«Ich hätte wirklich große Lust dazu, Angie, aber ich habe Randall mein Wort gegeben. Gott, dieses Zeug ist der letzte Mist.«

«Kürzlich nanntest du es noch eine Herausforderung. «Ben lachte. Seine Verlobte hatte eine bemerkenswerte Gabe, jemanden aufzuheitern.»Das ist dasselbe. Ja, es ist eine Herausforderung. «Sein Blick schweifte zurück zum Schreibtisch, blieb aber nicht an der Fotokopie von Randalls Kodex, sondern an dem braunen Umschlag haften, der Weatherbys drei Fotografien enthielt. Das war es, was ihn wirklich beschäftigte. Nicht der alexandrinische Kodex oder sein Versprechen gegenüber Joe Randall. Es waren die drei Fragmente einer Schriftrolle, die vor kurzem in Khirbet Migdal ausgegraben worden war und deren letzte paar Zeilen noch nicht übersetzt waren.

«Angie, ich werde ein Nickerchen machen, dann aufstehen und die Arbeit in Angriff nehmen. Ich habe Randall versprochen, ich würde ihm in zwei Wochen die beste Übersetzung abliefern. Du verstehst schon.«

«Natürlich. Und paß auf, wenn es in deiner Magengegend zu rumoren anfängt, ruf mich an, und ich bringe dir einen Schmortopf vorbei.«

Er blieb am Telefon stehen, nachdem er aufgelegt hatte, und bemerkte gar nicht, wie Poppäa Sabina ihm um die Beine strich. Sie schnurrte und miaute abwechselnd und wand ihren schlanken Körper um seine Wade, um ihn auf verführerische Art daran zu erinnern, daß sie auch noch da war. Doch Ben nahm keine Notiz davon. Er dachte an die magdalenische Schriftrolle. In seiner ganzen Laufbahn war ihm so etwas noch nie begegnet. Und wenn von Weatherby noch weitere Rollen kommen sollten und wenn David Ben Jona etwas Interessantes zu sagen hatte, dann wäre Ben Messer an einer der größten historischen Entdeckungen beteiligt, die je gemacht worden waren. Er konnte es nicht mehr länger aushalten. Die Spannung wurde zu groß, und die Neugierde überwältigte ihn. Zum Teufel mit seiner Verpflichtung gegenüber Joe Randall und mit dem alexandrinischen Kodex. David Ben Jona hatte mehr zu sagen, und Ben wollte wissen, was das war.

Diese Segnungen sollen auf Dir ruhen, mein Sohn, auf daß Du Dich beim Lesen meiner Worte daran erinnerst, daß Du ein Jude bist, ein Sohn des Gelobten Landes und ein Teil von Gottes auserwähltem Volk. Da ich Jude bin, da mein Vater Jude war, so bist auch Du Jude. Vergiß dies niemals, mein Sohn.

Nun ist die Zeit für mich gekommen, Dir zu erzählen, was kein Vater seinem Sohn erzählen sollte, und dennoch sollst du es wissen — die Schande und das Grauen meiner Tat — denn dies ist meine letzte Beichte.

Ben beugte sich dichter über das Foto und richtete seine starke Schreibtischlampe neu aus. Er war fast am unteren Ende des Papyrus angelangt, und das Entziffern wurde immer schwieriger.

Jerusalem ist jetzt zerstört. Wir sind über ganz Judäa und Galiläa verstreut, viele von uns bis in die Wüste hinein. Ich bin nach Magdala, an den Ort meiner Geburt, zurückgekehrt, so daß er auch der Ort meines Todes sein wird. Wenn Du überhaupt nach mir suchst, so wirst Du hierher kommen. Und Du wirst hoffentlich diese Schriftrollen finden.

Ben starrte ungläubig auf die Schriftrolle. Es überwältigte ihn so sehr, daß er wie vom Donner gerührt dasaß. Er rieb sich die Augen, beugte sich noch dichter über das Manuskript und las es noch einmal ganz sorgfältig. Jerusalem ist jetzt zerstört. Es war zu phantastisch, um wahr zu sein! Diese vier Worte Jerusalem ist jetzt zerstört konnten nur eines bedeuten: Daß die Worte im Jahr siebzig oder kurz danach geschrieben worden waren!

«Großer Gott!«rief er aus.»Ich glaube es nicht!«Mit einem Ruck stand Ben auf, wobei er seinen Stuhl nach hinten umstieß. Vor ihm, eine Armlänge von ihm entfernt unter der Lampe, lagen funkelnd und glänzend David Ben Jonas neunzehnhundert Jahre alte Worte, die ihm ihre Botschaft über die Generationen hinweg entgegenschrien.

«Großer Gott.«, flüsterte er wieder. Dann hob er seinen Stuhl auf, setzte sich auf die Kante und legte seine Finger auf die Ränder der Fotografie. Lange saß Ben schweigend über der Schriftrolle und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen. Doch ohne Erfolg. Dies war mehr, als er sich erhofft hatte, mehr, als er sich je erträumt hatte. David Ben Jona hatte gerade seine eigenen Worte für die Nachwelt mit einem Datum versehen, so sicher, als hätte er das Jahr in leuchtendroter Tinte darübergeschrieben.

Die Aufregung machte Ben schwindlig. Er mußte Weatherby sofort davon unterrichten. Das war zu phantastisch, als daß man es glauben konnte! Die gesamte Gelehrten weit würde sich erheben und die Nachricht von dem Fund mit Beifall für John Weatherby und Lob für Benjamin Messer zur Kenntnis nehmen.

Ben versuchte sich zu entspannen und wurde allmählich etwas ruhiger. Er mußte erst ganz sichergehen, daß er das Manuskript richtig übersetzt hatte. Danach mußte er an Weatherby telegraphieren. Dann mußte er nochmals die ersten zwei Fotoabzüge durchgehen und sicherstellen, daß ihm auch dort bei der Übersetzung kein Fehler unterlaufen war.

Voller Freude nahm Ben Poppäa auf den Arm, hielt ihr Gesicht dicht an seines und murmelte:»Ich begreife nicht, wie du so kühl und gelassen sein kannst. Es sei denn, es ist dir egal, daß David Ben Jona uns gerade mitgeteilt hat, daß er etwa vierzig Jahre nach dem Tod Jesu schrieb. Was nur eines bedeuten konnte«, seine Augen hefteten sich wieder auf den Text,»daß David wahrscheinlich zur gleichen Zeit in Jerusalem lebte wie Jesus.«

Als Ben verstummt und er seine letzten Worte noch im Raum klingen hörte, kam ihm eine andere Idee. Er setzte Poppäa rasch auf den Boden und starrte auf die Fotos. Dieser neue Gedanke, der ihm so plötzlich, so unerwartet durch den Kopf schoß, ließ ihn frösteln. Nur mühsam konnte Ben seine Augen von dem Papyrus abwenden. Er blickte in sein dunkles Zimmer. Nein, dieser neue Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht.

Die plötzliche Vorstellung, daß Davids Fluch. der Fluch Mose. etwas mit diesem anderen Galiläer zu tun haben könnte. Und daß David ein Verbrechen zu beichten hatte. Benjamin zitterte, als der kalte Hauch der Vorahnung durch den Raum wehte.

Kapitel Drei

Angie deckte das Geschirr vom Abendessen ab und räumte die Küche auf, während Ben in ihrem Wohnzimmer eine Art» Reise nach Jerusalem «spielte.

Zuerst setzte er sich in einen Lehnstuhl und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne. Dann stand er auf und ließ sich auf den Diwan fallen. Eine Minute später sprang er auf und setzte sich auf das eine Ende der Couch, um sich gleich wieder zu erheben und sich auf dem anderen Ende niederzulassen. Nach einer kurzen Weile lief er im Zimmer umher, bevor er sich auf den Klavierhocker setzte, und als Angie wieder aus der Küche kam, fand sie ihn in dem Lehnstuhl, in dem er zuerst gesessen hatte.

«Ich denke, wir sollten heute abend besser nicht ins Kino gehen«, meinte sie.»Warum nicht?«

«Nun, normalerweise bleibt man während eines Films auf seinem Platz sitzen und. «Sie beschrieb mit dem Arm einen Bogen durchs Zimmer.

Ben lächelte und streckte seine Beine aus.»Tut mir leid. Ich glaube, ich bin nervös.«

Angie setzte sich auf die Armlehne und fuhr mit den Fingern durch Bens üppigen blonden Haarschopf. Es war der zweite Abend nach seiner sensationellen Entdeckung der Zeitangabe in David Ben Jonas Manuskript.

Er wirkte mit seinem sehnigen Körper fast athletisch, so daß man, wenn man ihn ansah, niemals ernstlich vermuten würde, daß sein Leben sich größtenteils zwischen Universität und Arbeitszimmer abspielte.

«Ich bin froh, wenn du wieder von Weatherby hörst.«

«Ich auch. David Ben Jona hatte kein Recht, mich so hängenzulassen. «Angie musterte Bens Gesicht eingehend und bemerkte, wie angespannt er war. Sie dachte darüber nach, wie aufgeregt er gewesen war, als er sie vor zwei Tagen angerufen und unzusammenhängendes Zeug in den Hörer gequasselt hatte. Er hatte weitergeplappert über Jerusalem, das zerstört worden sei, und einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, die Araber hätten einen atomaren Angriff unternommen. Doch dann hatte er etwas über die» Zeit Christi «gesagt, und Angie hatte erleichtert erkannt, daß Bens Erregung von den Schriftrollen herrührte.

Sie war die ganze Nacht mit ihm aufgeblieben, während er immer und immer wieder dieses dritte Foto durchgegangen war.»Nur ein einziges Mal in der gesamten Geschichte wurde Jerusalem völlig zerstört. Es geschah im Jahr siebzig unserer Zeitrechnung und versprengte die Juden in alle Himmelsrichtungen. Offensichtlich war auch David von dieser Katastrophe betroffen und floh in seine Heimatstadt, um sich dort zu verstecken. Ich bin überzeugt, daß meine Folgerung richtig ist. Ich bin sicher, nichts übersehen zu haben. «Dann hatte er sich das Foto noch einmal vorgenommen und es rasend schnell überflogen.»Siehst du? Siehst du hier? Dieses Wort ist ganz unmißverständlich. Und dieser kurze Satz hier. «Er hatte etwas in einer hartklingenden, fremden Sprache gemurmelt.»Es besteht kein Zweifel daran, was es besagt. Und es bedeutet auch, daß Weatherby mit seiner Schätzung fast zweihundert Jahre daneben lag, Angie!«Dann hatte er ihr über das außergewöhnliche geschichtliche Ereignis der Zerstörung der Stadt Jerusalem berichtet, bei der fast alle Bewohner infolge der Belagerung durch die römischen Streitkräfte den Tod gefunden hatten. Die Juden hatten sich schon jahrelang gegen die römische Herrschaft aufgelehnt. Es war häufig vorgekommen, daß Rebellen und Aufwiegler gekreuzigt worden waren. Und als schließlich ein Aufstand ausbrach, den die Geschichtsschreiber als ersten jüdischen Krieg bezeichnen, kostete es Rom fast fünf blutige Jahre, um ihn zu beenden.

«Siehst du, wir glauben, die Schriftrollen vom Toten Meer wurden in jene Höhlen gebracht, weil stets Gefahr von römischen Soldaten drohte. Die Essener-Mönche, die die Tonkrüge mit den Schriftrollen versteckten, rechneten damit, eines Tages zurückzukommen und sie zu holen. Die Masada-Handschriften wurden inmitten eines Ruinenfelds gefunden, das von der Zerstörung durch römische Legionen zeugt. Die Römer brannten die Festung nieder, nachdem sie sie eingenommen hatten. Und die Briefe von Simon Bar Kochba, dem letzten Führer des jüdischen Aufstandes, im Jahr einhundertfünfunddreißig nach unserer Zeitrechnung, wurden nach dem endgültigen und totalen Sieg über die jüdischen Patrioten in den Höhlen der Wüste Juda verborgen. Und jetzt gelangen wir zu David Ben Jona, der wegen des Einzugs der römischen Truppen nach Magdala flieht. Siehst du, wie alles zusammenpaßt?«