«Ich denke gar nichts», erklärte er, doch ihr abrupter Rückzug hatte ihn verärgert. Glaubte sie im Ernst, er würde die Situation ausnutzen und sich an ihr vergreifen? «Sie sollten jetzt wieder zu Bett gehen», sagte er abrupt, und sie sah in seinem strengen Gesicht die Bestätigung ihrer Befürchtungen. Ohne ein weiteres Wort huschte sie ins Abteil zurück und schloß die Tür.
Als sie am Morgen erwachte, lag er voll bekleidet auf dem Nachbarbett, die Arme hinter dem Kopf, die Augen geöffnet, den Blick auf das Fenster gerichtet, und betrachtete den Sonnenaufgang.
Zwei Stunden später waren sie in Calais. Möwen kreisten über ihnen, Dienstleute schrien an den Piers, die langen Arme großer Kräne schwangen über ihren Köpfen hin und her. Es war eine frische weiße Welt nach dem stickigen Luxus des Zugs.
«Langsam glaube ich wirklich, daß wir ankommen werden», sagte Ruth.
«Natürlich werden wir ankommen.»
Sie gingen an Bord. Selbst für die kurze Überfahrt über den Kanal hatte er eine Kabine reserviert. «Sie werden einen zweiten Pullover brauchen», sagte er und hob ihren Koffer auf den Ständer. «An Deck ist es kalt und windig, und Sie müssen doch die Kreidefelsen von Dover begrüßen.»
Sie nickte und klappte den Koffer auf. Obenauf, sorgsam verpackt, lag eine gerahmte Fotografie, die sie von zu Hause mitgenommen, im Museum bei sich gehabt, für die geplante Flucht über die Kanderspitze und durch die Arve in ihren Rucksack gepackt hatte. Jetzt nahm sie sie absichtlich aus ihrer Umhüllung und reichte sie Quin. Dies war eine gute Gelegenheit, ihn wissen zu lassen, daß sie fest an einen anderen gebunden war; ihm zu zeigen, daß sie sich nie wieder so vergessen würde wie in der vergangenen Nacht.
«Das ist Heini.»
Die Aufnahme war am Tag seiner Abschlußprüfung am Konservatorium gemacht worden. Heini, mit dunklen Locken und hellen, langbewimperten Augen, stand an einem Bösendorfer-Flügel. Er lächelte. Quer über die rechte untere Ecke des Bildes hatte er in spitzer deutscher Schrift geschrieben: «Meinem kleinen Star mit aller Liebe, Heini.»
«Und wieso nennt er Sie seinen kleinen Star?» erkundigte sich Quin.
Ruth erklärte. «Mozart hatte einen Star. Er hatte ihn für vierunddreißig Kreuzer auf dem Markt gekauft und hielt ihn in einem Käfig in seinem Zimmer. Der Gesang des Vogels hat ihn nie gestört ...» Sie erzählte die Geschichte mit leuchtenden Augen, in Gedanken bei jenem ersten Tag, an dem Heini sie zu seinem Star erkoren hatte.
Quin hörte höflich zu. «Und was ist aus dem Star geworden?» fragte er, als sie zum Ende gekommen war.
«Er ist gestorben.»
«Kein Wunder», meinte Quin.
«Wieso?»
«Nun, Stare sind nun einmal keine Käfigvögel. Aber vielleicht wußte Mozart das nicht.»
«Mozart wußte alles», gab sie mit blitzenden Augen zurück.
Quin lächelte nur und ließ sie allein. Sie zog sich einen zweiten Pullover über und machte sich auf den Weg zum Deck. Als sie aus dem Salon erster Klasse trat, bemerkte sie zwei in Pelze gehüllte Damen, die es sich auf Deck in Liegestühlen bequem gemacht hatten.
«War das nicht Quinton Somerville?» fragte die eine.
«Ich bin ziemlich sicher, daß er es war. Dieses markante Gesicht – unverkennbar. Ein gutaussehender Mann. Ich habe ihn schon auf dem Bahnsteig gesehen. In Begleitung eines jungen Mädchens – so ein unbedarftes junges Ding im Lodenmantel.»
«Ach, du lieber Gott! Sollte das etwas Ernstes sein?»
«Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie war gar nicht sein Stil. Viel zu schlicht.»
Ein Steward kam vorbei, und die beiden Damen verlangten Wolldecken.
«Wenn es tatsächlich etwas Ernstes sein sollte, wird das die arme Lavinia völlig niederschmettern. Sie hofft immer noch, ihn für Fenella zu angeln.»
«Das kann ich verstehen. Bei dem vielen Geld und Ruth wich zurück und ging durch eine andere Tür hinaus. Quin stand vorn am Bug und starrte ins Wasser. Ich habe natürlich gewußt, daß er reich ist, dachte sie. Und daß die Welt voller Fenellas ist, die ihn heiraten wollen, kann ich mir gut vorstellen. Meinen Segen haben sie – ein Mann, der über Mozart spottet und vor Strauß davonläuft, kann mir gestohlen bleiben.
«Nach der Landung werden wir uns wohl nicht wiedersehen», sagte sie entschlossen.
«Ich möchte Sie gern noch nach Belsize Park bringen, damit ich sicher sein kann, daß Sie wohlbehalten hei Ihrer Familie ankommen. Aber danach – da haben Sie recht – wird es das beste sein, wenn sich unsere Wege trennen. Sollten Sie irgend etwas brauchen, wenden Sie sich einfach an meinen Anwalt – nicht nur wegen der Scheidung, sondern auch, wenn Sie sonst Hilfe brauchen. Er ist ein alter Freund von mir.»
Natürlich, dachte sie. Von jetzt an läuft alles über den Anwalt.
«Ich schulde Ihnen so viel», sagte sie. «Nicht nur, daß Sie mich herausgeholt haben. Ich schulde Ihnen auch Geld. Eine Menge Geld. Ich muß es Ihnen so schnell wie möglich zurückzahlen.»
«Ja, tun Sie das», sagte er, und sie sah ihn erstaunt an. Seine Stimme klang schroff und kühl, und das hatte sie nicht erwartet. Die ganze Zeit war er doch so zugewandt gewesen, so generös. «Sie wissen wohl, was das heißt?»
«Daß ich mir Arbeit suchen muß und ...»
«Genau das heißt es nicht. Das wäre das Dümmste, was Sie jetzt tun könnten – sich irgendeine mindere Arbeit zu suchen, nur um schnell Geld zu verdienen. Ich kann mir Sie als Verkäuferin oder Kellnerin richtig vorstellen. Das einzig Vernünftige für Sie ist es, unverzüglich Ihr Studium fortzusetzen. Wenn das University College Ihnen einen Studienplatz angeboten hat, sollten Sie zupacken. Eine bessere Chance werden Sie nicht bekommen. Es gibt ja mittlerweile alle möglichen Stipendien für Leute in Ihrer Lage; die Welt merkt langsam, was in Deutschland und seinen Nachbarländern vorgeht. Wenn Sie dann Ihren Abschluß haben, können Sie sich eine anständige Stellung suchen und mir nach und nach das Geld zurückzahlen.»
Sie schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen, aber ihm fiel auf, daß sie nichts versprach. In der Befürchtung, daß sie sich wieder irgendwelche Verrücktheiten einfallen lassen würde, runzelte er die Stirn – und Ruth, die das Stirnrunzeln sah, fiel noch etwas ein, das sie von ihm bekommen hatte.
«Was ist mit dem Ring?» fragte sie. «Was soll ich mit ihm tun?»
«Was Sie wollen», antwortete er gleichgültig. «Sie können ihn verkaufen oder versetzen oder behalten.»
Sie sah auf ihre Hand hinunter. «Auf jeden Fall ist es besser, ich ziehe ihn aus, ehe meine Eltern Fragen stellen. Oder Heini, falls er schon da ist.»
Sie zog an dem Ring, drehte ihn, zog wieder. «Er sitzt fest», sagte sie verblüfft.
«Unmöglich», meinte er. «Er hat sich so leicht aufstecken lassen.»
«Aber er sitzt trotzdem fest», versetzte sie, plötzlich zornig. «Vielleicht haben Sie warme Hände.»
«Unsinn! Es ist eiskalt hier draußen.» Es stimmte. Sie hatten den Hafen hinter sich gelassen, und der Wind war bitterkalt.
Er legte leicht eine Hand auf die ihre. «Nein, sie sind wirklich kühl. Hm, versuchen Sie es einmal mit Seife.»
Ohne Antwort drehte sie sich um und lief mit wehenden Haaren davon. Sie blieb ziemlich lange weg, und als sie zurückkam und ihre Hand wieder auf die Reling legte, sah er erstaunt ihren Ringfinger. Er war nicht nur gerötet, er sah geschunden aus, wie durch die Mangel gedreht.
«Du lieber Gott», sagte er. «War es so schlimm?»
Sie nickte, immer noch sichtlich erregt. Er spürte, daß sie sich in ihre alttestamentarische Welt der Omen und Verwünschungen zurückgezogen hatte, und ließ sie in Ruhe.
Erst als England vor ihnen auftauchte, sagte er: «Schauen Sie! Da sind sie!»
Und da waren sie in der Tat: die weißen Felsen von Dover, vielbesungenes Symbol der Freiheit. Weit weniger eindrucksvoll, als der Ausländer erwartet; nicht sehr hoch und nicht sehr weiß, und dennoch war Quin, der sich oft genug über diese Felsformation der Kreidezeit, die sich durch nichts auszeichnete, lustig gemacht hatte, in diesem Moment wirklich ergriffen. Nach den Schrecknissen, die er auf dem Kontinent zurückgelassen hatte, war er so froh und dankbar, wieder zu Hause zu sein, wie er sich das niemals vorgestellt hatte.
9
Die Bergers waren gerade zwei Wochen in England, als Hilda ihre Stellung verlor. Sie war auf eine Trittleiter gestiegen, um die Nippessachen auf Mrs. Manfreds Bücherschrank abzustauben, und da war der Bücherschrank umgekippt und hatte sie unter sich begraben. Es war der einzige im Haus, da Mrs. Manfred vom Lesen nicht viel hielt, aber er hatte Glastüren, und ein Splitter hatte den Hund getroffen.
Keinen wunderte es, und keiner machte Mrs. Manfred einen Vorwurf, aber Hilda nahm die Sache schwer und blieb im Bett. Mit Zinkpflaster bedeckt, schrieb sie Briefe an die Verwaltungsbehörde von Betschuanaland und erkundigte sich nach den Mi-Mi, aber sie schickte die Briefe nicht ab, weil sie kein Geld für Briefmarken hatte, und Leonie aussah, als würde sie umfallen, wenn man auch nur die kleinste Kleinigkeit von ihr verlangte.
Onkel Mishak machte es sich, als die Tage vergingen und Ruth nicht kam, zur Gewohnheit, bei Tagesanbruch aufzustehen und durch die Stadt zu wandern. Im bedächtigen Schritt des Landmanns legte er weite Strecken zurück, und er wußte, daß es leichtsinnig war, denn in ein, zwei Monaten würden die Sohlen seiner Schuhe durchgelaufen sein; aber er mußte einfach ins Freie hinaus.
Er fürchtete um Ruth. Undenkbares konnte ihr in dieser Schrekkenswelt widerfahren, zu der seine Heimat geworden war. Mishak hatte eigentlich nicht in die Rauhensteingasse ziehen wollen, als Marianne gestorben war. Er hatte in dem Haus bleiben wollen, das er seiner Frau an den Hängen des Wienerwalds gebaut hatte. Er war nur in die Rauhensteingasse gekommen, um Leonie für ihr freundliches Angebot zu danken und abzulehnen. Aber Leonie war nicht zu Hause gewesen. Die sechsjährige, gerade frisch gebadete Ruth hatte ihn empfangen, ihm die Arme um den Hals geschlungen und gerufen: «Ich freue mich ja so, daß du zu uns ziehst! Wirst du mit mir in den Prater gehen? Ich meine, in den Wurstelprater, nicht den andern, wo die gesunde frische Luft ist. Und fahren wir auch nach Schönbrunn und schauen uns die Lamas an? Inge hat gesagt, sie spucken und machen einen ganz naß. Und wenn wir auf den Kahlenberg fahren, dann erlaubst du mir doch, daß ich mich aus dem Fenster lehne, und hältst mich nicht an den Beinen fest?»
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