Als sie mit ihrer Geschichte fertig war, sagte die Engländerin, die sich ein Jahr lang standhaft geweigert hatte, Gespräche von Tisch zu Tisch zu führen, falls Leonie ein Wassermann sei, so stünden dem Daily Telegraph zufolge ihre Sterne gut. «Es hieß ganz eindeutig, Sie könnten eine erfreuliche Überraschung erwarten.»
Aber als Kurt Berger müde vom langen Marsch hereinkam und wenig später Onkel Mishak erschien, war klar, daß die Prognose des Astrologen vom Daily Telegraph nicht auf Leonie zutraf.
«Nun, vielleicht morgen», meinte Maud, als sie den Teller mit den Butterbroten auf den Tisch stellte, der das Mittagessen der Bergers war.
«Ja, morgen vielleicht», echote Violet.
Und Leonie nickte und bedankte sich und erkundigte sich dann nach der Katze, die oben, in der Wohnung der Damen, ganz unpassenderweise in einem Wäschekorb Junge bekommen hatte.
Dann nahm Kurt Berger das Manuskript zu seinem Buch und ging mit Dr. Levy in die öffentliche Bibliothek, und Paul Ziller begab sich ins Jewish Day Centre, um zwischen Waschbecken und Garderobespinden Bach zu spielen, und der Schauspieler (der auf Europas größten Bühnen Schiller deklamiert hatte) machte sich auf den Weg zur Filmbörse, um zu sehen, ob irgend jemand ihn in einem Film über böse Deutsche im Weltkrieg «Schweinehund!» sagen lassen würde.
«Wollen wir mal sehen, ob wir ein Schnitzel bekommen?» Mrs. Weiss nickte Leonie mit zerzaustem Kopf auffordernd zu. Und Leonie nickte ebenfalls und begleitete die alte Dame die Straße hinunter zum nahegelegenen Laden des Metzgers, mit dem Mrs. Weiss sich täglich hitzige Wortgefechte lieferte; denn Mrs. Weiss dabei zu helfen, das zarte Kalbfleisch zu beschaffen, das man für ein Schnitzel brauchte, und auf diese Weise ihrer Schwiegertochter eins auszuwischen, war so zeitraubend und zermürbend, daß es einfach als gutes Werk eingestuft werden mußte.
Wenn dann der lange Tag endlich um war und Hilda über den Riß in ihrem Rock jammerte, der sich in Mrs. Manfreds Teppichkehrmaschine verfangen hatte, und Onkel Mishak in seinem schrankähnlichen Kämmerchen in seinen Schlafanzug stieg und «Gute Nacht, Marianne» sagte, wie er das achtzehn Jahre lang jeden Abend getan und nicht damit aufgehört hatte, als sie gestorben war, dann legten sich Leonie und ihr Mann auf ihrer durchgelegenen Matratze nieder und hielten einander in den Armen und konnten nicht schlafen.
In der Wohnung über dem Tea-Room Willow brannte noch ein Licht.
«Wir könnten natürlich diesen oder jenen ihrer Kuchen bei uns einführen», sagte Maud, als die beiden Damen in ihren Morgenrökken aus Flanell beim Kakao saßen.
«Aber Maud! Doch nicht – etwa Strudel? Damit wäre Vater niemals einverstanden gewesen.» Violet, dreiundvierzig Jahre alt, drei Jahre jünger als ihre Schwester, war nicht so skeletthaft dünn wie diese und hatte noch braune Strähnen im grauen Haar.
«Nein, keinen Strudel, das finde ich auch. Das ginge zu weit. Aber es gibt doch da noch einen anderen Kuchen, von dem sie immer sprechen. Er fängt mit G an. Klingt wie Kugel oder so – Gugelhupf, glaube ich.»
Violet stellte ihre Tasse nieder. «Du meinst, wir sollen ihn bei der deutschen Bäckerei bestellen?»
«Aber nein, natürlich nicht. Es kommt doch nicht in Frage, daß wir hier etwas anderes als hausgemachtes Gebäck verkaufen. Ich habe mir das Rezept einmal angesehen, als ich in der Bibliothek war», bekannte Maud und errötete. «Man braucht eine besondere Form dafür, aber sonst ist es relativ einfach.»
Helfen kann man auf viele Arten. An jenem Frühsommerabend, als Ruth mutterseelenallein in Österreich festsaß und in Schloß Windsor die ersten Luftschutzsirenen ausprobiert wurden, gaben die Damen vom Tea-Room Willow ihre Prinzipien zugunsten von Mitgefühl auf.
«Na gut, wenn du meinst, Maud», sagte Violet – und sie ließen die Katze herein, spülten ihre Tassen und gingen zu Bett.
4
Auf dem Westbahnhof war es mittags um zwei immer relativ ruhig. Von Bahnsteig sieben fuhren nur Bummelzüge ab. Hier gab es keine herzzerreißenden Abschiedsszenen; keine weinenden Eltern, keine mit Kennmarken versehenen Kinder, die ins sichere Ausland geschickt werden sollten. In den Dritte-KlasseWagen mit den Holzbänken drängten sich Bauersfrauen mit kleinen Kindern, schweren Bündeln, gackernden Hühnern in Käfigen.
Ruth, die am offenen Zugfenster stand, trug Dirndl und Lodenumhang wie die andern Frauen, und ein Tuch um den Kopf. In einem Schrank im Arbeitszimmer ihres Vaters hatte sie einen alten Rucksack gefunden und ihre wenigen Habseligkeiten umgepackt. Mit den braven Zöpfen sah sie aus wie sechzehn, und sie schien bester Stimmung zu sein.
«Außerdem kann ich den dortigen Dialekt. Sie werden schon sehen, es wird alles ganz prima gehen. Sie hätten mir nur nicht soviel Geld geben sollen.»
«Ich kann es mir leisten, das habe ich Ihnen doch gesagt.»
Ungeachtet der Telegramme und telefonischen Nachrichten aus England, die sich für ihn am Empfang des Sacher sammelten, hatte Quin seine Abreise um einen weiteren Tag verschoben, um sicher zu sein, daß sie wohlbehalten an ihrem Bestimmungsort angekommen war. Zwei Nächte hatte Ruth im Museum verbracht; niemand hatte sie verraten, nicht die Putzfrau und nicht der Nachtwächter, und Quin, der froh war, daß seine Aufgabe nun fast erledigt war, lächelte mit onkelhafter Güte zu ihr hinauf.
«Ich bin bestimmt das reichste Bauernmädchen in ganz Österreich», sagte sie. «Aber ich zahle es Ihnen zurück. Ich schwöre es, bei Mozarts Kopf.»
Er machte eine wegwerfende Geste. «Lassen Sie den armen Mann in Frieden ruhen.»
Der Kontrolleur kam vorbei, die Türen wurden zugeschlagen. Die Lokomotive stieß zischende Dampfwolken aus, und im Schutz dieses Getöses beugte sich Ruth weit zu Quin hinunter und sprach direkt in sein Ohr.
«Wenn Sie in England zu meinen Eltern gehen, würden Sie ihnen dann bitte sagen, sie sollen sich keine Sorgen machen ...»
«Aber natürlich.»
«Nein, ich meine, würden Sie ihnen sagen, daß ich schon sehr, sehr bald bei ihnen sein werde? In weniger als einem Monat, hoffe ich. Ich weiß schon genau, was ich tun werde.»
Beunruhigt sah er sie an. «Was soll das heißen?»
Jetzt hatte man die Postsäcke eingeladen. Eine letzte Tür flog krachend zu – und Ruths Gesicht tauchte strahlend und selbstsicher aus den Dampfwolken.
«Ich gehe über die Berge in die Schweiz», sagte sie. «Das hab ich schon mal getan, als ich in den Ferien dort war. Man geht über die Kanderspitze. Es sind nur ein paar Stunden. Ich bin mit einem von den Jungen vom Hof gegangen, und die Grenzer haben sich nicht mal umgedreht.»
«Um Himmels willen, Ruth, das war vor Hitler. Die Schweizer sind bewaffnet und im Alarmzustand. Am Ende erschießen sie Sie noch als Spionin.»
«Unsinn. Bestimmt nicht. Ich garantiere Ihnen, daß alles gutgeht. Sobald ich drüben in der Schweiz bin, fahre ich zur französischen Grenze und schwimme über die Arve, das ist ein Nebenfluß der Rhone und überhaupt nicht breit; ich habe es mir auf der Karte angesehen. Ich bin eine sehr gute Schwimmerin, wissen Sie. Und wenn ich dann in Frankreich bin, brauche ich mich nur mit dem Vetter meines Vaters in Verbindung zu setzen. Er hat ein Schiff und bringt mich bestimmt über den Kanal, da bin ich ...» Sie brach ab. «Was machen Sie da? Sie tun mir weh! Lassen Sie mich los!»
Quin hatte die Tür aufgezogen; er packte ihren Arm; er zerrte sie aus dem Zug.
«Hören Sie endlich auf!» fuhr er sie zornig an. «Über die Berge steigen, einen Fluß durchschwimmen – Sie sind ja schlimmer als ein Kind! Glauben Sie denn, dies alles sei eine Abenteuergeschichte? <Ruth auf großer Fahrt>? Die Welt steht am Rand eines – ach, zum Teufel!»
Sie war jetzt unten auf dem Bahnsteig. Er packte sie fester, als sie sich zu wehren begann, und streckte den freien Arm nach dem Rucksack aus, den eine Bauersfrau, die den männlich harten Zugriff offensichtlich billigte, ihm aus dem Fenster reichte. Der Kontrolleur näherte sich, unwillig über die Störung, schlug die Tür zu und setzte seine Pfeife an die Lippen.
«Dazu haben Sie kein Recht!» schimpfte Ruth strampelnd, aber der Zug fuhr bereits mit einem Ruck an und stampfte aus dem Bahnhof.
«Besorgen Sie mir ein Taxi», rief Quin einem grinsenden Träger zu.
«Das verzeihe ich Ihnen nie», schäumte sie.
«Tja, damit werde ich dann wohl leben müssen», versetzte Quin und schob sie in das Taxi.
Es war ein Fehler gewesen, das Wort «morganatisch» in ein Gespräch einzuflechten, das sowieso schon schlecht lief. Quin hatte eine schlaflose Nacht hinter sich und hatte die letzten achtundvierzig Stunden nichts anderes getan, als diverse Beamte zu beschimpfen, zu beschwatzen, zu bedrohen, zu bestechen, sonst wäre er bestimmt nicht auf diese dumme Idee gekommen, zumal sie Englisch sprachen. Ruths schottischer Akzent war jetzt nur noch in einem ganz leichten Anklang vorhanden, sie beherrschte die englische Sprache fließend, aber der Begriff der morganatischen Ehe sagte ihr weder auf Deutsch noch auf Englisch etwas.
«Und wer ist dieser Morgan?» fragte sie.
«Gar niemand», antwortete Quin seufzend. Sie saßen in einem Café im Stadtpark, und er war beinahe sicher, daß jeden Moment jemand einen Straußwalzer anstimmen würde. «Das Wort morganatisch kommt aus dem Lateinischen matrimonium ad morganaticum – das heißt <Ehe auf bloße Morgengabe>. Die Morgengabe ist das Geschenk, das der Ehemann der Ehefrau am Morgen nach der Brautnacht übergibt. Er befreit sich damit von jeder Verantwortung für die Ehefrau. Wie Franz Ferdinand. Seine Ehefrau bekam keinen seiner Titel und keine seiner Pflichten.»
"Die Morgengabe" отзывы
Отзывы читателей о книге "Die Morgengabe". Читайте комментарии и мнения людей о произведении.
Понравилась книга? Поделитесь впечатлениями - оставьте Ваш отзыв и расскажите о книге "Die Morgengabe" друзьям в соцсетях.