Dieser gesunde Egoismus eines sorglosen Kindes, das die Welt als aufregendes Abenteuer sah, bewegte ihn tief. Ruths Freude über sein Kommen hatte mit Mitleid nichts zu tun; sie wollte ihn für ihre eigenen Zwecke dahaben. Mishak hatte sich umstimmen lassen und war in die Rauhensteingasse gezogen. Sie hatten sich zusammen die Lamas angesehen und vieles mehr ...
Hier jetzt, auf einer Bank in Kensington Gardens, wo er den Kindern beim Spielen zusah, wurde sich dieser stille alte Mann, der um jeden Maulwurfshügel herumging, um nicht etwa einen der kleinen Bewohner zu treten, bewußt, daß er bedenkenlos jeden töten würde, der seiner Nichte etwas zuleide tat.
Kurt Berger sprach kaum über seine vermißte Tochter. Er ging jeden Morgen zum Bloomsbury House, er arbeitete jeden Nachmittag in der Bibliothek, aber niemand hätte ihn jetzt mehr für einen Mann von 58 Jahren gehalten. Eines Morgens schließlich nahm er einen Bus zur Halrey Street, wo sein Bürge, Dr. Friedlander, seine Praxis hatte.
«Ich gehe nach Wien zurück», sagte er. «Ich muß Ruth finden. Aber du mußt mir das Reisegeld leihen.»
Keiner wußte, was es ihn kostete, um Geld zu bitten. Seit ihrer Ankunft in England hatten die Bergers trotz häufiger Hilfsangebote keinen Penny von ihrem Bürgen angenommen.
«Das Geld kannst du jederzeit haben», sagte Friedlander. «Ich leihe es dir oder ich schenke es dir, ganz wie du willst. Die armen Engländer sind so froh und dankbar, wenn man ihnen nicht gleich sämtliche Zähne zieht, sobald sie sich hier auf den Stuhl setzen, daß ich mich über Patientenmangel nicht beklagen kann. Aber du bist verrückt, Kurt. Die werden dich nicht wieder hinauslassen, und was soll dann aus Leonie werden? Glaubst du denn, Ruth wäre mit dem, was du vorhast, einverstanden?»
«Ich kann es nicht ändern. Ich kann einfach nicht länger untätig hier herumsitzen und warten», entgegnete Berger.
«Hast du Leonie schon gesagt, daß du zurück willst?»
«Nein. Am Donnerstag kommt ein großer Studententransport. Den will ich noch abwarten ...»
Leonie bemühte sich derweilen weiterhin um Güte und Langmut. Sie bot der Psychoanalytikerin aus Breslau, einer finsteren, dunkelhaarigen Person, an, ihr beim Kochen zu helfen, weil sie hoffte, so die Geruchsentwicklung der angefaulten Gemüse, von denen Fräulein Lutzenholler sich ernährte, in annehmbaren Grenzen halten zu können. Sie holte bei Paul Ziller, der drei Häuser weiter wohnte, seine Hemden ab, um sie ihm zu waschen und zu bügeln. Sie besuchte Emigranten in den weiter außerhalb liegenden Vororten. Aber am Ende der zweiten Woche erhob ihr Körper ersten Protest. Sie bekam Schwindelanfälle; sie wurde so dünn, daß ihr der Rock über die Hüften zu rutschen drohte. Und – was weit erschreckender war – es fiel ihr immer schwerer, gut zu sein. Soundsooft hatte sie gute Lust, den Leuten eins überzuziehen, und Miss Bates hätte sie am liebsten mit ihrer ewig tropfenden Unterwäsche erdrosselt. Doch wenn sie es nicht mehr schaffen sollte, gut zu sein, würde die fragile Verbindung zu einer gütigen Vorsehung reißen, und ihre Tochter würde in den Abgrund stürzen.
Mrs. Burtt, die in der Spülküche des Tea-Rooms Willow Geschirr trocknete, war schlechter Laune. Sie hatte für Juden, Zigeuner und Zeugen Jehovas an und für sich nicht viel übrig, und Kommunisten waren in ihren Augen sowieso nichts wert. Aber die Zeitungen hatten an diesem Morgen von noch mehr Gemeinheit und Scheußlichkeit als sonst zu berichten gewußt – daß man in Berlin und Wien die Menschen wie Vieh zusammentrieb; daß altgediente Professoren die Straßen mit Zahnbürsten schrubben mußten –, und obwohl sie keine Ahnung hatte, wo der Polnische Korridor war, und sich nicht sonderlich für das Schicksal der Menschen im Sudetenland interessierte, schien ihr, daß man nun doch etwas gegen diesen Hitler würde unternehmen müssen. Ein schrecklicher Gedanke, weil zu denen, die an einem solchen Unternehmen mitwirken würden, ihr neunzehnjähriger Sohn Trevor gehörte, der erst heute morgen erklärt hatte, er wolle am liebsten zur Air Force.
Auch die Gäste waren niedergeschlagen. Sie brauchte gar nicht nach vorn zu gehen, um das zu spüren. Sie unterhielten sich nicht wie sonst, sondern blätterten statt dessen stumm in den Zeitschriften, die Miss Maud und Miss Violet seit neuestem im Café auslegten.
Nun, vielleicht würden sie sich über den Guglhupf freuen, den Miss Maud gestern abend gebacken hatte. Er war wirklich eine Pracht geworden. Sobald Mrs. Berger kam, wollte Miss Violet ihn auftischen. Mrs. Berger sollte ihn anschneiden und das erste Stück probieren; das war das mindeste, was man für die arme Frau, die sich so um ihre Tochter sorgte, tun konnte.
Aber Mrs. Berger hatte sich an diesem Morgen verspätet.
Mrs. Burtt hatte recht. Es lag eine neue Hoffnungslosigkeit in der Luft. Alle wußten, daß Ruth auch mit dem neusten Studententransport nicht gekommen war und Professor Berger vorhatte, nach Wien zurückzukehren. Jetzt stand ihnen das gefürchtete lange Wochenende bevor, jene zwei Tage, in denen all die Organisationen und Einrichtungen, die ihnen helfen konnten, geschlossen waren, in denen selbst die Türen der Bibliotheken und Cafés, in denen sie während der Woche Zuflucht fanden, ihnen verschlossen blieben.
Paul Ziller, der vergeblich versuchte, sich in einen Artikel über das Schmieren von Feldgeschützen zu vertiefen, hatte wieder einmal von seinem zweiten Geiger geträumt, dem rundlichen, kraushaarigen Karl Biberstein, dessen fürchterliche Witze dem Quartett ständiger Anlaß zu stöhnendem Protest gewesen waren, der immerfort und immer erfolglos irgendeiner langbeinigen Blondine nachgestiegen war – und der nur seine Amati unters Kinn zu schieben brauchte, um zum Gott zu werden. Ziller trauerte seinem Cellisten nach, der jetzt bei einer Tanzkapelle in New York spielte; er trauerte seinem Bratschisten nach, der, rein arischer Abstammung, in Wien geblieben war; die Trauer um Biberstein jedoch war ganz anderer Art, denn Biberstein war tot. Als er die SS-Männer auf der Treppe zu seiner Wohnung im vierten Stockwerk gehört hatte, hatte er den Passanten unten auf der Straße zugerufen, sie sollten den Bürgersteig freimachen, und war gesprungen.
Dr. Levy spielte mit dem blonden Schauspieler vom Burgtheater Schach, doch es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren; er wußte jetzt mit Gewißheit, daß er seine medizinischen Prüfungen nicht noch einmal ablegen würde. Mit 42 war er zu alt, um noch einmal von vorn anzufangen – und selbst wenn er die Examen bestehen sollte, würde man zweifellos irgendeine andere Vorschrift finden, um ihn an der Ausübung seines Berufs zu hindern. Er konnte es den Ärzten hier nicht einmal zum Vorwurf machen. In Wien waren die Ärzte genauso repressiv gewesen, wenn es darum gegangen war, Emigranten aus dem Osten zuzulassen.
«Ich nehme Ihnen Ihren Springer», sagte er zu von Hofmann, der bisher weder «Schweinehund», noch sonst etwas in einem Film über den Weltkrieg hatte sagen dürfen. Die Schauspielergewerkschaft hatte ihr Veto eingelegt, und da es ganz danach aussah, als stünde ein neuer Krieg bevor, wollte sowieso kein Mensch Soldatenfilme sehen. Die Leute wollten Fred Astaire und Rita Hayworth und Deanna Durbin sehen; Ozeandampfer und schicke Wohnungen in Manhattan, die ganz in Weiß ausstaffiert waren – und wer sagte in so einer Umgebung schon «Schweinehund»?
Die Dame mit dem Pudel trat ein, und Mrs. Weiss mit ihrer dicken Börse aus Roßhaar war enttäuscht. Sie hatte gehofft, es käme jemand, den sie zu einem Stück Kuchen einladen und über ihre Schwiegertochter aufklären könnte, die sie heute morgen gezwungen hatte, ihr Schlafzimmerfenster zu öffnen, angeblich, weil das Zimmer dringend gelüftet werden müßte. Nie hatte Mrs. Weiss feuchte Luft in ein Zimmer gelassen, in dem sie schlief, das hatte sie Moira klipp und klar gesagt, und Georg (der jetzt George hieß), der die Partei seiner Mutter hätte ergreifen müssen, hatte sich klammheimlich davongemacht und war ins Büro gefahren.
An dem Tisch beim Garderobenständer saßen der Hamburger Bankier und seine Frau, schweigend, jeder in eine Zeitschrift vertieft. In Deutschland hatten sie gemeinsam mit Lisas Liebhaber eine glänzend funktionierende ménage à trois gebildet, aber der Liebhaber, ein Autohändler mit rein arischem Stammbaum, war in Deutschland geblieben, und so sehr der Bankier sich bemühte, ihn zu ersetzen, er wußte, daß sein Bemühen zum Scheitern verurteilt war. Die Wände ihres kleinen Zimmers waren dünn, das Bett war schmal – und hinterher seufzte sie jedesmal.
Da kam endlich Leonie Berger, und die Traurigkeit, die in ihnen allen war, richtete sich auf einen Brennpunkt. Es war gar nicht nötig zu fragen, ob es Neues gäbe. Diese Frau war eine Demeter, die alle Hoffnung, ihre Tochter aus der Unterwelt zu retten, aufgegeben hatte. Ruth war verloren wie Persephone, und in die Straßen Nord-West-Londons war der Winter eingefallen.
Begleitet von ihrem Mann und ihrem Onkel, ging Leonie zu ihrem Tisch und setzte sich. Niemand im Raum wagte heute mehr als ein Nicken zur Begrüßung. Selbst ein Lächeln schien aufdringlich.
In der Küche holte Miss Violet das Kuchenmesser, Miss Maud schnitt den jungfräulichen Guglhupf an, Mrs. Burtt holte einen Teller – und die Prozession setzte sich in Marsch.
«Mit den besten Empfehlungen der Geschäftsleitung», sagte Miss Maud und stellte den Teller vor Leonie auf den Tisch.
Leonie sah den Kuchen und verstand. Sie verstand das Opfer an Prinzipien, die Ehre, die man ihr zuteil werden ließ. Sie holte einmal tief Atem, wie eine Schwimmerin, bevor sie untertaucht. Ihr Gesicht verzog sich, ihre Schultern fielen schlaff herab – und sie brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. Es war wie der Inbegriff alles Weinens, ein Ausbruch von Schmerz und Tränen, der, einmal erfolgt, nicht mehr zu stoppen war. Ihr Mann nahm ihre Hand, doch zum erstenmal in ihrem gemeinsamen Leben stieß sie ihn von sich. Sie wollte ihre Tränen loswerden und sterben.
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