht bekannt, daß Miss Berger mit dem Englischen Schwierigkeiten hat», versetzte Quin. «Sie ist schließlich jahrelang von einer englischen Gouvernante unterrichtet worden.»

Sein nächster Versuch, in Tonbridge anzurufen, wurde von Hazel verhindert, die ihm meldete, daß eine Abordnung von Studenten ihn zu sehen wünschte.

«Aber ich habe allerhöchstens zehn Minuten Zeit», sagte er verdrossen. «Um elf fängt meine Vorlesung an.»

Die Studenten kamen im Gänsemarsch herein. Er erkannte Sam und die verschüchterte kleine Tochter des Pillendrehers und den massigen Waliser mit den Blumenkohlohren – lauter Studenten im dritten Jahr, die er wegen seines ausgedehnten Aufenthalts in Indien nicht so gut kannte, wie er sie eigentlich hätte kennen müssen. Aber es waren auch andere Studenten in der Gruppe; solche, die gar nicht seiner Abteilung angehörten.

Sam, wie immer in seinen Schal gewickelt, ergriff das Wort. «Wir sind wegen Miss Berger hier, Sir. Wir sind der Ansicht, daß sie nicht ausgeschlossen werden darf.» Es kostete ihn einiges, diese Rede zu halten; bis zu diesem Moment war Professor Somerville ja sein Idol gewesen. «Wir sind der Meinung, daß der Ausschluß eine Ungerechtigkeit ist. Miss Berger wird für irgend etwas bestraft, das sie gar nicht verbrochen hat. In Anbetracht dessen, was das jüdische Volk ...»

«Danke, Sie brauchen mich nicht an das Schicksal des jüdischen Volkes zu erinnern.»

«Nein.» Sam schluckte. «Aber wir sehen nicht ein, warum sie nur wegen irgendwelcher Formalitäten ausgeschlossen werden soll.»

«Miss Berger wird nicht ausgeschlossen. Sie wird lediglich an eine andere Universität überwiesen.»

«Richtig. Wie die Juden und die Zigeuner und die Freimaurer und die Sozialisten in Deutschland in Lager überwiesen werden», erwiderte Sam tapfer.

«Und dabei will sie gar nicht weg von hier», stammelte Pilly nervös. «Es gefällt ihr hier, und sie hilft mir. Sie kann einem Dinge begreiflich machen.»

«Das ist wahr, Sir.» Ein großer blonder Mann, den Quin nicht kannte, sprach aus der hinteren Reihe. «Ich bin Germanist und – nun, ich muß ehrlich sagen, ich hatte kaum noch Lust, mich mit der deutschen Sprache zu beschäftigen, nachdem ich im Radio nichts anderes mehr gehört hatte als Hitlers giftige Tiraden. Aber dann habe ich sie in der Bibliothek getroffen und – also, wenn sie die Nazis vergessen kann ...»

Schweigend betrachtete Quin die kleine Abordnung. Dann sagte er trocken: «Sie scheinen einen von Miss Bergers größten Bewunderern vergessen zu haben. Wieso haben Sie das Schaf nicht mitgebracht?»


Als Quin später vom Mittagessen zurückkam, fand er in seinem Zimmer Besuch vor.

«Verzeihen Sie mir, daß ich Sie störe», sagte Kurt Berger und stand aus seinem Sessel auf.

«Aber das ist doch keine Störung, Sir! Es ist mir eine Freude, Sie zu sehen.»

Die Veränderung allerdings, die mit Berger vorgegangen war, erschreckte Quin. Professor Berger war ein großer, aufrechter Mann mit einem stolzen und würdevollen Gesicht gewesen. Jetzt war er hager und verfallen, und in seiner Stimme lag eine tiefe Müdigkeit.

«Ist es Ihnen recht, wenn wir deutsch sprechen?»

«Selbstverständlich.» Quin schloß die Tür.

«Ich bin wegen meiner Tochter hier. Ruths wegen. Ich habe den Eindruck, es hat Ärger gegeben, und ich würde gern wissen, ob ich etwas tun kann, um ihn zu bereinigen.»

Quin nahm ein Lineal zur Hand und drehte es unablässig hin und her, während er sprach. «Sie wird Ihnen berichtet haben, daß ich mich bemühe, ihr einen Studienplatz an der Universität Tonbridge in Kent zu beschaffen.»

«Aha. So ist das. Nein, das wußte ich nicht. Mir hat sie nur erzählt, daß sie hier nicht bleiben kann.»