Der nächste Stolperstein des Tages war das Mittagessen. Vor einem Konzert konnte Heini niemals etwas Schweres essen, und in Wien war Ruth immer schon zeitig ins Café Museum gegangen, um einen Ecktisch zu reservieren und zu überprüfen, ob die Rinderbouillon, das einzige, was Heini an so einem Tag hinunterbrachte, wirklich klar war und die Brötchen gut durchgebacken. Marta hingegen schien zu erwarten, daß er auf Schweinsbraten mit Knödeln spielte!

Früher, als er eigentlich beabsichtigt hatte, ging Heini aus dem Haus, und auf dem Weg die elegante Váci utca hinunter sah er schon der nächsten Herausforderung ins Gesicht: Es galt, eine Blume für das Knopfloch zu kaufen. Eine Gardenie war für die Hochschule wahrscheinlich etwas übertrieben, ebenso eine Kamelie, aber eine Nelke, eine weiße Nelke, müßte genau das Richtige sein. Natürlich hatte immer Ruth ihm die Blumen besorgt – er hatte ihr einmal dabei zugesehen, wie sie voll Eifer, ihn perfekt auszustaffieren, zusammen mit der Verkäuferin nach der vollkommenen Blüte gesucht hatte.

Mutig betrat Heini nun allein das nächste Blumengeschäft und wählte mit Hilfe einer Verkäuferin eine weiße Nelke. Erst als er mit der in Zellophan verpackten Blume aus dem Laden trat, fiel ihm ein, daß er keine Nadel hatte.

Im Foyer der Hochschule erwartete ihn Professor Sandor.

«Der Besuch ist ausgezeichnet – der Saal ist fast voll. Wenn man bedenkt, daß wir keine zwei Wochen für die Reklame zur Verfügung hatten und heute abend in der Oper eine Premiere stattfindet, können wir ausgesprochen zufrieden sein.»

Heini nickte und ging ins grüne Zimmer, und da erwartete ihn Mali in einem unglaublich scheußlichen Kleid: karminroter Crêpe de Chine, der über ihrem Busen spannte und ihre hervorstehenden Schlüsselbeine enthüllte. Die knallige Farbe würde das Auge ablenken und beschäftigen. Ruth wählte immer Kleider, die mit den Hintergrundfarben des Saals verschmolzen, dezente Kleider, die ihr dennoch wunderbar zu Gesicht standen.

«Haben Sie eine Sicherheitsnadel?» fragte er, und wenigstens damit konnte Mali dienen. Sie schaffte es trotz ihrer Tolpatschigkeit und Nervosität sogar, ihm die Blume anzustecken. «Ich brauche jetzt absolute Ruhe», erklärte er dann mit Entschiedenheit und setzte sich so weit wie möglich von ihr weg.

Den Frieden, nach dem er so dringend verlangte, bekam er dennoch nicht. Mali fingerte unablässig an den Noten der Beethoven-Sonate herum, prüfte immer wieder, ob alle Seiten da waren, räusperte sich ...

Ruth wußte stets genau, wie sie ihm in diesen letzten Augenblikken vor einem Konzert oder einer Prüfung die Ruhe geben konnte, die er brauchte. Sie pflegte ein Dominospiel mitzubringen, und dann spielten sie eine Weile; oder sie saß einfach still mit gefalteten Händen da, das herrlich lohfarbene Haar mit einem Band zurückgebunden, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel und die Zuhörer ablenkte. Ruth sorgte stets dafür, daß in der Pause frisches Zitronenwasser auf ihn wartete; er mußte nie an seine Noten denken, sie lagen immer bereit, immer in der richtigen Reihenfolge. Als er jetzt in den Spiegel sah, stellte er fest, daß seine weiße Nelke merklich schief saß.

«Fünf Minuten!» rief es von draußen.

«Mein Taschentuch!» rief Heini in plötzlicher Panik. Das weiße in der Tasche seiner Smokingjacke war natürlich da, aber das andere, das, mit dem er sich zwischendurch die Hände zu trocknen pflegte ...

Mali wurde brennend rot und sprang auf. «Entschuldigen Sie – ich wußte nicht, daß ich ...»

«Schon gut.» Er suchte das heraus, das seine Stiefmutter für ihn gewaschen hatte, aber es war Baumwolle, nicht Leinen. Die Dienstmädchen bei den Bergers hatten seine Taschentücher immer gekocht und leicht gestärkt; sie hatten stets so frisch und sauber gerochen.

Es war Zeit zu gehen. Professor Sandor schaute zur Tür herein. «Bartók ist hier!» sagte er strahlend, und Heini stand auf.

Der Applaus, mit dem er empfangen wurde, war laut und enthusiastisch. Heini Radek war aber auch ein erstaunlich gutaussehender junger Mann mit seinen dunklen Locken und dem schlanken, biegsamen Körper. So sollten Pianisten aussehen.

Heini verbeugte sich, lächelte einem Mädchen in der ersten Reihe zu, sandte einen Blick zum Balkon hinauf, nickte respektvoll in Richtung von Ungarns größtem Komponisten. Als er sich umdrehte, um sich auf dem Klavierhocker niederzulassen, sah er, daß sich Mali mit hüpfendem Adamsapfel auf ihrem Stuhl vorbeugte. Er hatte ihr immer wieder gepredigt, sie müsse zurückgelehnt bleiben, das Publikum dürfe gar nicht bemerken, daß außer ihm noch jemand auf der Bühne war, und nun fuhr sie erschrocken zurück. Unglaublich – wie konnte ein Mensch nur so täppisch sein? Und noch dazu hatte sie sich mit irgendeinem widerlich süßen Parfüm übergossen, dessen Duft sich auf ekelhafte Weise mit dem Geruch ihres Schweißes vermischte.

Aber jetzt durfte es nur noch die Musik geben. Er schloß die Augen einen Moment, um sich zu konzentrieren, dann öffnete er sie wieder und begann zu spielen.

Und Professor Sandor, der leise in die erste Reihe geschlüpft war, nickte zufrieden. Der Junge war trotz allem ungeheuer musikalisch, und die ganze Mühe, die er in die Organisation dieses Konzerts gesteckt hatte, hatte sich gelohnt.


Erst nach drei Zugaben und tosendem Applaus dachte Heini wieder an Ruth. Sie hatte immer auf ihn gewartet, ganz gleich, wo er gespielt hatte – zurückhaltend, still, aber so bezaubernd hübsch, immer in seiner Nähe, so daß er ihr zulächeln und sie an seine Seite ziehen konnte, wenn er wollte, und doch nie aufdringlich, wenn er sich seinen Bewunderern widmete, die ihm sagen wollten, wie sehr sie sein Spiel genossen hatten. Später pflegte sie mit ihm zusammen in die Rauhensteingasse zurückzukehren, wo Leonie ihn schon mit seinen Lieblingsspeisen erwartete, und dann sprachen sie über das Konzert, durchlebten noch einmal den ganzen Abend bis ins kleinste Detail, bis er sich schließlich soweit abreagiert und entspannt hatte, daß er schlafen konnte. Und wenn er zu einer Feier eingeladen war, von Leuten, die ihm eventuell nützlich sein konnten, schlich Ruth sich still und ohne ein Wort des Vorwurfs davon.

Mali hingegen wartete jetzt auf Lob und Anerkennung. Ihre Augen hinter den Brillengläsern flackerten nervös. «War es in Ordnung?» fragte sie atemlos. «Es war doch alles richtig, nicht wahr?»

«Ja, ja», sagte er und lächelte sogar, bevor er sich abwendete, um seine Bewunderer zu begrüßen und sich feiern zu lassen.

Doch in der Nacht, als er nach Hause kam, wurde ihm von neuem bewußt, wie allein er war. Daß sein Vater bis tief in die Nacht hinein in der Redaktion arbeiten würde, hatte er gewußt; aber auch seine Stiefmutter war ausgegangen. Sie hatte ihm zwar ein Briefchen hinterlassen und auf dem Herd einen Topf Gulasch, aber nie zuvor war Heini in ein leeres Haus zurückgekehrt.

Er stand draußen auf der mondbeschienenen Veranda, als sein Vater mit zwei Gläsern Wein durch die Flügeltür heraustrat. «Wie war es?»

«Ganz gut, glaube ich.»

«Ich habe über das Buschtelefon bereits positive Stimmen gehört. Du wirst es einmal weit bringen, Heini.»

Heini nahm lächelnd sein Glas entgegen. «Ruth fehlt mir», sagte er.

«Ja, das kann ich mir vorstellen», meinte sein Vater, der Ruth in Wien kennengelernt hatte. «An deiner Stelle würde ich sie schnellstens heiraten, ehe ein anderer sie dir wegschnappt.»

«Oh, das passiert bestimmt nicht. Wir gehören zusammen.»

Radek schwieg. Er sah hinunter auf die Lichter der Stadt, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte. Er war jetzt fünfzig Jahre alt, aber er sah älter aus, und er war tief besorgt.

«Geht mit deinem Visum alles in Ordnung?»

«Soviel ich weiß, ja.»

«Ich glaube, du solltest keine Zeit versäumen, Heini. Es gefällt mir nicht, wie die Dinge sich entwickeln. Wenn Hitler gegen die Tschechen marschiert, werden die Ungarn versuchen, sich ihren Anteil an der Beute zu sichern, und das heißt, vor den Deutschen kuschen. Es gibt hier noch keine Gesetze gegen die Juden, aber sie werden kommen.» Unvermittelt fügte er hinzu: «Ich habe einen Posten in der Schweiz angenommen. Marta reist nächste Woche voraus, um uns eine Wohnung zu suchen.»

Heini blieb tief beunruhigt zurück, als sein Vater wieder ins Haus ging. Wenn sein Vater bereit war, seine Heimat zu verlassen und auf das Prestige zu verzichten, das er in Ungarn genoß, so konnte das nur bedeuten, daß wirklich Gefahr im Verzug war. Heini zog nichts nach England, dieses Land ohne Musik, dieses Land der Kälte und der Nebel, aber es schien doch ratsam, daß er sich so schnell wie möglich in das ungeliebte Land begab. Ein Trost war, daß Ruth ihn dort erwartete, Ruth, die er liebte und die er brauchte. Demütig gestand Heini sich ein, daß er Ruth viel zuwenig gewürdigt hatte. Aber das alles würde sich ändern. Nicht nur würde er Ruth ganz zu der Seinen machen, sowohl körperlich als auch geistig, er war auch bereit – ja, das stand jetzt für ihn fest –, sie zu heiraten. Mit einundzwanzig war er für einen so entscheidenden Schritt noch sehr jung, und sein Agent in Wien hatte ihm davon abgeraten. Gerade reiche ältere Damen pflegten bevorzugt junge Musiker am Beginn ihrer Karriere zu fördern, und es war nur natürlich, daß sie unverheiratete Schützlinge mit besonderer Gunst bedachten. Aber das war unwichtig. Er war bereit, dieses Opfer zu bringen.

Impulsiv lief er hinein, holte sich Papier und Bleistift, zündete die Lampe auf der Veranda an und setzte sich, um einen Brief zu schreiben. Er berichtete Ruth von dem Konzert und der Katastrophe mit Mali, er schrieb ihr in bewegenden Worten von seiner Liebe. Aber da er Ruths pragmatisches Wesen kannte, da er wußte, wie dringend sie es brauchte, helfen zu können, schrieb er ihr auch, was sie für ihn tun sollte.