Niemand im Café rührte sich. Dr. Levy bot keine ärztliche Hilfe an; von Hofmann, sonst der Kavalier in Person, ließ sein Taschentuch in der Hosentasche. Miss Maud und Miss Violet sahen einander nur stumm an, entsetzt über das, was sie angerichtet hatten.

Aber da stieß plötzlich Paul Ziller, der am Fenster saß, seinen Stuhl zurück.


«Ach, du meine Güte!» sagte Miss Maud, ein milder Ausdruck aus dem Mund einer Generalstochter angesichts des Schadens, der beträchtlich war. Die Kaffeekanne auf dem Tisch der Bergers war umgestürzt, der Kaffee auf das Tischtuch gelaufen, drei Porzellanteller waren zerbrochen ... Leonie Bergers Stuhl war, als sie aufgesprungen war, auf Dr. Levys Rührei gefallen, und der Pudel hatte es natürlich nicht geschafft, sich aus dem Chaos herauszuhalten. Unter wildem Gekläff hatte er den Garderobenständer attackiert, der prompt umstürzte, um Haaresbreite die Keramikkatze auf dem Fensterbrett verfehlte, nicht aber die Schale mit der duftenden Mischung von Blütenblättern und auch nicht die beiden hübschen weißblauen Aschenbecher, die die Damen aus Gloucestershire mitgebracht hatten.

Mitten in diesem Tohuwabohu stand Leonie und hielt ihre Tochter umschlungen. Nein, es war mehr als eine Umschlingung, es war eine Verschmelzung. Ihre Tränen vermischten sich mit denen Ruths; kein Mensch hätte die beiden voneinander trennen können. Selbst für ihren Mann mochte Leonie ihre Tochter nicht loslassen – konnte ihn nur mit flüchtig freier Hand näher ziehen. Sie hatte in ihrem Leben viele glückliche Momente erlebt, nie aber ein Glück von solcher Tiefe und Reinheit.

Onkel Mishak war der erste aus der Familie, der auf die Verwüstung aufmerksam wurde, der das Lokal anheimgefallen war: Da war Miss Violet dabei, die Tische zu säubern, Miss Maud sammelte Scherben vom Boden auf, Mrs. Burtt lag auf den Knien und wischte. Um das Maß des Chaos vollzumachen, war Tante Hilda, die aus ihrem Bett gesprungen war, um Ruth den Weg zum TeaRoom zu zeigen, auch noch über den Spüleimer gefallen.

«Ach, das tut mir aber schrecklich leid», sagte Leonie, als sie aus den Tiefen ihres Glücks emportauchte, und bemühte sich ehrlich, Bedauern zu empfinden und den Schaden auszurechnen.

Jetzt hatte endlich Mrs. Weiss ihren großen Augenblick. Ihr runzliges Gesicht zeigte einen Ausdruck ungewohnter Würde, und ihre Stimme war fest und entschieden.

«Das bezahle ich», verkündete sie. «Ich bezahle den gesamten Schaden.»

Die Damen Harper nahmen ihr Angebot an; alle begriffen, daß die alte Frau an dem, was hier geschah, Anteil haben mußte. Pfundnoten und Münzen ergossen sich aus der scheußlichen Börse, die aus dem Haar ostpreußischer Pferde gemacht war. Sie bezahlte nicht für eine Kaffeekanne, sondern für zwei; nicht für drei Kuchenteller, sondern für sechs. Zum erstenmal seit Mrs. Weiss' Ankunft in England war die sonst stets prall gefüllte Börse leer und ließ sich ohne Schwierigkeiten schließen. Es war Mrs. Weiss' größte Stunde, und niemand im Tea-Room Willow neidete sie ihr.


«So!» sagte Leonie vielleicht zwanzig Minuten später. «Jetzt erzähl! Wie bist du hergekommen?»

Die Tische waren gesäubert und neu gedeckt, und die Damen Harper hatten frischen Kaffee serviert. Jetzt endlich hatte Leonie sich genügend beruhigt, daß sie zuhören konnte. Sie mußte dabei allerdings so sitzen, daß ihre Schulter mit der Ruths in Berührung war.

Ruth hatte ihre Geschichte auswendig gelernt. Während sie jetzt zwischen ihren Eltern saß und Mishak und die Freunde aus Wien strahlend anlächelte, sagte sie: «Ein Engländer hat mich herausgebracht, ein Mann, der Leuten hilft, die flüchten wollen.»

«Wie in Die scharlachrote Blume?» fragte Paul Ziller beeindruckt.

«So ähnlich, ja. Aber ich darf nie wieder mit ihm Kontakt aufnehmen. Keiner von uns darf mit ihm in Verbindung treten. Das war die Bedingung für seine Hilfe.»

«Es war doch nichts Ungesetzliches im Spiel?» fragte ihr Vater trotz aller glücklichen Erleichterung streng. «Keine gefälschten Papiere oder Ähnliches?»

«Nein, nein. Es war alles ganz legal, das schwöre ich. Bei Mozarts Kopf», sagte Ruth, und ihr Vater war beruhigt, da er wußte, welchen Rang der Komponist im Leben seiner Tochter einnahm.

Leonie jedoch war gar nicht beruhigt. «Aber das ist doch unmöglich! Wie sollen wir ihm denn danken?» rief sie erregt. Unzähliges – vom selbstgebackenen Kuchen bis zu ekstatischen Dankschreiben – fiel ihr ein, was sie diesem Mann hätte zum Dank tun können. Sie wäre am liebsten hinausgelaufen, um diesem unbekannten Wohltäter die Füße zu küssen.

«Es geht nicht anders, Mutter», erklärte Ruth. «Sonst bringen wir womöglich andere Leute in Gefahr, die er retten könnte. Ich muß mich an die Vereinbarung halten.» Erst jetzt wagte es Ruth, die sich in den ersten Momenten des Wiedersehens ganz ihren Eltern hatte widmen wollen, die Frage zu stellen, die sie die ganze Zeit bedrängt hatte. «Was ist mit Heini?» fragte sie.

Unwillkürlich hatte sie in der jahrhundertealten Geste furchtsamer Beunruhigung die Hände auf ihr Herz gedrückt. Als sie ihren Vater lächeln sah, atmete sie auf.

«Es ist alles in Ordnung, Kind», sagte Kurt Berger. «Er ist noch in Budapest, aber wir haben einen Brief von ihm. Er kommt bald.»


Es war sehr still im Willow, nachdem die Bergers gegangen waren. Einer nach dem anderen standen die Gäste auf und gingen, doch die drei Männer, die die Familie aus Wien kannten, blieben noch eine Weile sitzen.

«Persephone ist also zurückgekehrt», sagte der Schauspieler.

Dr. Levy nickte, aber sein Gesicht war traurig, und die beiden anderen tauschten einen Blick. Dr. Levy hatte eine Persephone eigener Art: ein flachsblondes, blauäugiges, dummes junges Ding, das er trotz allem liebte. Hennie hatte dem prominenten Spezialisten, den sie als Lernschwester angehimmelt hatte, mit Freuden ihr Jawort gegeben; nun aber schien sie es gar nicht eilig zu haben, das Exil mit ihm zu teilen.

«Wollen wir nicht zur Feier des Tages etwas unternehmen?» meinte Ziller, dem es nicht gut erschien, Dr. Levy jetzt einsam und allein zurückzulassen.

«Wir können ja mal sehen, was läuft», schlug von Hofmann vor.

Es lief, wie sie feststellten, als sie den Platz überquert und den Weg den Hügel hinauf zum Odeon genommen hatten, ein Film mit Fred Astaire und Ginger Rogers – und ohne weitere Beratung traten die drei distinguierten Herren, obwohl keiner von ihnen es sich leisten konnte, in den Kinosaal – und ins Paradies – ein.

Während drüben in der Küche des Willow Miss Maud und Miss Violet ihre Bewertungen abgaben.

«Ein sehr wohlerzogenes junges Mädchen», sagte Miss Maud. «Sie hätte Vater gefallen», sagte Miss Violet.

Höheres Lob gab es nicht, doch das letzte Wort hatte, wie so oft, Mrs. Burtt.

«Und zum Anbeißen hübsch.»

10

Wenn Quin nicht in Bowmont oder auf Reisen war, lebte er in London in einer Wohnung am Chelsea Embankment. Sie befand sich in der ersten Etage eines Queen-Anne-Hauses und hatte einen schmiedeeisernen Balkon, der über die Zweige eines Maulbeerbaums hinweg zur Themse hinausblickte. An den Wänden des Wohnzimmers standen überquellende Bücherregale, über dem offenen Kamin hing ein Aquarell von Constable, Perserteppiche lagen auf dem Parkett. Aber niemand, der Quin besuchte, schenkte je der Einrichtung mehr als flüchtige Beachtung; jeder, ohne Ausnahme, ging schnurstracks zur Balkontür und blieb dort stehen, um den weiten Blick auf das Flußpanorama zu bewundern.

«Du lebst immer irgendwo am Wasser, nicht wahr, Darling?» hatte eine Frau einmal zu Quin gesagt. «Dr. Freud läßt grüßen, meinst du nicht?»

Quin meinte nicht. Er lebte am Embankment, weil er Chelsea mochte; die kleinen Läden in den Straßen, die sich vom Fluß heraufzogen – Lebensmittelhändler, Schuster und Rahmenmacher; die Pubs, in denen auch heute noch die Themseschiffer ihr Bier tranken. Und wenn er auch nicht mit einem Boot zu seinen Vorlesungen und Seminaren an der Thameside-Universität fuhr, so freute ihn doch die Vorstellung, daß er es hätte tun können.

Bedient und versorgt wurde Quin in seiner Stadtwohnung von Lockwood, der früher Butler in Bowmont gewesen war. Dieser Posten als Quins Faktotum war eigentlich unter Lockwoods Würde, aber er fühlte sich für Quin schon seit jenem Tag verantwortlich, als der Achtjährige seine ersten Funde vom Strand heraufgeschleppt und die Einrichtung des «Somerville-Museums für Naturgeschichte» in den Stallungen von Bowmont befohlen hatte. Nicht daß er seinem Schützling und Arbeitgeber deswegen besondere Liebenswürdigkeit gezeigt hätte. Er war ein großer, hagerer Mann mit dem Schädel eines Neandertalers und schlammbraunen Augen, und es gab genug Leute, die behaupteten, Quin sei nur deshalb noch immer nicht unter der Haube, weil Lockwood alle Mrs. Somervilles in spe zerstückelt und die Einzelteile in die Themse geworfen habe.

Quin kam mitten am Nachmittag nach Hause, nachdem er Ruth in Belsize Park abgesetzt hatte. Obwohl er mehr als fünf Monate weg gewesen war, begrüßte Lockwood ihn mit nüchterner Gemessenheit.

«Ich habe Sie in der Wochenschau gesehen», bemerkte er und trug Quins Koffer ins Schlafzimmer.

Die Möbel glänzten wohlgepflegt, die Post war in ordentlichen Häufchen gestapelt, in den Vasen standen frische Blumen, und als Quin es sich bequem gemacht hatte, kam Lockwood mit dem Teetablett und einer Platte warmer Brötchen.

«Essen Sie heute abend zu Hause?» Mit seinem Abschied aus Bowmont hatte Lockwood auch die stets korrekte, stets servile Haltung des besseren Hausangestellten abgelegt und behandelte Quin jetzt eher wie einen unberechenbaren, aber begabten Neffen.