Leonie jedoch sah sich das Bild am längsten an und fragte, bevor sie nach Hause ging, ob sie sich die Zeitschrift ausleihen dürfte.

«Ich bin kein Snob», sagte sie zu ihrem Mann, der wissend lächelte, «aber daß Ruth nun wieder in der Welt ist, in die sie gehört ... ach Kurt, das ist so gut.»

Erst als Ruth zu Bett gegangen war, stellte Leonie ihr Bügelbrett auf; ihre Tochter sollte nicht wissen, wie lange und wie billig sie arbeitete. Doch während sie sorgsam die Rüschen und Volants an Mrs. Carters Bluse glattbügelte, summte sie eine Walzermelodie vor sich hin, zu der sie in ihrer Jugend getanzt hatte. Und nach einer Weile stellte sie das Eisen weg und betrachtete noch einmal eingehend Verena Placketts Gesicht.

Besonders liebenswürdig sah sie nicht aus; aber wer war vor dem Fotografen nicht befangen? Und wenn ihre Mundwinkel etwas abwärts hingen, so war dies vermutlich ein Familienmerkmal und kein Zeichen von Übellaunigkeit. Ganz gleich, Hauptsache war, daß Ruth wieder dort war, wohin sie gehörte. Die Tochter eines Vizekanzlers war genau die passende Freundin für die Tochter eines ehemaligen Dekans der Naturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Wien. Verena und Ruth würden die besten Freundinnen werden – Leonie war dessen ganz sicher –, und nichts konnte sie an diesem Abend um ihre gute Laune bringen; nicht einmal der Geruch nach verbrannter Linsensuppe, der um Mitternacht, als die Psychoanalytikerin aus Breslau ihr Abendessen kochte, durch das ganze Haus zog.

13

Schon wenige Tage nach Semesterbeginn fühlte sich Ruth in Thameside völlig zu Hause. Um die Universität zu erreichen, mußte sie zu Fuß die Waterloo-Brücke überqueren, und immer gab es dort etwas Herzerfrischendes zu sehen: einen Lastkahn, der voll flatternder Wäsche, die an Deck zum Trocknen aufgehängt war, unter der Brücke hindurchfuhr; einen Schwarm kreischender Möwen, die einander die Brotbröckchen wegzuschnappen suchten, die ihnen eine vermummte alte Frau hinwarf, die bettelarm aussah, aber jeden Tag hier war, um ihr Brot mit den Vögeln zu teilen; einmal einen doppelten Regenbogen hinter der St.-Pauls-Kathedrale.

«Und immer riecht es wie am Meer», schwärmte sie Roger Felton vor, der ihr zu einem Freund wurde. «An den Flüssen zu Hause riecht es nicht so – aber das ist ja klar, dazu ist das Meer viel zu weit entfernt.»

Roger Felton war ein guter Lehrer, der die Begeisterung für sein Fach mit seinen Studenten teilte.

«Schauen Sie nur!» konnte er wie ein kleiner Junge rufen, wenn er unter dem Mikroskop eine Traube durchscheinender Eier eines Seesterns entdeckte oder das Flagellum, mit dessen Hilfe sich ein unendlich kleines Körperchen durch einen Tropfen Flüssigkeit fortbewegte. Wenn Ruth Objektträger vorbereitete und Diagramme zeichnete, befand sie sich in einer Welt, in der es zwischen Wissenschaft und Kunst keine Grenze gab.

Aber so nett die Dozenten waren, so interessant und aufregend die Arbeit, wirklich glücklich machten Ruth in jenen ersten Tagen in Thameside ihre Mitstudenten. Sie arbeiteten bereits seit zwei Jahren miteinander, aber sie nahmen sie ohne Vorbehalt und ohne Zögern unter sich auf. Sie lernte Sam Marsh kennen, einen mageren, hochaufgeschossenen Jungen mit ewig zerzaustem Haar und dem Gesicht einer intelligenten Ratte, der eine Schirmmütze und einen Schal trug, um seine Solidarität mit dem Proletariat zu demonstrieren; ferner Janet Carter, die lebenslustige Pfarrerstochter mit dem krausen roten Haar, deren zahllose Verehrer von Sofas fielen, sich mit den Füßen in den Lenkrädern von Autos verhedderten oder bei ihren verzweifelten Bemühungen, ans Ziel zu gelangen, sonstwie in Schwierigkeiten gerieten; weiter gab es einen großen, schweigsamen Waliser, der eine fatale Neigung besaß, ganz ohne es zu wollen, Reagenzgläser in seinen großen Händen zu zerdrücken; und dann gab es Pilly.

Pilly hieß eigentlich Priscilla Yarrowby, aber der Spitzname war ihr aus ihrer Schulzeit geblieben. Sie hatte ihn ihrem Vater zu verdanken, der einen pharmazeutischen Betrieb besaß, in dem Pillen hergestellt wurden. Pilly hatte kurzes, lockiges hellbraunes Haar und runde blaue Augen, in denen sich häufig hoffnungsloses Unverständnis spiegelte. Sie war bei jeder Prüfung mindestens einmal durchgefallen, sie weinte beim Sezieren und fiel beim Anblick von Blut in Ohnmacht. Die Entdeckung, daß Ruth, die aussah wie die Gänseliesel aus dem Märchen, genau wußte, was sie tat, erfüllte Pilly mit staunender Bewunderung. Und daß diese romantische Fremde – in die Sam sich bereits verliebt hatte – auch noch bereit war, ihr mit Takt und ganz unauffällig bei ihren Arbeiten zu helfen, rief tiefste Dankbarkeit hervor. Sehr bald war Pilly nicht mehr von Ruth zu trennen.

Unter all den netten Bekanntschaften, die Ruth in den ersten Tagen an der Universität machte, gab es eine Ausnahme. Verena Placketts erster Auftritt bei der ersten Vorlesung des Seminars würde Ruth unvergeßlich bleiben.

Sie saß mit ihren neuen Freunden zusammen, als die Tür geöffnet wurde und der Pförtner des Institutsgebäudes eintrat. Er legte ein Schild mit der Aufschrift «Reserviert» in die Mitte der ersten Bank und ging wieder, mit unverkennbar mißmutiger Miene. Die bereits anwesenden Studenten waren verwundert. Dr. Fitzsimmons, der etwas diffuse Physiologiedozent, der diese erste Vorlesung hielt, lockte normalerweise keine Menschenmengen an.

Einige Minuten verstrichen, dann wurde die Tür erneut geöffnet, und ein hochgewachsenes junges Mädchen in einem marineblauen Schneiderkostüm trat ein, ging zu dem reservierten Platz, entfernte das Schild und setzte sich. Sie öffnete ihre große Aktentasche aus Krokodilleder, entnahm ihr eine Saffianschreibmappe, klappte sie auf und legte einen dicken Schreibblock, ein Lineal aus Ebenholz, einen schwarzen Füller mit Goldfeder und einen silbernen Drehbleistift heraus. Danach zog sie den Reißverschluß der Schreibmappe wieder zu, schob sie in die Aktentasche, schloß die Aktentasche – und war bereit.

Dr. Fitzsimmons begann mit einem Überblick über das menschliche Verdauungssystem. Er ging von den Speicheldrüsen des Mundes langsam weiter zur peristaltischen Bewegung der Speiseröhre und erreichte dann den Magen, den er an die Tafel zeichnete, wobei ihm mehrmals die Kreide brach. Ob er sprach oder skizzierte, Verena zeichnete alles auf. Nicht ein einziges Wort, das aus Dr. Fitzsimmons' Mund kam, ließ sie aus; jedes «und» und «aber» schrieb sie in ihrer großen, deutlichen Schrift nieder. Um fünf vor zehn schließlich drehte sie die Mine ihres Drehbleistifts zurück, schraubte ihren Füller zu, öffnete die Aktentasche und dann die Schreibmappe aus Saffianleder ... Doch selbst nachdem alle ihre Besitztümer wieder ordentlich eingepackt waren, folgte Verena den anderen Studenten nicht gleich ins Labor. Sie wußte, wie schmeichelhaft es für einen Dozenten sein mußte, die Tochter des Vizekanzlers unter seinen Hörern zu haben; darum trat sie zum Podium, auf dem Dr. Fitzsimmons stand und leicht mit Kreide bestäubt den menschlichen Magen von der Tafel wischte.

«Sie werden schon erraten haben, wer ich bin», sagte sie und bot ihm huldvoll die Hand, «aber ich wollte nicht versäumen, Ihnen auch im Namen meiner Eltern für Ihren interessanten Vortrag zu danken.»

Erst als es ins Physiologielabor ging, konnte Verena Plackett den Kontakt mit ihren Kommilitonen nicht länger vermeiden. Auf den Arbeitstischen warteten zusammengerollte Schläuche, von denen jeder an einem Ende mit einer Spitze versehen war. Daneben lagen Blätter mit Anweisungen. Ihre Ausführung verlangte einige Beherztheit. «Schlucken Sie den Schlauch bis zur weißen Markierung hinunter», hieß es da, «und entnehmen Sie den Mageninhalt zur Analyse.»

Der wissenschaftliche Assistent, ein freundlicher junger Mann, war bereit, ihnen zu helfen. «Sie müssen paarweise arbeiten», erklärte er. Und zu Verena sagte er: «Da Sie neu sind, Miss Plackett, dachte ich, Sie würden vielleicht gern mit Miss Berger zusammenarbeiten, die auch dieses Jahr angefangen hat.»

Ruth drehte den Kopf und lächelte Verena an. Sie hätte lieber mit Pilly gearbeitet, die sie flehentlich ansah, oder mit Sam, aber sie wollte das andere Mädchen keinesfalls brüskieren.

Verena sagte nichts. Sie stand nur da und musterte Ruth von oben bis unten. In Belsize Park war es nach Ruths Aufnahme in Thameside zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen. Leonie hatte ihre Absicht kundgetan, die Brillantbrosche zu verkaufen, die sie heimlich außer Landes geschmuggelt hatte, um Ruth mit dem Erlös für die Universität auszustatten, aber davon hatte Ruth nichts hören wollen. «Du wirst das Geld bestimmt einmal für wichtigere Dinge brauchen», hatte sie mit Entschiedenheit gesagt.

Darum trug Ruth an diesem Morgen statt eines regulären Labor mantels eine mit kleinen weißen Gänseblümchen bedruckte lavendelblaue Kittelschürze. Sie gehörte Miss Violet, die ein ganzes Sortiment dieser Kleidungsstücke besaß, in denen sie im Willow bediente. Hätte Ruth die Wahl gehabt, so hätte sie sicher nicht dieses Prachtexemplar von einem Kittel für die Laborarbeit ausgewählt, aber sie hatte die Gabe von Miss Violet ebenso dankbar angenommen wie das mit rosaroten Herzen dekorierte Federmäppchen, das Mrs. Burtt ihr bei Woolworth gekauft hatte.

Verena jedoch starrte diese unwissenschaftliche Erscheinung, deren Haar der Ordnung halber auch noch mit einem von Onkel Mishak gestifteten Stück Gartenbast hochgebunden war, mit vielleicht verständlicher Bekümmerung an. Dann sagte sie: «Ich halte es nicht für ratsam, daß zwei Neue zusammenarbeiten.»

Die Abfuhr war unverkennbar. Ruth wurde rot und wandte sich ab, während Verena einen schneeweißen, gestärkten Labormantel anlegte, ehe sie daran ging, ihre Partnerwahl zu treffen. Die Gruppe um Ruth Berger kam natürlich nicht in Frage, und ein möglicher Kandidat – ein gutaussehender, hellhaariger junger Mann – tat sich mit jemand anderem zusammen, ehe sie ihn auf sich aufmerksam machen konnte. Doch schmeichelhaft nahe an ihrer Seite wartete schüchtern ein Junge, der gar nicht übel war, groß und schlank, mit sandblondem Haar, das kurz geschnitten und ordentlich gekämmt war.