«Wenn das Studium anfängt, ist das natürlich eine andere Sache, aber jetzt möchte sie eben helfen, das ist doch verständlich», sagte Ziller und meinte genau wie Dr. Levy und von Hofmann und der Bankier aus Hamburg, daß er keinen Grund sah, auf das Vergnügen zu verzichten, abends hin und wieder von diesem frischen jungen Mädchen mit dem leuchtenden Haar bedient zu werden.

Ruth wurde also Kellnerin im Willow und tat dem Geschäft ohne Zweifel gut. Den müden, desillusionierten Emigranten war Ruth ein Zeichen, daß es auf der Welt doch noch Hoffnung gab. Sie war auf mysteriöse Weise von einem Engländer gerettet worden, und das an sich schon war eine Tatsache, die Zuversicht erlaubte. Außerdem war Ruth nicht nur jung und hübsch und lustig, sondern sie war auch verliebt.

«Ich habe einen Brief bekommen!» jubelte sie, und bald wußten alle im Willow von Heini, jeder erkundigte sich nach ihm. Die Nachricht, daß Heini nun sehr bald sein Visum bekommen würde, freute sie alle so sehr, als handelte es sich um ihr eigenes Glück – und sie verstanden, daß Heini unbedingt ein Klavier haben mußte, wenn er kam.

Über der Sache mit Heinis Klavier warf Leonie schließlich die letzten Reste heiligmäßiger Duldsamkeit über Bord, an denen sie bisher noch festgehalten hatte. Es gab nämlich nur einen Ort, an dem man es überhaupt aufstellen konnte: im sogenannten Wohnzimmer der Familie Berger – und Leonie hatte völlig recht, als sie sagte, daß man sich dann in dem Zimmer kaum noch um die eigene Achse drehen könnte.

«Er kann meinetwegen hier auf dem Sofa schlafen, bis er etwas Eigenes gefunden hat, aber Heini und das Klavier – sei doch vernünftig, Ruth!»

Aber wann hat Liebe je Vernunft gekannt? Leonie beriet sich mit ihrem Mann, überzeugt, er werde mit der gewohnten Strenge reagieren. Doch die Tage der Angst um die verloren geglaubte Ruth hatten Kurt Berger verändert.

«Es wird schon irgendwie gehen», sagte er. «Ich arbeite ja sowieso in der Bibliothek, und wir können einen der Sessel zu uns ins Schlafzimmer stellen.»

So hatte Ruth nun also auf das Fensterbrett ein Marmeladenglas mit der Aufschrift «Heinis Klavier» gestellt. Es war ein britisches Marmeladenglas, das einmal Oxford Orangenmarmelade enthalten und das sie aus der Mülltonne der Kindergärtnerin im Parterre gefischt hatte, aber leider füllte es sich nicht gerade mit rasender Geschwindigkeit. Ruth hatte sich erkundigt, wie hoch die Anzahlung für ein Klavier von der Art, wie Heini es benötigte, war. Sie betrug 2 Guineen; dazu kamen die wöchentlichen Mietgebühren und der Transportpreis. Was sie als Kindermädchen bei der fortschrittlichen Weberin verdiente, gab sie ihrer Mutter; das Geld vom Tea-Room hatte sie eigentlich sparen wollen, aber immer gab es irgendeinen Notfall: Tante Hilda brauchte Hustenpastillen, oder an der Teekanne war der Schnabel abgebrochen. Obwohl sie sich in diesen langen heißen Sommerwochen nichts für sich selbst leistete, kein Haarband, nicht einmal ein Eis an den glühendsten Tagen, blieb das Häufchen Münzen auf dem Grund des Marmeladenglases jämmerlich klein.

So freudig sie jeden von Heinis Briefen herumzeigte, so geheim hielt sie die Post, die sie in ihrem Schließfach von Mr. Proudfoot empfing. Mr. Proudfoot hatte es für angebracht gehalten, sie über die Voraussetzungen für eine Nichtigkeitserklärung ihrer Ehe eingehend zu informieren, und Ruth fand die Bedingungen bestürzend.

«Wißt ihr wirklich ganz genau, daß es in unserer Familie keine Geisteskrankheit gibt?» fragte sie ihre verwunderten Eltern. «Was ist mit Großtante Miriam?»

«Zu glauben, der Kaiser sei der wiedergeborene Tut-ench-Amun mag exzentrisch sein, aber von Geisteskrankheit kann man da gewiß nicht sprechen», erklärte ihr Vater mit Entschiedenheit.

Doch wenn auch die unmittelbaren Aussichten auf eine Annullierung ihrer Ehe düster waren, so setzte sich Mr. Proudfoot wenigstens energisch für eine Bestätigung ihrer britischen Staatsbürgerschaft ein, sandte ihr Formulare in frankierten Umschlägen und betonte immer von neuem seine Bereitschaft, ihr zu helfen. Von Quin selbst hörte sie nichts, aber sie hatte nichts anderes erwartet und war nicht enttäuscht darüber.

Als es Mitte August wurde, begann die tschechische Krise die Zeitungen zu beherrschen. Hitler wurde immer dreister; Bilder der Wochenschau zeigten ihn, wie er, den Arm um Mussolini gelegt, umherstolzierte oder mit geballter Faust jedem drohte, der es wagte, sich in osteuropäische Belange einzumischen. Kabinettsminister ließen die Moorhühner Moorhühner sein und begannen, zwischen London und Paris, zwischen Paris und Berlin hin- und herzureisen. Die Tschechen baten um Beistand.

Die nunmehr dringlicher betriebenen Kriegsvorbereitungen Englands bekamen die Leute von Belsize Park auf unterschiedliche Weise zu spüren. Mrs. Weiss schaute mit offenem Mund zu einem großen grauen Sperrballon hinauf, der über ihr schwebte, sagte: «Mein Gott, was ist denn das?», stolperte über eine Unebenheit auf dem Bürgersteig und wurde mit aufgeschlagener Nase ins Krankenhaus gebracht. Onkel Mishak, der an einem Plakat vorüberkam, das ihn aufforderte, Ruhe zu bewahren und fleißig zu graben –Keep Calm and Dig –, tat genau das und legte hinter dem Haus einen kleinen Gemüsegarten an. Im Willow brütete Miss Maud mit gefurchter Stirn über die Anweisung zur Errichtung eines Fertig-Luftschutzbunkers und erhielt viele gute Ratschläge von ihren männlichen Gästen, die vorgaben, die Instruktionen zu verstehen. Mrs. Burtt trällerte beim Abspülen kein Liedchen mehr, da ihr Sohn Trevor für die Air Force tauglich geschrieben worden war, und Dr. Levy wurde, obwohl er ausdrücklich darauf hinwies, daß er als Arzt nicht zugelassen war, in ein Nachbarhaus geholt, um bei einem Mann mit schwachem Herzen, dessen Ehefrau sich den zweifelhaften Spaß erlaubt hatte, mit Gasmaske ins Bett zu kommen, Erste Hilfe zu leisten.

Ruth geriet angesichts der Krise in helle Panik. Sie leerte das Marmeladenglas und schickte verzweifelte Telegramme nach Budapest, aber Heinis Papiere waren, auch wenn sie jeden Moment erwartet wurden, immer noch nicht gekommen. Trotz aller Sorge jedoch beschäftigte Ruth in diesen Tagen noch eine andere Frage, deren Beantwortung sie bei Miss Maud und Miss Violet suchte, die sich als Generalstöchter im Militärwesen eigentlich auskennen mußten.

«Würde man jemanden, der dreißig oder vielleicht etwas darüber ist, auch noch einziehen?»

«Nur wenn der Krieg sehr lange dauern würde», antwortete Miss Maud.

In diesen dunklen Tagen erhielt Ruth eine Nachricht, die sie unter normalen Umständen tief enttäuscht hätte. Das University College hatte ihren Studienplatz in Zoologie an einen anderen Flüchtling vergeben und konnte sie für das kommende Jahr nicht mehr berücksichtigen.

«Es war alles ein Mißverständnis», sagte sie, den Brief zeigend. «Als ich damals nicht mit dem Studententransport hier ankam, haben die Quäker der Universität Bescheid gesagt, und es gab so viele andere Bewerber, daß sie von denen jemanden genommen haben. Sie wollen jetzt versuchen, mich an einer anderen Universität unterzubringen, aber große Hoffnung können sie mir nicht machen, weil es schon so spät ist.»

Nach der ersten Enttäuschung beschloß Ruth, das Beste aus der Situation zu machen. «Es ist gar nicht so schlimm», sagte sie. «Ich möchte sowieso weiterarbeiten, um euch zu helfen, und Heini, wenn er kommt.»

Doch für Kurt und Leonie Berger war Ruths Ablehnung ein großer Schlag. Sie hätten jedes Ungemach auf sich genommen, um ihrem Kind eine freundlichere Zukunft zu ermöglichen. Ruth sollte nicht ihr Leben in der tristen Welt der Flüchtlinge fristen, in einer Welt der niedrigen Arbeiten und der Armut, der ständigen Sorge um Genehmigungen und der Angst, ausgewiesen zu werden.

«Vielleicht sollte ich mich mit Quinton Somerville in Verbindung setzen», meinte Kurt Berger an diesem Abend, nachdem Ruth zu Bett gegangen war. «Er würde Ruth sicher helfen.»

«Nein, tu das nicht.»

Kurt Berger sah seine Frau erstaunt an. «Warum nicht?»

Leonie, die für logische Überlegung nie viel übrig gehabt hatte und lediglich einem Gefühl folgte, das so nebulös war, daß sie es nicht erklären konnte, sagte nur, sie hielte es eben nicht für einen guten Gedanken – und in den folgenden Tagen kam keiner dazu, viel über persönliche Dinge nachzudenken.

Alle Klischees, die später über die tschechische Krise geschrieben wurden, waren wahr. Es war tatsächlich so, daß die Welt den Atem anhielt; daß sich Gewitterwolken über Europa zusammenzogen; daß Fremde auf der Straße stehenblieben, um einander nach Neuigkeiten zu fragen. Dann flog Neville Chamberlain, dieser obstinate alte Mann, der noch nie in einem Flugzeug gesessen hatte, zu Hitler, kam wieder nach Hause, flog noch einmal nach Deutschland und kehrte schließlich mit einem Papier zurück, an das er rückhaltlos glaubte und das er den Menschen mit den Worten «Friede in unserer Zeit» präsentierte.

Es gab viele, die von falscher Nachgiebigkeit sprachen, und viele – unter ihnen natürlich die Flüchtlinge –, die wußten, was Hitlers Versprechungen wert waren, und daß die Tschechen verraten worden waren. Aber wer konnte denn einen Krieg wollen? Während sich vor dem Buckingham-Palast jubelnde Menschen drängten, tanzte Ruth mit Mrs. Burtt durch die Küche hinter dem Tea-Room, weil Heini nun kommen und Mrs. Burtts Trevor sicher und wohlbehalten in seinem eigenen Bett schlafen konnte.

In dieser Zeit neuer Hoffnung, als in den Körben der Blumenhändler goldene und rostrote Chrysanthemen glühten und kleine Jungen bei Nummer 27 klingelten, um die Kastanien zu holen, die Onkel Mishak auf seinen Streifzügen gesammelt hatte, fand Kurt Berger eines Tages bei der Heimkehr Ruth in einen Brief vertieft und war erstaunt über ihr glücklich strahlendes Gesicht.