«Kann ich bitte Ihre Papiere haben?»

Quin legte die Unterlagen auf den Schreibtisch. Er sah, wie Ruths Hände sich auf der Stuhllehne verkrampften. Knapp zwanzig Jahre alt, ein Kind des neuen Europa, das Hitler geschaffen hatte.

«Wir brauchen zwei Zeugen. Haben Sie jemand mitgebracht?»

«Nein.»

Der Vizekonsul seufzte und ging in den Korridor hinaus. Das Brummen des Staubsaugers hörte auf, eine Frau mit einer großen Warze am Kinn trat ins Zimmer und blieb stumm an der Tür stehen. Sie hatte an den Innenseiten ihrer Filzpantoffel ein Stück herausgeschnitten, um den Überbeinen an ihren Fußballen Platz zu schaffen, und das war ganz vernünftig. Ruth hatte Verständnis dafür, daß man von jemand, dem die Füße solche Probleme machten, nicht erwarten konnte, daß er lächelte oder einem guten Morgen wünschte. Dann kam der Handwerker, er hatte seinen Ölmantel ausgezogen und roch ziemlich streng – auch das ganz natürlich – nach den Abflüssen, die er gereinigt hatte. Ganz klar, daß auch er nicht gerade erfreut darüber war, bei seiner Arbeit gestört zu werden.

Nun trat der Konsul persönlich ein, ein distinguiert aussehender, formell gekleideter Mann, in der Hand das Gebetbuch der Anglikanischen Kirche, und die Zeremonie begann.

Was nun folgte, hatte Quin allerdings nicht erwartet. «Es ist eine reine Formalität», hatte er Ruth versichert. «In ein paar Minuten ist alles vorbei.» Aber der Konsul waltete seines Amtes mit größter Gewissenhaftigkeit. Zwar verkürzte er das Trauungszeremoniell um einiges, aber er ließ es sich nicht nehmen, die Worte zu sprechen, die seit vierhundert Jahren von anglikanischen Geistlichen bei solchen Zeremonien gesprochen wurden. Quin, dem Böses schwante, runzelte die Stirn und blickte zu Boden.

«Liebe Anwesende, wir haben uns heute im Angesicht Gottes hier zusammengefunden, um diesen Mann und diese Frau zu trauen. Der heilige Stand der Ehe ist ...»

Ruth begann unruhig zu werden. Die Putzfrau mit den löchrigen Filzpantoffeln schniefte.

« ... und soll daher von keinem unberaten, leichtsinnig oder mutwillig unternommen werden, sondern mit Ehrfurcht und Überlegung ...»

Es kam, wie Quin erwartet hatte. Ruth machte plötzlich eine scharfe, abweisende Kopfbewegung, und ein letzter Wassertropfen fiel aus ihrem Haar auf das blanke Linoleum.

Der Konsul kam auf die Bestimmung der Ehe zu sprechen, nannte dazu die Zeugung von Nachkommen und rief damit bei Ruth ein erschrockenes Stirnrunzeln hervor. Danach mußten die Putzfrau und der Handwerker, die kein einziges Wort verstanden, bezeugen, daß ihnen Gründe, die dieser Heirat entgegengestanden hätten, nicht bekannt seien, und dann kam der Konsul endlich zur Sache.

«Willst du, Quinton Alexander St. John, diese Frau zu deiner angetrauten Ehefrau nehmen ...? Willst du sie lieben und ehren in guten wie in schlechten Tagen und ihr treu sein, solange ihr beide lebt?»

«Ich will es.»

«Ruth Sidonie, willst du diesen Mann zu deinem angetrauten Ehemann nehmen ...?»

Ihr «Ich will es» kam deutlich, jedoch mit einem leichten, fast vergessenen schottischen Anklang. Ein Streß-Symptom, so schien es.

Der Konsul räusperte sich. «Haben Sie einen Ring?»

Ruth schüttelte den Kopf, aber im selben Moment nahm Quin einen schlichten goldenen Reif aus seiner Tasche.

Er war selbst auch etwas blaß, als er versprach, Ruth zu seiner angetrauten Ehefrau zu nehmen, sie zu lieben und zu ehren bis an sein Lebensende. Der Ring, den er ihr an den Finger steckte, paßte wie angegossen. Ihre Hände waren eiskalt.

«Mit diesem Ring will ich dich zur Frau nehmen, mit meinem Leib will ich dich lieben, und alle meine weltlichen Güter sollen auch dein sein.» Seine Stimme war jetzt ruhig. Es war beinahe vorbei.

«Das Gebet lassen wir weg», sagte der Konsul und intonierte dann mit angemessener Feierlichkeit und düsterem Nachdruck die Schlußformel: «Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.»

Es war vorbei. Sie unterzeichneten die Urkunde, Quin bezahlte, was er schuldig war, gab den Zeugen ein Trinkgeld, warf eine Spende für die Waisen des Spanischen Bürgerkriegs in den Sammelkasten.

«Kommen Sie um vier Uhr wieder, dann ist Ihr neuer Paß fertig, in den auch Ihre Frau eingetragen wird, und das Visum für Ihre Frau ebenfalls.»

Ruth schaffte es bis zur gekiesten Auffahrt hinaus, ehe sie in Tränen ausbrach.

«Um Himmels willen, Ruth, was ist denn los? Jetzt ist doch alles vorbei. Morgen abend sind Sie bei Ihrer Familie.»

Sie schneuzte sich und schüttelte den Kopf, daß ihre Haare flogen. «Warten Sie nur! Wir sind bestimmt auf ewig verflucht!»

«Verflucht? Was reden Sie da? Ein bißchen weniger Altes Testament, bitte!»

«Sehen Sie, da haben wir es schon – jetzt werden Sie auch noch antisemitisch.»

«Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich finde wirklich, jetzt wäre der Moment, sich an der Ziegenhirtin zu orientieren und nicht an irgendeinem finsteren alten Rabbi. Was soll das heißen, wir sind verflucht?»

«Wegen der Wörter. Weil wir diese Worte vor Zeugen ausgesprochen haben. Ich hatte keine Ahnung, daß sie so stark sind. Und das mit den weltlichen Gütern, die Sie mit mir teilen, hätten Sie auch nicht sagen sollen. Ich meine, selbst wenn wir uns mit dem Leib lieben würden, wäre ja immer noch Morgan zu berücksichtigen.»

«Natürlich. Ich dachte mir doch, daß wir noch einmal von Morgan hören würden. Was soll dieses Theater, Ruth, hm? Sie wissen doch, was Hitler für ein Mensch ist, und Sie wissen, daß es eine andere Möglichkeit nicht gab.»

«Ich hätte schwarz über die Grenze gehen sollen. Ich hätte nicht zulassen sollen, daß Sie lauter Meineide schwören.»

Quin war mit seiner Geduld fast am Ende. Es kostete ihn Anstrengung, mit seiner Meinung über ihre geplante Bezwingung der Kanderspitze hinter dem Berg zu halten. «Kommen Sie, jetzt gehen wir erst mal ins Imperial und tun uns an zwei riesigen Schnitzeln gütlich. Nach so was können Sie nämlich in London lange suchen.»

«Ich kann in diesen alten Sachen nicht ins Imperial. Und wenn ich gesehen werde ...»

Quins Arroganz war gänzlich unbewußt. «Jetzt kann Ihnen nichts mehr passieren. Sie sind jetzt britische Staatsbürgerin – und in meiner Obhut.»


Die Schnitzel waren ein Erfolg. Als sie das Restaurant verließen, war ihr Haar trocken und umgab ihr Gesicht auf eine etwas wirre, aber durchaus heiter reizvolle Art. Er hatte bereits festgestellt, daß es eine Art Stimmungsbarometer war.

«Wir haben noch drei Stunden Zeit. Was möchten Sie an Ihrem letzten Nachmittag in Wien unternehmen?»

Zu seiner Überraschung schlug sie vor, mit der Straßenbahn an die Donau zu fahren. Er wußte, wie wenig der breite graue Fluß, der sich in einem Bogen um die Industriegebiete vor der Stadt wand, den Wienern tatsächlich am Herzen lag. Der melancholische Johann Strauß mit seinem gefärbten Schnurrbart und seiner Unfähigkeit zu lächeln hatte zwar zu Ehren des Flusses den berühmtesten Walzer der Welt geschrieben, aber die gefährlichen Überschwemmungen der Donau hatten die Stadtbewohner schon vor Jahrhunderten von ihren Ufern vertrieben.

Als sie auf der Reichsbrücke standen, war klar, daß Ruth auf Erinnerungsreise war.

«Sehen Sie die kleine Bucht da drüben, gleich neben dem Lagerhaus?»

Er nickte.

«Da hat mein Onkel Mishak früher immer geangelt – das heißt, in Wirklichkeit ist er mein Großonkel. Das ist Jahre her. Damals saß der Kaiser noch auf dem Thron, und Österreich-Ungarn existierte noch. Man konnte mit dem Schiff nach Budapest fahren – man brauchte keinen Paß und nichts. Onkel Mishak hatte damals gerade bei meinem Großvater im Warenhaus angefangen, aber er vermißte das Landleben, und darum ist er jeden Sonntag zum Angeln hier herausgefahren. Und eines Sonntags zog er anstelle eines Fischs eine Flasche heraus.» Sie wandte sich Quin eifrig zu. «Es war eine Limonadenflasche mit einem Brief darin. Eine Flaschenpost.»

Quin zeigte sich gebührend beeindruckt.

«In dem Brief hieß es: <Ich heiße Marianne Stichter, bin vierundzwanzig Jahre alt und sehr traurig. Wenn Sie ein braver und gütiger Mann sind, dann kommen Sie bitte und holen Sie mich.> Darunter hatte sie die Adresse der Schule geschrieben, an der sie unterrichtete. Es war ein Dorf an der Donau, in der Nähe von Dürnstein – Sie wissen schon, wo Richard Löwenherz gefangen war.»

«Und weiter?»

«Der Direktor der Schule war ihr Vater. Er war ein grausamer Tyrann. Marianne hatte noch eine ältere Schwester, aber die hatte geheiratet und war so dem sadistischen Vater entkommen. Marianne war ein stilles und schüchternes Mädchen und nicht besonders hübsch, und außerdem stotterte sie leicht. Sie fand keinen Mann. Ihr Vater hatte sie gezwungen, die Kleinen zu unterrichten, und die äfften sie natürlich alle nach. Jedesmal wenn sie ins Klassenzimmer kam, wäre sie am liebsten gestorben.»

Ruth machte eine Pause und sah Quin vielsagend an, um die Spannung zu erhöhen.

«Eines Tages, als sie gerade Geographieunterricht gab und mit den Kindern die Flüsse Südamerikas durchnahm, ging plötzlich die Tür auf, und ein kleiner Mann in einem dunklen Anzug und mit einem Homburg auf dem Kopf kam herein. Er hatte eine Aktentasche dabei.

Die Kinder fingen an zu lachen, aber sie hörte sie gar nicht. Sie stand nur da und starrte den kleinen Mann an. Da nahm mein Onkel Mishak seinen Hut ab – er war damals schon ganz schön kahl, und er trug einen goldenen Zwicker – und sagte: <Sind Sie Fräulein Stichter?> Eine richtige Frage war es gar nicht, er wußte ja, daß sie es war, aber er wartete trotzdem, bis sie nickte, und dann sagte er: <Ich bin gekommen, um Sie zu holen.> Einfach so. Ich bin gekommen, um Sie zu holen. Er machte seine Aktentasche auf und nahm den Brief heraus, den er in der Flasche gefunden hatte.»