Am folgenden Tag teilte Verena Plackett ihren Kommilitonen reizenderweise mit, daß Professor Somerville am Montag zurück sein werde, um seine Vorlesung zu halten.
«Bist du sicher?» fragte Sam.
«Aber natürlich», antwortete Verena. «Er wird ja am Abend bei uns essen.»
14
«Lieber Himmel, Ruth, was hast du mit deinen Haaren gemacht?» rief Leonie, als ihre Tochter am Montag morgen zum Frühstück erschien.
«Ich habe mir einen Zopf geflochten», antwortete Ruth mit Würde.
«Ja, das seh ich. Aber wie! Du hast die Haare ja so stramm zurückgezogen, daß man meinen könnte, du wolltest dich skalpieren.»
Ruth jedoch, deren Ziel die gänzliche Unauffälligkeit war, erklärte, sie fühle sich sehr wohl, und fragte, ob sie Hildas Regenmantel ausleihen dürfe, der schwarz war und männlich wirkte und bessere Zeiten gesehen hatte. Nachdem sie den Kragen hochgeklappt und sich eine Baskenmütze über den Kopf gezogen hatte, war sie sicher, daß es ihr gelingen würde, sich Quin Somervilles Aufmerksamkeit zu entziehen; dann machte sie sich, ohne auf ihre Mutter zu achten, die behauptete, sie sähe aus wie ein Straßenmädchen in einem Experimentalfilm von Pabst, auf den Weg zur Universität. Dort geriet sie von neuem unter Beschuß. Janet machte sie darauf aufmerksam, daß es keinen Tropfen regnete, und Sam fragte bekümmert, ob das jetzt ihre neue Frisur sei. Doch wenn schon Ruths Aussehen seltsam war, so war es ihr Verhalten noch mehr.
«Ist was?» fragte Pilly, als Ruth sich in den Hörsaal schlich wie die Bisamratte Chu Chundra in Kiplings Dschungelbuch, die sich niemals in die Mitte eines Zimmers wagte.
«Nein, nein», versicherte Ruth. «Das heißt, mir ist irgendwie nicht ganz gut. Ich glaube, ich setze mich hinten hin, damit ich jederzeit raus kann. Aber geh du ruhig nach vorn und such dir einen guten Platz.»
Das war eine sinnlose Aufforderung. Wo Ruth hinging, da ging auch Pilly hin, und wenig später gesellten sich Janet, Sam und Huw zu ihnen.
«Es ist nicht so schlimm», versicherte Sam, der sich schweren Herzens damit abfand, daß er seinem Idol so fern sein würde.»Man kann immer hören, was er sagt.»
Der Saal war voll bis auf den letzten Platz. Nicht nur Studenten anderer Jahrgänge, sondern auch anderer Disziplinen hatten sich eingefunden und dazu die Gasthörer, von denen Pilly erzählt hatte: Hausfrauen, alte Damen, ein rotgesichtiger Colonel mit einem Knebelbart.
«Ah, da kommt Verena», bemerkte Janet. «Sollte sie sich diese schwungvollen Würste auf der Stirn zu Ehren des Professors gedreht haben?»
In der Tat zeigte sich Verena im Glanz einer neuen Frisur, auch wenn sie wie immer ein Schneiderkostüm und eine hochgeschlossene Bluse strengen Schnitts anhatte. Als sie mit ihrer Krokodilledertasche unter dem Arm die Stufen des Hörsaals herunterkam, sah sie sich mit einer unerwarteten Schwierigkeit konfrontiert. Ihr Platz in der Mitte der ersten Reihe war besetzt.
Der Angestellte, der angewiesen war, Verena vor den Vorlesungen stets ihren Platz zu reservieren, hatte aufgemuckt. Er hatte sich beim Quästor beschwert und gesagt, das gehöre nicht zu seinem Aufgabengebiet, und der Quästor, der wahrscheinlich mit der Gewerkschaft unter einer Decke steckte, hatte ihn unterstützt. Bisher hatte sich das nicht weiter ausgewirkt, da inzwischen jedermann wußte, was ihr zustand; heute jedoch, bei dem Zustrom von Hörern, war die ganze erste Reihe besetzt.
Jeder andere hätte sich davon vielleicht abschrecken lassen; nicht Verena Plackett, Tochter ihrer Mutter.
«Entschuldigung», sagte sie, hielt ihre edle Aktentasche hoch und drängte sich an den Sitzenden vorbei bis zur Mitte der Reihe direkt vor dem Podium mit dem Rednerpult und der Wasserkaraffe. Hier saß sie immer, hier beabsichtigte sie auch heute zu sitzen.
Ihr Hinterteil anmutig gelüpft, wartete Verena, um sich auf dem ihr angestammten Platz niederzulassen – und wartete nicht vergeblich. Solcherart war die Autorität, die überlegene Klasse, die selbst von ihrem Gesäß ausging, daß die Frau rechts von ihr näher zu ihrem Nachbar rückte, der Student links sich mit nur einem kleinen Murren an seinen Freund drängte – und mit einem höflichen «Danke sehr» setzte sich Verena, öffnete die Aktentasche, nahm den Block und den Füller mit der Goldfeder heraus und war bereit.
Quin betrat den Vorlesungssaal, legte ein einzelnes Blatt Papier auf das Pult, schob die Wasserkaraffe weg, blickte auf, um «Guten Morgen» zu sagen – und entdeckte augenblicklich Ruth, die so tief wie möglich zusammengekrümmt in der letzten Reihe saß. Sie war teilweise verdeckt von einem breitschultrigen jungen Mann in der Reihe vor ihr, aber das herzförmige Gesicht, die großen umschatteten Augen waren deutlich zu erkennen, und nicht minder eine nackte Fläche dort, wo ihr Haar nicht war. Einen Moment lang glaubte er, sie habe es abgeschnitten, und spürte ein Aussetzen seines Herzschlags, als hätte sein Vegetativum die Absicht gehabt, eine Protestmeldung zu senden, und sich dann eines anderen besonnen, einerseits weil es ihn nichts anging, andererseits weil sie es gar nicht abgeschnitten hatte. Offensichtlich hatte sie mit Regen gerechnet, denn er konnte den Zopf unter ihrem Mantel verschwinden sehen und mußte an das Museum in Wien denken, an ihr tropfnasses Haar, als er sie zu ihrer Hochzeit abgeholt hatte.
Diese Gedanken, wenn es wirklich bewußte Gedanken waren, nahmen nur wenige Sekunden in Anspruch, ehe sie von einem weiteren, ebenso flüchtigen abgelöst wurden, der Frage nämlich, wieso das University College seine Studenten zu seiner Vorlesung schickte. Nachdem er sich vorgenommen hatte, das in Zukunft zu unterbinden, ergriff er ein Stück Kreide, trat an die Tafel und begann.
Die folgende Stunde vergaß Ruth nie. Wenn jemand ihr gesagt hätte, daß sie einem Vortrag über Leitfossilien, die kennzeichnend für bestimmte geologische Schichten waren und zur Altersbestimmung herangezogen wurden, so gebannt folgen würde wie einer Gute-Nacht-Geschichte – ihn so aufregend, faszinierend und manchmal komisch finden würde wie jedes Märchen –, so hätte sie dem Betreffenden kaum geglaubt.
Das Thema des Vortrags war hoch wissenschaftlich. Quin präsentierte eine Neueinschätzung der von Rowe geleisteten Arbeit über die englische Kreidezeit und brachte sie in Bezug zu Darwins Theorien und den neuen Ideen Julian Huxleys. Aber während er sprach – ohne je die Stimme zu erheben, seine Worte nur selten mit einer Geste seiner ausdrucksvollen Hände unterstreichend –, empfand sie einen beinahe körperlichen Kontakt. Es war, als stünde er hinter ihr und stieße sie vorwärts, der Schlußfolgerung entgegen, die er gleich erreichen würde, so daß sie dachte: Ja – ja, natürlich, so muß es sein.
Rund um Ruth herum folgten die anderen dem Vortrag mit gleicher Faszination. Sam hatte seinen Füller aus der Hand gelegt; nur wenige Studenten machten sich mehr als gelegentliche Notizen, weil keiner auch nur ein Wort überhören wollte und weil sie wußten, daß sie danach lesen und lesen würden und irgendwie sogar die nötigen Reisen unternehmen ... daß sie Teil des Abenteuers werden würden, das sich dort auf dem Podium für sie auftat. Nur Verena schrieb unablässig mit ihrer Goldfeder – schrieb und schrieb und schrieb.
Irgendwann in der Mitte seines Vortrags machte Quin eine kurze Pause, fuhr sich mit der für ihn charakteristischen Handbewegung, die ihm selbst gar nicht bewußt war, durch das Haar, und sein Blick fiel erneut auf Ruth. Sie hatte ihre Zurückhaltung aufgegeben und saß gespannt vorgebeugt, den Zeigefinger quer über dem Mund, in der, wie er sich erinnerte, für sie typischen Haltung, wenn sie aufmerksam zuhörte. Auch ihr Haar hatte sich die Unterdrückung nicht länger gefallen lassen: eine Locke hatte sich aus dem strengen Zopf gelöst und ringelte sich um ihren Kragen.
Er richtete seinen Blick wieder auf das Papier, das vor ihm lag, und setzte seinen Vortrag fort. Genau fünf Minuten vor der vollen Stunde begann er mit der Rekapitulierung, präsentierte ihnen noch einmal die ungelöste Kontroverse und machte Schluß.
Er war noch keine drei Schritte gegangen, da wurde er schon umringt. Studenten wollten ihn begrüßen; der rotgesichtige Colonel erinnerte ihn daran, daß sie sich in Simla begegnet waren; Hausfrauen warteten schüchtern im Hintergrund.
Verena ließ sich Zeit. Sie wollte nicht in der Menge untergehen. Erst als Quin Somerville endlich den Weg zur Tür nahm, ging sie mit wenigen großen Schritten auf ihn zu und trat ihm in den Weg, um ihm das Erfreuliche mitzuteilen.
«Ich bin Verena Plackett», sagte sie.
«Wie soll ich das verstehen, Sie haben sie aufgenommen?»
Roger Felton seufzte. Vor zwei Stunden war er noch so froh gewesen, den Professor zu sehen. Somervilles Rückkehr hatte auf alle in der Abteilung wie ein frischer Wind der Zuversicht und der Unternehmungslust gewirkt. Jetzt aber fühlte Felton sich gedrückt und zu Unrecht zurechtgewiesen.
«Ich habe Ihnen doch gesagt – Sir», begann er, und Quin runzelte die Stirn. Das «Sir» bedeutete, daß er Roger härter angefaßt hatte als beabsichtigt. «Am University College hatte man ihren Platz weggegeben. Als sie sich dann doch noch meldete, haben die Leute unter anderem bei uns angerufen, um zu fragen, ob wir sie aufnehmen könnten. Ich dachte mir, wir würden schon noch ein Plätzchen für sie finden, zumal ich wußte, daß Sie ganz dafür sind, Flüchtlinge wenn irgend möglich aufzunehmen.»
«Aber nicht Ruth Berger. Sie muß weg.»
«Warum denn? Sie ist eine hervorragende Studentin. Sie glauben vielleicht, die Tatsache, daß sie ein hübsches Ding ist und ab und zu Zwiesprache mit dem Schaf hält ...»
«Sie redet mit einem Schaf? Mit was für einem Schaf?»
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