Frances Somerville preßte die schmalen Lippen aufeinander. Die Gezeiten – dieses idiotische alte Gesetz, das besagte, daß die Küste in der Zeit zwischen Ebbe und Flut der Allgemeinheit gehörte. Der blanke Unsinn natürlich. Um zur Bucht hinunterzugelangen, mußten die Leute den Grund und Boden der Somervilles überqueren – die Felder und Wiesen hinter der Bucht gehörten alle Quin, und sie achtete stets gewissenhaft darauf, daß die Gatter geschlossen waren.

Einen Moment lang fühlte sie sich alt und mutlos. Dies war nicht mehr ihre Welt. Auf der anderen Seite der Landzunge stand die alte Festung Dunstaburgh. Am Fuß ihrer verfallenen Türme hatte sich jetzt ein Golfplatz breitgemacht. Die Ausflügler konnten jederzeit auch auf diesem Weg zur Bucht von Bowmont gelangen. Aussichtslos, der Kampf!

Und Quin half ihr im Grund überhaupt nicht. Quin hatte Vorstellungen, die zu verstehen sie sich bemühte, die ihr aber dennoch fremd blieben. Frances Somerville liebte niemanden; für sie war es Ehrensache, das destruktive Gefühl Liebe für immer aus ihrem Herzen verbannt zu haben; aber Quin war Quin, und für ihn wäre sie ohne Bedenken von der nächsten Klippe gesprungen. Dennoch hatte dieser junge Mann, den sie selbst großgezogen hatte, Vorstellungen und Ansichten, wie sie sie nicht einmal in den sozialistischen Revoluzzerblättern zu lesen erwartet hätte. Quin verscheuchte keinen Ausflügler von seinem Land, sondern bat höchstens darum, daß die Leute die Gatter wieder schlossen; er hatte ein Wegerecht über die Dünen nach Bowmont Mill eingeräumt, und jetzt war gar die Rede davon, daß er Bowmont eines Tages – vielleicht nicht, solange sie noch lebte –, aber doch irgendwann dem National Trust übergeben würde. Frances schauderte bei dem Gedanken.

Die Sonne war jetzt ganz aufgegangen. Wie weiße Pfeile schwirrten die Seeschwalben über dem tiefen Blau des Wassers; Glockenblumen, Schafgarbe und rosarote Grasnelken leuchteten im Gras, aber Frances, die sonst so aufmerksam war, sah nur das Gespenst einer düsteren Zukunft. Auf der unteren Wiese ein Parkplatz, Imbißbuden, Busse mit stinkenden Auspuffrohren, die die Ausflügler scharenweise ausspien. Der bedauernswerte Frampton hatte es getan, er hatte sein Haus weggegeben, und nun standen vulgäre kleine grüne Hütten an den Toren von Frampton Court, und Männer mit Schirmmützen wie Türsteher knipsten Eintrittskarten, und es gab eine Kantine und einen Andenkenstand. Aber Frampton hatte eine Entschuldigung; er war bankrott gewesen. Quin hatte eine solche Entschuldigung nicht. Das Gut machte Gewinn, die Mieten aus dem Dorf warfen genug ab für Reparaturen und Sanierung, und sein Großvater hatte ihn durch seinen Nachlaß zum reichen Mann gemacht. Wenn Quin sein Erbe verschenkte, so war das unverantwortlich und verrückt.

Sie wandte sich ab und ging durch die Tür neben dem Turm ins Haus, in einen Vorratsraum, den sie zum Zwinger für ihre Labradorhunde umfunktioniert hatte.

«Wie machen sie sich, Martha?»

«Großartig, Miss Frances. Ganz großartig.»

Eigentlich war Martha als Zofe zu ihr gekommen, aber nach der gelösten Verlobung heimgekehrt, hatte Frances Somerville jeglichem Verlangen, sich schön anzuziehen und zu schmücken abgeschworen, und seither kümmerte sich Martha um die Hunde.

Die Hündin, von ihren fünf gierig saugenden Welpen belagert, wedelte zur Begrüßung mit dem Schwanz und ließ den Kopf wieder auf das Stroh sinken.

Gute Rasse. Comely war in Wales gedeckt worden – Frances hatte sie selbst hingebracht, und es war mühsam gewesen, aber es zahlte sich immer aus, auf den Stammbaum Wert zu legen.

Warum um alles in der Welt heiratet Quin nicht endlich, dachte sie, während sie über den Hof ging. Natürlich nicht eine von diesen Frauen, die er manchmal hier anschleppte: Schauspielerinnen oder kapriziöse Pariserinnen, die fröstelnd im Pelzmantel zum Frühstück kamen und sich nach der Zentralheizung erkundigten. Nein, eine Frau seiner eigenen Klasse, eine Frau aus gutem Stall. Wenn er erst ein oder zwei kräftige kleine Söhne hatte, würde er diesen ganzen Unsinn mit dem National Trust bestimmt schnellstens vergessen.


Später im Salon kam das Thema von neuem zur Sprache. Lady Rothley, Frances Somervilles beste Freundin, soweit Frances Freundschaft überhaupt zuließ, verlangte keine besonderen Umstände, wenn sie kam. Man brauchte nicht erst ein Feuer zu machen, man brauchte die Hunde nicht von den Sesseln zu verjagen. Ann Rothley züchtete selbst Jack Russels, und in Rothley Hall waren sämtliche Gobelinsofas voll kurzer weißer Haare.

«Ich dachte, Quin wäre längst zurück», sagte sie, während sie die Tasse aus feinem Porzellan zum Mund führte und mit Genuß von ihrem Kaffee trank.

«Er ist in Wien aufgehalten worden», erklärte Frances. «Er bekam dort irgendeinen Ehrentitel und mußte danach noch bleiben, um irgendwelche Dinge zu erledigen.»

Lady Rothley, eine dunkle gutaussehende Frau in den Vierzigern, nickte. Sie hatte gegen Quins wissenschaftliche Tätigkeit nichts einzuwenden. Solche Auswüchse kamen in diesen guten alten Familien eben manchmal vor. Die Trevelyans, zum Beispiel, drüben in Wallington, schrieben dauernd an irgendwelchen geschichtlichen Schinken.

«Tja, Frances, tut mir leid, aber du wirst ihm irgendwie beibringen müssen, daß ich diesen deutschen Flüchtling, den er mir aufgehalst hat, entlassen mußte. Den Opernsänger aus Dresden. Es ging wirklich nicht anders. Ich habe ihn in die Molkerei geschickt, weil wir im Haus niemanden brauchten, aber es war ein Desaster. Eine der Mägde hat sich in ihn vergafft, und von Kühen hatte er keine Ahnung.»

«Ach, du meine Güte», sagte Frances nur.

«Ja. Ich habe ihn wirklich nicht gern entlassen, aber die Kühe sind nun mal nicht musikalisch. Du weißt, ich würde für Quin fast alles tun, aber es geht einfach nicht, daß er uns alle für seine Bemühungen um diese Flüchtlinge einspannt. Die arme Helen – er hat ihr einen Mann aus Berlin aufgedrängt, als Chauffeur und Faktotum, und sobald dieser Mensch mit seiner Arbeit fertig ist, holt er sich alle möglichen Leute in sein Zimmer, und sie machen Kammermusik. Grauenvoll, dieses Geschrubbe. Sie mußte ihm sagen, seine Musikabende in Zukunft im Stall abzuhalten. Was Quin nur mit diesen Leuten hat! Ich meine, es gibt doch genug bedürftige Engländer, um die man sich kümmern könnte. Die Arbeitslosen und die Kumpel aus dem Kohlebergbau und so weiter.»

Frances Somerville nickte. «Man kann natürlich die Art und Weise, wie dieser Hitler sich aufführt, nicht billigen – er ist wirklich ein vulgäres Subjekt. Aber die Juden können einem auch nicht gerade sympathisch sein. Wenn sie reich sind, betreiben sie Banken, wenn sie arm sind, gehen sie hausieren, und dazwischen spielen sie Geige. Nach Bowmont kommt mir keiner von diesen Leuten, solange es nach mir geht, das habe ich Quin klipp und klar gesagt.»

Einer der Hunde gähnte mit weitaufgerissenem Maul, sprang vom Sessel und machte es sich zu Frances Somervilles Füßen bequem.

«Sicher, aber wenn es zum Krieg kommen sollte, wird man uns natürlich Evakuierte aus London schicken», sagte Ann Rothley. Sie sprach ganz sachlich, und keiner hätte geahnt, was diese Sachlichkeit sie angesichts der Tatsache, daß ihr vergötterter ältester Sohn Rollo, der gerade achtzehn war, kostete.

«Also, lieber nehme ich hier Slumkinder auf als ausländische Flüchtlinge. Die könnte man ohne weiteres im Bootshaus unterbringen, auf Matratzen, und ihnen das Essen hinübertragen lassen. Aber diese Ausländer – die sind ja völlig distanzlos.»

Es blieb ein Weilchen still, während die beiden Damen von ihrem Kaffee tranken. Ein auffrischender Wind bauschte die Vorhänge.

Dann fragte Ann Rothley: «Hat er eigentlich noch einmal etwas von – du weiß schon – vom Trust gesagt?» Das Zögern der sonst so direkten Ann Rothley zeigte das Maß ihres Unbehagens.

«Ich habe ihn, wie du weißt, seit Monaten nicht gesehen – er war ja in Indien –, aber Turton sagte mir, es habe jemand vom Hauptbüro des Trust angerufen und gesagt, Quin hätte darum gebeten, daß sie später im Jahr einen ihrer Leute hierher schicken. Ich glaube, es ist ihm ernst, Ann.»

«O Gott!» Würde denn der Schändung niemals ein Ende sein? Ganze Güter wurden als Bauland verkauft, ganze Wälder wurden gerodet, das Volk aus der Stadt flanierte gaffend durch die Häuser von Freunden und Bekannten. «Gibt es denn gar keine Hoffnung, daß er sich endlich seiner Pflicht bewußt wird und heiratet?»

Frances zuckte die Achseln. «Ich weiß es nicht, Ann. Livy hat ihn vor seiner Abreise nach Indien im Theater zweimal mit einer jungen Frau gesehen, aber sie hatte nicht den Eindruck, daß es etwas Ernstes war.»

«Bei ihm ist es nie etwas Ernstes», stellte Ann Rothley erbittert fest. «Als heiratete man zum Vergnügen!» Sie schwieg, als sie sich des Horrors ihrer Hochzeitsnacht mit Rothley erinnerte. Aber sie hatte nicht geschrien, und sie war nicht davongelaufen; sie hatte es über sich ergehen lassen, wie sie später seine wöchentlichen Besuche in ihrem Schlafzimmer über sich ergehen ließ: Sie starrte zur Zimmerdecke hinauf und dachte an ihre Stickerei oder ihre Hunde. Dafür waren jetzt Kinder da, und es gab eine Zukunft. Niemand fällte die alten Eichen, der Park wurde regelmäßig gepflegt. Weil Frauen wie sie die Zähne zusammenbissen. «Man heiratet für England», sagte sie. «Für das Land.»

«Ja, ich weiß. Aber was können wir denn noch tun?» sagte Frances müde. «Du weißt, wer alles versucht hat ...»

Sie brauchte den Satz nicht zu Ende zu sprechen. Junge Mädchen aus bester Familie und jeglichen Temperaments waren auf ihren Rassepferden durch die Tore von Bowmont galoppiert, mit ihren Tennisschlägern in der Hand munter über die Rasenplätze gesprungen, hatten in weißem Organdy und raschelndem Tüll Quin beim Tanz verführerisch zugelächelt ...