«Von Heini?» fragte er. «Kommt er?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nein, er ist von der University of Thameside. Sie haben einen Studienplatz für mich. Ich kann nächste Woche anfangen.»

Er nahm den Brief, den sie ihm hinhielt. Die Unterschrift sagte ihm nichts, aber das konnte ihn nicht täuschen.

«Da steckt Somerville dahinter», sagte er, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. Der Gedanke, das sein junger Protegé ihn und seine Familie vergessen haben könnte, hatte sehr geschmerzt. «Er ist dort Professor für Zoologie.» Und streng fügte er hinzu: «Ich weiß, du wirst dich seiner Güte würdig erweisen.»

Sie hatte sich hinter ihr Haar zurückgezogen, um ihrer Verwirrung Herr zu werden, und blieb dort – bildlich gesprochen – bis spät abends, bis Tante Hilda endlich eingeschlafen war und sie das Fenster aufmachen und sich in die rußige Nachtluft hinauslehnen konnte, um zu versuchen, ruhig zu werden und klarzusehen.

Warum hatte er es getan? Warum hatte Quin, der ihr klipp und klar gesagt hatte, es sei das beste, wenn sie einander nie wiedersähen, sie als Studentin in seine Abteilung aufgenommen? Was hatte ihn veranlaßt, wider seine bessere Einsicht zu handeln und die Warnungen seines Anwalts bezüglich des möglichen Kollusionsverdachts in den Wind zu schlagen, um ihr diese Chance zu geben?

Aber was zählten schon die Motive! Er hatte es getan, und nun lag die Zukunft hell und freundlich vor ihr. Sie würde die fleißigste Studentin werden, die man in Thameside je gehabt hatte. Sie würde arbeiten wie besessen, um als Beste ihres Jahrgangs abzuschneiden, um alle zu übertreffen, und sie würde es tun, ohne mit ihm Kontakt aufzunehmen, ohne ihm auch nur durch einen Blick zu nahe zu treten.

Der Gedanke, daß Quin mit ihrer Aufnahme vielleicht gar nichts zu tun hatte, daß er möglicherweise nicht einmal davon wußte, kam Ruth und ihren Eltern nicht. Und doch war es so. Quin hatte in diesem Jahr wie immer die Aufnahmeformalitäten seinem Stellvertreter Dr. Felton überlassen. Er selbst hielt sich gar nicht in London auf.

Überzeugt, daß ein Krieg unvermeidlich war, war er zu einem Marinestützpunkt oben in Schottland gereist, um zu versuchen, unter Berufung auf den Namen seines gefürchteten Großvaters, Admiral «Basher» Somerville, bei der Marine unterzukommen. In die Korridore der Macht einzudringen, war ihm dank seinem Namen relativ leicht gefallen; wieder aus ihnen zu entkommen, nachdem die Kriegsgefahr sich verzogen hatte, war schwieriger.

Professor Somerville würde nicht pünktlich zum Semesteranfang in London zurück sein.

12

«Was soll das heißen, er ist noch nicht zurück? Das Semester fängt nächste Woche an. Du kannst dir doch so etwas nicht bieten lassen!»

Lady Plackett war verstimmt. Seit ihr Mann seinen neuen Posten als Vizekanzler der Universität Thameside übernommen hatte, hatte sie unter beträchtlichen Mühen angemessene Veranstaltungen zum Empfang des Lehrkörpers und der Studenten geplant. Ihr Vorgänger, Lord Charlefont, war unglaublich nachlässig gewesen, und die Lage des Hauses, das nur durch seine dorischen Säulen und den wilden Wein vom Kunstbau abgegrenzt war, lud zu jener Art willkürlichen Kommens und Gehens ein, das sie auf keinen Fall zu dulden gedachte. Sie hatte auf dem gepflasterten Weg, der vom Haupthof zu ihrer Haustür führte, bereits ein Schild mit der Aufschrift «Privat» aufstellen lassen und den Hausmeister der Universität angewiesen, ihren Teil der Flußterrasse mit einem Maschendrahtzaun abzusperren, um ihn von Studenten freizuhalten, die sich offensichtlich einbildeten, sich überall niederlassen zu können, um ihr Mittagbrot zu verspeisen.

Die eigene Privatsphäre zu wahren, war so wichtig wie die Wiederherstellung hoher moralischer Maßstäbe an der Universität. Studenten, die in aller Öffentlichkeit Händchen hielten oder sich gar küßten, konnten selbstverständlich nicht geduldet werden. Aber Lady Plackett wollte auch geben – das Universitätsleben durch ihre Gastfreundschaft bereichern und das Haus des Vizekanzlers zu einem Ort machen, an dem gute Gespräche und gute Kinderstube garantiert waren. Um dies zu verwirklichen, mußte sie jedoch zunächst die Spreu vom Weizen sondern und sich vom vorhandenen Material ein Bild machen. Zu diesem Zweck hatte sie für den Semesterbeginn eine Reihe gesellschaftlicher Veranstaltungen geplant. Zuerst sollten die Professoren zum Sherry gebeten werden, natürlich mit Namensschildchen, die auch über die Fakultät des Gastes Auskunft gaben, denn Gesellschaften ohne Namensschildchen brachten niemals den rechten Erfolg; dann die Dozenten zum Fruchtsaft ... und schließlich, in Gruppen von jeweils etwa zwanzig, die Studenten zu Schreibspielen.

Als sie jetzt die Namensschildchen mit der Gästeliste verglich, entdeckte sie neben dem Namen Somerville die Anmerkung: «Kann leider nicht teilnehmen.»

«Er ist in Schottland», erläuterte Sir Desmond, ein blasser Mann mit einem jener unscheinbaren Gesichter, die höchstens einen Eindruck von Durchschnittlichkeit hinterlassen. Seine Berufung zum Vizekanzler von Thameside verdankte er der Tatsache, daß alle anderen Kandidaten genug Persönlichkeit besaßen, um sich Feinde geschaffen zu haben. «Offenbar wollte das Außenministerium ihn für einen Posten beim Nachrichtendienst haben. Er sollte Geheimcodes knacken oder so etwas. Da er sich daraufhin den ganzen Krieg in einem Bunker sitzen sah, wollte er versuchen, bei der Marine unterzukommen. Deshalb ist er nach Schottland gereist.»

«Ich kann nur hoffen, daß du ein ernstes Wort mit ihm reden wirst», sagte Lady Plackett.

Sie war größer als ihr Mann, hatte einen langen Rücken und ein langes, schmales Gesicht mit den engstehenden blauen Augen der Croft-Ellis'. Nachdem sie mehrere Jahre hindurch die Londoner Saison mitgemacht hatte, ohne daß, um es einmal so auszudrücken, ein größerer Fisch angebissen hatte, nahm sie den Antrag des Sohnes eines ganz gewöhnlichen Wirtschaftsprüfers an und setzte sich zum Ziel, ihm zu einer Karriere zu verhelfen. Leicht war es nicht gewesen. Desmond konnte, als sie ihn kennenlernte, seine soziale Herkunft nicht verleugnen, aber sie hatte nicht locker gelassen, und nun, fünfundzwanzig Jahre später, konnte sie aufrichtig sagen, daß sie sich nicht mehr schämte, ihn nach Hause mitzubringen.

«Nein, meine Liebe, das wäre unklug», widersprach Sir Desmond milde. «Wir brauchen Professor Somerville dringender als er uns.»

«Wie meinst du das?»

«Er ist ein prominenter Wissenschaftler. Er bekommt immer wieder Angebote aus dem Ausland, und Cambridge versucht, ihn zurückzuholen, seit er dort Examen gemacht hat. Charlefont hatte alle Mühe, ihn dazu zu bewegen, den Posten hier anzunehmen, und Somerville sagte nur unter der Bedingung zu, daß er jederzeit Urlaub für seine Reisen bekäme. Die Universität hat ihm einiges zu verdanken – aufgrund seines Rufs ist für die Paläontologie immer Geld da, und die alljährliche Exkursion mit seinen Studenten auf seinen Landsitz nach Northumberland soll der Höhepunkt des Studienjahres sein.»

«Northumberland?» sagte Lady Plackett scharf. «Wo denn in Northumberland?»

Sir Desmond runzelte die Stirn. «Den Namen habe ich nicht mehr im Kopf. Bow-irgendwas, glaube ich.»

«Doch nicht ...» Sie war hochrot vor Erregung – «doch nicht etwa Bowmont?»

«Doch, richtig. So hieß es.»

Bow-irgendwas, in der Tat! Nicht zum erstenmal wurde sich Lady Plackett bewußt, wie einsam man ist, wenn man unter seinem Stand heiratet. «Du meinst, er ist dieser Somerville? Quinton Somerville – der Eigentümer von Bowmont? Der Enkel vom alten Barher?»

Gewiß, sein Vorname sei Quinton, sagte Sir Desmond und wollte wissen, was denn an Bowmont so bemerkenswert sei. Doch das war eine Frage, die unmöglich zu beantworten war. Die Leute aus den richtigen Kreisen wußten, warum Bowmont etwas Besonderes war, und den anderen war es nicht zu erklären.

«Ich kenne seine Tante», sagte Lady Plackett. «Jedenfalls flüchtig. Ich werde ihr schreiben.» Sie sah ihren Mann, der im Adressenverzeichnis der Professoren und Dozenten blätterte, und fragte gespannt: «Er ist doch noch unverheiratet, nicht wahr?»

«Ja, soviel ich weiß.»

Ohne einen Moment des Zögerns ließ Lady Plackett das Namensschildchen für Professor Somerville in den Papierkorb fallen. Dieser Mann hatte in einem Gewühl brötchenvertilgender Leute nichts zu suchen. Professor Somerville würde zu einem der intimen kleinen Essen kommen, durch die sie Thameside gesellschaftlichen Glanz zu verleihen gedachte, und in der kultivierten Ambiance ihres Hauses würde er eine ihm intellektuell und gesellschaftlich gleichwertige Frau, seine zukünftige Studentin, kennenlernen – ihre Tochter Verena.

Die einzige Tochter der Placketts war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte nicht nur das blaue Blut ihrer Mutter geerbt, sondern auch die Intelligenz ihres Vaters. Von dem Moment an, als sie im zarten Alter von vier Jahren gezeigt hatte, daß sie lieber mit ihrem Rechengestell als mit Puppen spielte, war klargewesen, daß Verena zu einer Intellektuellen heranwachsen würde. Dem großen Dr. Samuel Johnson, Verfasser des berühmten Dictionary of the English Language, war als Kind von seiner Mutter befohlen worden, alles, was sie ihn gelehrt hatte, sogleich vor der nächsten Person zu wiederholen, die ihm begegnete, und sei es auch der Milchmann.

«Auf die Weise wirst du es immer im Kopf behalten», hatte sie zu ihrem Sohn gesagt.

Lady Plackett brauchte ihrer Tochter keine solchen Verhaltensregeln zu geben. Verena hatte mit der Aufnahme von Informationen so wenig Probleme wie mit ihrer Wiedergabe. In Indien hatten sie sie mit einem Heer von Privatlehrern umgeben, und mit neunzehn hatte sie sich an der europäischen Universität in Haiderabad eingeschrieben. Es war ein mutiger Schritt für ihre Eltern gewesen, ihr das zu gestatten: Zwar waren Studenten und Lehrkörper ausschließlich Weiße, aber sie hatten Verena ein ungewöhnliches Maß an Freiheit zugestehen müssen.