Quin lächelte. «Ich denke, das ist etwas ausgesprochen Britisches», antwortete er. «Uns scheint es im großen und ganzen zu liegen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß es Ihnen gefallen würde.»

«Nein, ich auch nicht», meinte sie nachdenklich.

Als das Dessert gebracht wurde – Zitronensoufflé mit einem Glas Tokaier, frisches Obst, Schokoladetrüffel und danach türkischer Kaffee –, rief sie impulsiv: «Das ist ja wirklich paradiesisch. Ich glaube, wenn ich reich wäre, würde ich mein Leben lang mit der Eisenbahn durch die Weltgeschichte reisen und niemals ankommen. Niemals ankommen, immer nur fahren, fahren.»

«Davon träumen viele Menschen», bemerkte Quin. Er knackte ihr eine Walnuß und legte sie ihr auf den Teller. «Ankommen heißt ja leben, und leben ist Schwerstarbeit.»

«Für Sie auch?»

«Für jeden.»

Ruth sah ihn an und fragte sich, was für einen Mann denn schwierig sein konnte, der so wohlhabend, so erfolgreich und dazu Bürger eines freien und mächtigen Landes war. «Es ist merkwürdig, schon vor dem Horror – vor den Nazis, meine ich, haben alle möglichen Leute zu mir gesagt: Ach, du bist jung und gesund, du hast bestimmt keine Probleme. Aber manchmal hatte ich doch welche. Jetzt, wo es um Leben und Tod geht, erscheinen sie mir natürlich lächerlich. Aber wissen Sie ... mit Heini ... ich liebe ihn wirklich von ganzem Herzen und möchte nur für ihn da sein, aber manchmal ist mir das trotzdem furchtbar schwergefallen.»

«Inwiefern denn?»

«Na ja, Heini ist Musiker. Er muß fast den ganzen Tag am Klavier sitzen und üben und möchte mich ständig um sich haben. Aber ich bin so gern draußen im Freien – das geht wahrscheinlich jedem so –, und im Freien kann man eben nicht Klavier spielen – höchstens wenn man bei der Frauenkapelle vom Prater ist», fügte sie mit einem anklagenden Blick zu Quin hinzu. Der lachte ganz ohne Zerknirschung. «Jedenfalls bin ich manchmal richtig böse geworden, wenn ich stundenlang im Zimmer sitzen mußte, immer bei fest geschlossenen Fenstern, weil Klaviere keine Zugluft vertragen. Jetzt, wo mir klar wird, wie schön ich es damals hatte, erscheint es mir schrecklich kleinlich und undankbar. Glauben Sie, daß wir wieder genauso kleinlich und undankbar werden, wenn die Welt wieder normal werden sollte?»

«Wenn es kleinlich und undankbar ist, gern im Freien zu sein, dann sicher ja», meinte Quin.

Aber nun ließ es sich nicht länger aufschieben. Die meisten Gäste gingen. Die Kellner begleiteten ihren Aufbruch mit höflichen Verbeugungen und strichen ihr Trinkgeld ein. Ruth hatte jetzt der Tatsache ins Gesicht zu sehen, daß sie sich mit Quinton Somerville auf Hochzeitsreise befand und nun zu Bett gehen mußte.

«Ich bleibe noch ein Weilchen in der Bar und rauche eine Pfeife», sagte Quin.

Sie stand auf und ging durch die dämmrig beleuchteten, stillen Korridore der Schlafwagen zu Abteil Nummer 23. Es hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den mit zwei Stockbetten und einer schmalen Leiter ausgestatteten Schlafzellen, die sie von früheren Reisen kannte. Kein Darandenken, einfach ins obere Bett hinaufzuklettern und bis zum Morgen unsichtbar zu bleiben. Hier gab es zwei richtige Betten, die lediglich durch einen schmalen, mit Teppich bespannten Gang voneinander getrennt waren. Wäre sie eine echte Hochzeitsreisende gewesen, sie hätte ihrem frisch angetrauten Ehemann die ganze Nacht die Hand halten können.

Der Steward hatte schon alles für die Nacht vorbereitet. Quins Pyjama und ihr züchtiges Jungmädchennachthemd aus vernünftiger Baumwolle lagen adrett drapiert auf weißen Kopfkissen mit Monogramm. Auf dem Bord über dem Waschbecken warteten Quins Rasierapparat und Rasierpinsel in trauter Gemeinschaft mit ihrer Zahnbürste. Die Lampen mit den rosafarbenen Schirmen warfen ein sanftes Licht auf die dunkle Täfelung; in Kristallkaraffen funkelte frisches Wasser; in einer Schale aus getriebenem Silber glühten dunkel blaue Trauben.

Sie kleidete sich aus, schlüpfte in das Nachthemd, das sie für ihre große Tour auf die Kanderspitze eingepackt hatte, und stellte sich einen wonnigen Moment lang vor, sie trüge fließende nilgrüne Seide. Keiner hätte sie darin zu sehen bekommen, denn sie hätte ja die Bettdecke bis zum Hals hochgezogen, aber sie hätte gewußt, daß sie sie trug.

Im Bett schaltete sie zunächst das Licht aus, um Quin die Möglichkeit zu geben, ungesehen hereinzuschlüpfen; schaltete es wieder an, weil sie fürchtete, er könnte sich im Dunklen stoßen; und stellte fest, daß es in diesem märchenhaften Zug eine dritte Möglichkeit gab, einen Dimmer, der es erlaubte, die Beleuchtung so zu dämpfen, daß sich der Schein der rosafarbenen Lampen zu einem zarten Schimmer wie unter Rosenblättern abschwächte.

Wenn Quin kam, würde sie sich mit dem Gesicht zur Wand drehen und so tun, als schliefe sie. Aber während der Zug durch die Nacht raste, überflutet, ihr erschöpftes Gehirn sie mit Bildern von Brautnächten und Hochzeitsritualen ferner Zeiten und fremder Länder ... Jungfrauen, die in das Bett eines fremdländischen Herrschers geschleppt wurden, um dort, in riesigen Himmelbetten installiert, auf einen Bräutigam zu warten, den sie bisher nur in prachtvollem Goldtuch gesehen hatten ... Bei den Mi-Mi nahm der ganze Stamm an der Hochzeitsnacht teil; die alten Frauen sangen vor der Hütte des frisch verheirateten Paares; die jungen Leute tanzten und riefen dem jungen Paar von draußen Ermutigung zu ... Und sie sah Bilder dieser armen viktorianischen Jungfern aus den Romanen, die man zu spät oder gar nicht in die Tatsachen des Lebens eingeweiht hatte, und die nun voller Angst versuchten, an den Fenstervorhängen emporzuklettern oder sich in Schränken zu verstecken ...

Hätte auch sie Zuflucht in einem Schrank gesucht, wenn dies eine echte Hochzeitsnacht gewesen wäre? Nun, sie war wenigstens mit den Tatsachen des Lebens vertraut – seit ihrem sechsten Lebensjahr schon. Jetzt allerdings fragte sich Ruth, die sich rastlos in ihrem Bett wälzte, ob sie damals am Grundlsee ihren Studien nicht ein wenig übereifrig nachgegangen war. Kraft-Ebbing, Havelock Ellis, Sigmund Freud ... Vieles konnte danebengehen, darin waren sich die ehrwürdigen Herren alle einig. Da gab es zum Beispiel die Frigidität. Diese Möglichkeit hatte Ruth, ein feuriges Kind von Natur aus, immer besonders beunruhigt. Aber das wäre hier wahrscheinlich nicht passiert – nicht mit einem Mann, der sie immer zum Lachen bringen konnte.

Eine Stunde war vergangen, seit sie den Speisewagen verlassen hatte. Sie drehte sich auf die andere Seite, schloß die Augen, stellte sich schlafend – aber es verstrich noch eine Stunde und noch eine, und er kam nicht.


Ein plötzlicher, heftiger Ruck riß sie aus dem Schlaf, den sie endlich doch gefunden hatte. Der Zug hatte angehalten. Von draußen hörte sie Schritte und Stimmen.

Entsetzt fuhr sie in die Höhe. Nun war es doch geschehen. Man würde sie aus dem Zug holen und zurückschicken wie schon einmal. Das Bett an ihrer Seite war immer noch leer. In heller Panik stürzte sie in den Korridor hinaus.

Quin stand am Fenster. Er hatte die Jalousie hochgeschoben und sah in die mondhelle Landschaft hinaus.

«Sie kommen!» rief sie angstvoll. «Ich hab es gewußt. Es konnte nicht gutgehen. Jetzt werden sie mich wieder zurückschicken.»

Er drehte sich herum und sah sie, schlaftrunken, in schrecklicher Angst. Ohne zu überlegen öffnete er die Arme, und ohne zu überlegen flüchtete sie sich zu ihm.

«Ist ja gut», sagte er, sie in den Armen haltend. «Es ist nichts. Nur die Strecke ist blockiert. Vielleicht steht eine Kuh auf den Gleisen.»

«Eine Kuh?» Sie blickte zu ihm auf und blinzelte verdutzt. Dann schüttelte sie hoffnungslos den Kopf.

«Ja, eine von diesen dicken, braunweißen Kühen, wie sie immer auf Schokoladentafeln abgebildet sind. Auf Milchschokolade natürlich. Scheckige Kühe geben nämlich am meisten Milch, wissen Sie.» Er fuhr fort, Unsinn zu reden, bis sie allmählich zu zittern aufhörte. Dann sagte er: «Wir sind längst über die Grenze. Wir sind in Sicherheit. Wir sind schon in Frankreich.»

Aber sie konnte es immer noch nicht glauben. «Ist das wirklich wahr?» fragte sie und sah ihn forschend an. «Sagen Sie mir auch die Wahrheit? Es sind doch gar keine Zollbeamten gekommen. Niemand hat unsere Pässe verlangt, niemand hat uns durchsucht. Sonst kommen sie immer und ...» Sie begann wieder zu zittern. Sie wußte, mit welcher Brutalität andere Flüchtlinge an der Grenze behandelt worden waren; wie man ihnen gewissermaßen in letzter Minute noch die wenigen Habseligkeiten abgenommen hatte, die sie hatten mitnehmen können.

«Ich habe unseren Paß beim Zugführer abgegeben – für uns ist der Grenzübertritt nur eine Formalität.»

Unseren Paß ... Der Paß, in dem der Außenminister Seiner Majestät des Königs von England darum bat, den Inhaber frei und ungehindert passieren zu lassen ... Einen Moment lang wünschte sich Ruth nichts sehnlicher, als diesem Mann und seiner Welt anzugehören. Bei Quin und jenen, die ihn beschützten, würde sie immer sicher sein. Dafür hätte sie es sogar auf sich genommen, in einem kalten Haus auf einem Felskap hoch im Norden zu leben; dafür hätte sie es sogar erduldet, von seiner Tante in Ruhe gelassen zu werden.

Dann wurde sie sich plötzlich bewußt, daß sie mit nichts als einem Nachthemd bekleidet mitten im Korridor eines Zugs stand, und sie dachte daran, wie sie sich in wilder Panik in seine Arme gestürzt, ihn schon wieder in Anspruch genommen hatte, obwohl sie es ihm nach allem, was er für sie getan hatte, schuldete, ihn endlich nicht mehr zu belästigen, keine weiteren Forderungen an ihn zu stellen. Wahrscheinlich dachte er ...

«Entschuldigen Sie, ich habe mich wie eine dumme Gans benommen», sagte sie und riß sich ziemlich ungestüm von ihm los. «Sie denken sicher ...»