«Das wirst du vielleicht beweisen müssen.» Wieder machte sich Proudfoot eine Notiz, dann bemerkte er mit einem zynischen Grinsen, Quin werde sich wohl eher der bewußten Weigerung schuldig bekennen als des geschlechtlichen Unvermögens, die Ehe zu vollziehen. «Es gibt da aber eine weitere Schwierigkeit.»

«Ja?»

«Du hast dieses Mädchen doch geheiratet, um ihr die britische Staatsbürgerschaft zu sichern. Wenn du nun aber die Ehe aufgrund von Umständen für nichtig erklären läßt, die bereits vor der Eheschließung bestanden, kann es passieren, daß dem Mädchen die britische Staatsbürgerschaft wieder aberkannt wird. Nichtvollzug der Ehe fällt zwar nicht in diese Kategorie, aber wenn sie unter einundzwanzig ist, könnten wir Ärger bekommen. Die Gesetze über die Einbürgerung Minderjähriger werden derzeit revidiert, aber meiner Meinung nach wäre es unklug, einen Antrag auf Nichtigkeitserklärung der Ehe zu stellen, solange ihr Status als britische Staatsbürgerin nicht bestätigt ist und sie keinen eigenen Paß hat.»

Quin sah auf seine Uhr. «Hör zu, Dick, tu, was du kannst, und tu's so schnell wie möglich. Das Mädchen ist noch sehr jung, und sie ist in einen seelenvollen Konzertpianisten verliebt. Ach, und schreib ihr doch bitte. Schreib ihr, daß wir uns bemühen, die Geschichte so schnell wie möglich zu erledigen. Biete ihr deine Hilfe an, falls sie Hilfe brauchen sollte, und berechne es mir. Ich halte es für das beste, wenn ich sie nicht wiedersehe.»

«Es ist nicht nur das beste, es ist absolut wesentlich», versetzte Proudfoot. «Wenn auch nur der geringste Verdacht der Kollusion aufkommen sollte – das heißt, daß ihr beide in geheimem Einverständnis seid –, wird euer Antrag auf der Stelle zurückgewiesen werden.»

«Du meine Güte! Es ist dem Staat also lieber, wir gehen im Zorn auseinander als in gütlichem Einvernehmen?»

«Ganz recht», bestätigte Dick Proudfoot.

11

Der Sommer 1938 war ein heißer Sommer. Das Pflaster der Straßen in Belsize Park, Swiss Cottage und Finchley glitzerte, und den Mülltonnen entstiegen erstickende Düfte. In den schlecht ausgestatteten Küchen der Mietskasernen wurde die Milch sauer, und verendende Fliegen brummten verzweifelt an klebrigen Fliegenfängern. Kinder wurden im Sportwagen den Hügel hinauf nach Hampstead Heath geschoben, zum Picknick im versengten Gras oder zum Planschen im Teich. In Spanien errangen Francos Faschisten einen Sieg nach dem anderen; in Deutschland verschärfte Hitler seine Tiraden über den Sudetengau und drohte den Tschechen. Mussolini begann nach Hitlers Vorbild gegen die Juden vorzugehen, wenn auch nicht mit der gleichen Effektivität.

Die Briten hätten es vulgär gefunden, sich vom wütenden Gegeifer schlecht erzogener Ausländer bei ihren Sommerfreuden stören zu lassen. In den Parks wurden Gräben ausgehoben; Flugblätter mit Instruktionen über die Ausgabe von Gasmasken wurden verteilt; die Flotte war in Bereitschaft. Aber die Reichen reisten ohne ein Zeichen der Erschütterung zur Moorhuhnjagd aufs Land oder zur Sommerfrische in ihre Häuser an der See. Die Armen blieben in der Stadt wie immer und sonnten sich auf der Treppe vor dem Haus oder im winzigkleinen Gärtchen.

Die Flüchtlinge waren arm und blieben in der Stadt.

Nach Ruths glücklicher Ankunft konnte die Familie Berger endlich den Versuch machen, ein halbwegs normales Leben zu führen. Kurt Berger ging jetzt jeden Morgen mit seiner Aktentasche unter dem Arm in die öffentliche Bibliothek. Dort saß er zwischen Dr. Levy und einem Landstreicher mit Löchern in den Schuhen, der täglich zum Zeitunglesen kam, und verbarg vor Leonie und zum Teil auch vor sich selbst die Gewißheit, daß sein Buch ohne die Unterlagen und Aufzeichnungen, die er in Wien zurückgelassen hatte, nur eine Travestie dessen werden konnte, was er hätte schreiben können. Tante Hilda, die entdeckt hatte, daß der Eintritt ins Britische Museum frei war, spazierte stundenlang in der anthropologischen Abteilung umher und stieß (unter den Exponaten aus Betschuanaland) auf einen Fehler, der sie in höchste Erregung und Bekümmerung versetzte.

«Es ist kein Trinkbecher der Mi-Mi», sagte sie jeden Abend wieder. «Da bin ich ganz sicher. Das ist eine falsche Zuschreibung.»

«Dann sag es den Leuten dort, Hilda», pflegte Leonie ihr zu raten.

«Nein, nein, das kann ich nicht. Ich bin in diesem Land nur zu Gast. Zu so etwas habe ich kein Recht.»

Onkel Mishak hatte jetzt seine Stammplätze in diversen Parks und Freunde unter den Londoner Stadtgärtnern. Häufig brachte er abends, stolz wie ein kleiner Junge, irgendeinen besonderen Schatz mit nach Hause: ein Büschel noch duftenden Goldlacks, den man auf den Kompost geworfen hatte; eine Handvoll Kirschen, die von einem überhängenden Ast auf die Straße heruntergefallen waren.

Leonie ihrerseits begann, als sie endlich an das Wunder von Ruths glücklicher Heimkehr glauben konnte, die Verbindungen zu Freunden und Verwandten neu zu knüpfen, die in Wien an ihrem Leben Anteil gehabt hatten. Mochten sie auch in alle Winde verstreut sein, so fanden sich doch einige in ihrer Nähe: die Schwester ihrer Patentante zum Beispiel, die vor kurzem in Swiss Cottage angekommen war; eine Schulfreundin, die in Putney mit einem Buchbinder verheiratet war; ein uralter Stiefonkel aus Mähren, der, im Kopf nicht mehr ganz richtig, unter dem Standbild der Königin Victoria am Embankment zu sitzen pflegte und sich einbildete, es sei die Statue Maria Theresias und er befände sich noch in Wien.

Was die Damen vom Tea-Room Willow anging, so reagierten sie auf die Verschärfung der Situation auf dem Kontinent mit einer Geste, die großen Wagemuts bedurfte. Sie beschlossen, in Zukunft ihr Lokal auch abends geöffnet zu lassen – bis neun Uhr, einer geradezu sündhaft späten Stunde. Das hieß jedoch, daß sie eine neue Kellnerin brauchten, und da hatten sie großes Glück.

Ruths erste Sorge nach ihrer Ankunft war es gewesen, ihre Heiratsurkunde und alle anderen Beweise ihrer Verbindung zu Quinton Somerville, dem sie jetzt nur noch gefällig sein konnte, indem sie ihn verschwieg, zu verstecken. Das allerdings bereitete ihr gewisse Schwierigkeiten: zum einen hatte sie nie vorher Geheimnisse vor ihren Eltern gehabt; und zum andern fehlte es im Haus Belsize Close 27 an stillen Eckchen. Glücklicherweise hatte Ruth viele englische Abenteuergeschichten gelesen, in denen beherzte Jungen und Mädchen geheime Schätze unter losen Dielenbrettern der Häuser, in denen sie jeweils wohnten, versteckten. An die soliden Parkettböden ihrer Heimatstadt gewöhnt, hatte sie das sehr sonderbar gefunden, aber jetzt begriff sie, wieso es möglich war. Der Boden des mit einem durchgesessenen Mokettsofa, einem schweren Eichentisch und braunen Chenillevorhängen grauenvoll möblierten Wohnzimmers war mit Linoleum ausgelegt, und das anschließende Schlafzimmer ihrer Eltern kam natürlich als Versteck nicht in Frage. Aber das Hinterzimmer mit den zwei schmalen Betten, das Ruth mit Tante Hilda teilte, hatte einen Holzfußboden, auf dem nur ein schmutziger Flickenteppich lag. Nachdem sie den Waschtisch weggerückt hatte, gelang es ihr, eines der morschen Dielenbretter herauszuheben und einen Raum zu schaffen, in dem sie die mit einem Bild der Prinzessinnen Elisabeth und Margaret Rose geschmückte Keksdose, die ihre Papiere und den Ehering enthielt, verschwinden ließ. Den Ehering beabsichtigte sie zu verkaufen, aber noch nicht gleich.

Als nächstes mietete sie beim Postamt ein Schließfach, dessen Nummer sie Mr. Proudfoot mitteilte. Dann ging sie auf Arbeitssuche. Sie hatte zwar Quins Ermahnungen noch im Ohr und freute sich darauf, ihr Studium fortzusetzen, aber bis zum Beginn des Wintersemesters am University College waren es noch fast zwei Monate, und in dieser Zeit wollte sie nach besten Kräften zum Unterhalt ihrer Familie beitragen.

Es war nicht schwer, Arbeit als Kindermädchen zu finden. Keine Woche dauerte es, da marschierte Ruth täglich mit den drei progressiv erzogenen Kindern einer Weberin durch Hampstead. Unbeeindruckt von modernen Erziehungstheorien, konnte sie die blassen, verwirrten, in schmutzige Leinenkittel gekleideten kleinen Dinger nur bedauern, die verzweifelt etwas zu tun suchten, was ihnen endlich einmal verboten war. Als der mittlere der drei, ein sechsjähriger Junge, ohne zu fragen über eine verkehrsreiche Straße rannte, gab sie ihm einen kräftigen Klaps aufs Bein und löste damit augenblicklichen Aufruhr unter seinen Geschwistern aus.

«Mach das bei uns auch. Aber richtig», sagte der Älteste. «So daß man den Abdruck sehen kann. Wie bei Peter.»

Ruth tat ihnen den Gefallen, und bald wurden die täglichen Spaziergänge im Park viel lustiger, aber die Bezahlung war natürlich nicht sehr gut. Ruths Ankündigung, daß sie in Zukunft abends im Willow bedienen werde, brachte Leonies heiligmäßige Periode der Güte und der Langmut zu einem abrupten Ende.

Tagelang hatte sie sich nach Ruths Heimkehr an ihr Gelöbnis gehalten, nie wieder mit ihrer Tochter zu streiten, nie wieder ein böses Wort zu ihr zu sagen. Nur schon die Hand auszustrecken und über den Tisch hinweg Ruth berühren, sie in der Badewanne singen hören zu können, war ein Glück, das auch den kleinsten Streit mit Ruth verbot. Dies jedoch war zuviel.

«Du wirst nichts dergleichen tun!» schrie sie erregt. «Meine Tochter nimmt keine Trinkgelder und läßt sich nicht von lüsternen alten Männern in den Po kneifen.»

Aber Ruth gab nicht nach. «Wenn Paul Ziller sich sein Geld als Stehgeiger verdienen kann, kann ich auch bedienen. Und überhaupt – du brauchst zu reden! Wer bügelt denn dieser ekelhaften Alten von gegenüber jede Woche die ganze Wäsche?»

Leonie behauptete, das sei etwas ganz anderes, und suchte bei den Stammgästen des Willow Unterstützung, die sie jedoch nicht bekam.