«Sie werden selbstverständlich bei uns wohnen», sagte er und nahm ihn mit in die Rauhensteingasse, wo seine Familie sich höchst verwundert zeigte. Denn es war bekannt, daß Engländer, besonders solche, die auf Forschungsreisen gingen und tollkühne Kletterpartien unternahmen, stets groß und blond waren, stechende blaue Augen, ein wieherndes Organ und einen arroganten Ton hatten, mit dem sie über Eingeborene und Untergebene verfügten. Bestenfalls sahen sie, wenn sie aus sehr guter Familie kamen, ausgebleicht und wie gemeißelt aus, Kreuzrittern auf Grabmälern ähnlich, mit langen, aristokratischen Nasen und sehnigen Händen, die über ihren Schwertern gefaltet waren.

In all diesen Punkten war Quin eine Enttäuschung. Er hatte ein Gesicht, das aussah, als müßte es gebügelt werden; die hohe Stirn konnte sich von einem Moment auf den anderen in beunruhigend tiefe Falten legen; seine Nase wirkte irgendwie deformiert, wie gebrochen, und die häufig amüsiert, immer forschend blickenden Augen waren von einem tiefen, beinahe südländischen Braun. Nur die wohlgeformten Hände, mit denen er eine alte Pfeife zu stopfen und zu klopfen pflegte (aber nur selten anzündete), hätten auf einem Grabmal bestehen können.

«Aber seine Schuhe sind handgenäht», behauptete Miss Kenmore, Ruths schottische Gouvernante. «Er ist eindeutig upper dass.»

Leonie war geneigt, dies aufgrund der Fiaker zu glauben, die etwa nach dem Theater oder der Oper auch mitten auf der Ringstraße augenblicklich wendeten, wenn Quin nur mit den Fingern schnippte.

«Sonst könnte er wohl kaum so gut schießen», sagte Ruth. Der Engländer hatte im Prater an der Schießbude eine Kristallschale, einen Goldfisch und ein riesiges himmelblaues Kaninchen gewonnen und war daraufhin von dem erbosten Schießbudenbesitzer aufgefordert worden, anderswo die Regale abzuräumen. Was konnte dies anderes bedeuten als Jahre fröhlichen Halalis auf windigen Hochmooren, wo man Fasanen, Rebhühnern und Moorhühnern den Garaus machte?


Die Realität sah anders aus. Quins Mutter war bei seiner Geburt gestorben; sein Vater, der zum Stab der britischen Botschaft in der Schweiz gehörte, meldete sich 1916 freiwillig an die Front und fiel an der Somme. Quin wurde heimgeschickt auf den Stammsitz der Familie und fand sich in einem Haus mit lauter alten Leuten. Ein cholerischer, herrschsüchtiger Großvater – der gefürchtete «Basher» Somerville – war der Hüter Quins früher Jahre, und die unverheiratete Tante, die nach seinem Tod Quins Erziehung in die Hand nahm, schien kaum jünger. Aber wenn auch keiner da war, der dem verwaisten kleinen Jungen Wärme schenkte, so wurde ihm doch etwas gegeben, das er hoch zu schätzen wußte: Freiheit.

«Lassen Sie dem Jungen seine Freiheit», riet der Hausarzt vernünftigerweise, als Quin bald nach seiner Ankunft in Bowmont ein langwieriges Fieber bekam, für das es keine rechte Erklärung gab. «Für die Schule ist später noch Zeit. Er ist ja ein aufgeweckter kleiner Bursche.»

Quin bekam also eine Gnadenfrist, ehe er sich der Monotonie britischer Internate ergeben mußte, und richtete sich in seiner eigenen geheimen und durchaus beglückenden Welt ein. Viele Kinder, insbesondere Einzelkinder, schaffen sich einen unsichtbaren Spielgefährten, der sie durch den Tag begleitet. Quins Gefährte seit seinem achten Lebensjahr war nicht ein imaginärer Bruder oder verständnisvoller Junge seines eigenen Alters, sondern ein Dinosaurier. Das Tier – ein Brontosaurus, den er Harry nannte – war zwanzig Meter lang. Sein Kopf, wenn er ihn durchs Kinderzimmerfenster steckte, füllte das ganze Zimmer aus, und sein herzerwärmendes Lächeln hatte überhaupt nichts Bedrohliches; er fraß ja nur die Bambushölzer im Gebüsch und die Farne und Moose im Wäldchen, das an den Rasen angrenzte.

Ein Artikel in einer Jugendzeitschrift hatte Quin mit Harry bekanntgemacht; Conan Doyles The Lost World führte ihn tiefer in die Fabelwelt der Vorgeschichte. Er wurde der Anführer der Dinosaurier, ein Mowgli der jurassischen Sümpfe, der selbst den schrecklichen Tyrannosaurus rex zähmte, auf dessen Rücken er ritt.

«Ich muß sagen, man braucht sich wirklich nicht anzustrengen, um ihn zu unterhalten», erklärte sein Kindermädchen, das keine Ahnung hatte, daß kein Spiel und keine Geschichte es mit den Dramen aufnehmen konnten, die Quin in seinem Kopf in Szene setzte. Von den Dinosauriern aus marschierte er vorwärts und rückwärts durch die Erdgeschichte. Er las von den geologischen Schichten der Erde, von Leuchtfischen und den Säugetieren des Pleistozäns. Als er elf war, setzte er beinahe täglich sein Leben aufs Spiel, wenn er auf der Suche nach Fossilien in Klippen und Steinbrüchen herumkletterte. In den alten Stallungen hatte er begonnen, eine Sammlung anzulegen, der er den stolzen Namen «Somerville-Museum für Naturgeschichte» gab. Als er älter wurde und Harry allmählich verblaßte, wurde das Museum erweitert, nahm nun auch die Meeresfunde auf, die allenthalben zu machen waren. Denn Quins Zuhause stand ja an der Nordsee über dem sandgesäumten Halbmond der Bowmont-Bucht, deren Felstümpel sein Kinderzimmer waren; die Geschöpfe in ihnen interessanter als jedes Spielzeug.

Quin wäre verdutzt gewesen, hätte jemand ihm gesagt, daß er «Wissenschaft betrieb» oder «sich bildete», und später, in Cambridge, war er erheitert über den feierlichen Ernst, mit dem man dort Kenntnisse vermittelte, die er sich vor seinem elften Lebensjahr angeeignet hatte, und über die umständlichen Vorbereitungen für Exkursionen zu Orten, an denen er mit Turnschuhen herumgeklettert war.

Beim Abschlußexamen in Naturgeschichte schnitt er – es war beinahe peinlich, wie leicht es ihm fiel – als Bester ab. Dank seiner ungebundenen Kindheit jedoch verspürte er keine Neigung, eine feste Anstellung an einer Schule oder Universität anzunehmen. Da er seit seinem achtzehnten Geburtstag finanziell unabhängig war, konnte er es sich leisten, seine Zeit vor allem Expeditionen in schwer zugängliche Gebiete der Erde zu widmen; jetzt aber verliebte er sich in die Stadt Wien.

Nicht in das Wien der Operette und der Cremetörtchen, auch wenn er derlei Genüsse durchaus zu schätzen wußte, sondern in die strengen Arkadenhöfe der Universität im Schmuck der steinernen Büsten ehemaliger Lehrer. Da war Doppler neben Semmelweis zu sehen, dem «Retter der Mütter», der das Kindbettfieber gebannt hatte, und Billroth, der Chirurg, der mit Brahms befreundet gewesen war. In der Bibliothek der Hofburg drehte Quin den gewaltigen, auf goldenem Sockel stehenden Globus, vor dem Kaiser Ferdinand gestanden hatte, ehe er seine Forscher in die Welt hinaussandte. Und im Naturhistorischen Museum entdeckte er eine kleine, häßliche Figur mit dickem Bauch, die Venus von Willendorf, von Menschenhand geschaffen zu einer Zeit, als noch Mammut und Säbelzahntiger die Erde unsicher gemacht hatten.

Als das Semester zu Ende ging, luden die Bergers ihn in ihr Haus am Grundlsee ein.

«Es ist so schön dort», versicherte Ruth. «Der Regen und die Salamander – und wenn man sich auf dem Steg auf den Bauch legt, kann man durch die Ritzen massenhaft kleine Fischlein sehen, wie eingerahmt.»

Eigentlich wurde er in Cambridge zurückerwartet, aber er nahm die Einladung an und entpuppte sich als begabter Heidelbeerpflükker und kraftvoller Ruderer, der mit gleicher Begeisterung wie alle anderen «Wunderbar!» rief. Sie genossen seine Gesellschaft, und er seinerseits nahm herrliche Erinnerungen an das österreichische Landleben mit nach Hause: Tante Hilda, im knielangen gestreiften Badekostüm energisch schwimmend, ohne von der Stelle zu kommen; die betagte Mutter des Professors, im Rollstuhl einen unbefugt eingedrungenen Ziegenbock jagend; und Klaus Biberstein, zweiter Geiger des Ziller-Quartetts, der Leonie liebte, aber einen empfindlichen Magen hatte und gegen Mitternacht hinausschlich, um seinen heimlich unterschlagenen Knödel an die Fische zu verfüttern.

Ruth sah er relativ selten. In einer dieser Holzhütten, die österreichische Musiker so lieben, übte nämlich Vetter Heini sein Klavierspiel, und sie hatte alle Hände voll damit zu tun, ihn mit Krügen voll Milch und Tellern voll Keksen bei Kräften zu halten. Einmal traf er sie mit einem recht erstaunlichen Sortiment von Büchern am Seeufer an: Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis, Louisa May Alcotts Kleine Frauen und ein grell aufgemachtes Cowboybuch mit dem Titel Jakes letzter Kampf.

Als er kam, war sie gerade mit gefurchter Stirn in den KrafftEbing vertieft.

«Du meine Güte!» sagte er. «Darfst du das denn lesen?»

Sie nickte. «Ich darf alles lesen. Leider muß ich aber auch alles essen, sogar Grießbrei.»

Am Abend vor seiner Abfahrt ließ Miss Kenmore sich nicht länger zurückhalten und teilte Quin mit, daß Ruth ihm nach dem Essen Keats' Ode an eine Nachtigall aufsagen werde.

«Sie kann das ganze Gedicht auswendig, Dr. Somerville», er klärte Miss Kenmore – und Quin gesellte sich, einen Seufzer unterdrückend, zur Familie ins Wohnzimmer mit den hohen Fenstern, die zum See geöffnet waren.

Ruth trug das helle Haar offen, ein Samtband hineingeschlungen – es war offensichtlich ein bedeutender Anlaß; doch zuerst einmal mußte Quin den Blick senken und hatte Mühe, seine Gesichtszüge zu beherrschen: sie trug die berühmten Worte mit unverkennbar schottischem Akzent vor.

Erst als sie zum vorletzten Vers kam, zu jenem Teil des Gedichts, der sie persönlich anzugehen schien, da er von ihrer Namensvetterin sprach, hob er, von einem Ton in ihrer Stimme aufmerksam gemacht, den Kopf.

«Vielleicht ist es das alte Lied, das Ruth ins Herz drang, als sie ohne Heimat war und Tränen ausgoß über fremdem Korn ...»


Abgedroschene Zeilen, Worte, die ihm die Schule verleidet hatte – und dennoch besaßen sie die Macht, ihn zu ergreifen.