«Jetzt mußt du nur sechsundzwanzig zu siebenunddreißig hinzuaddieren, dann kommst du auf dreiundsechzig. Das ist das Jahr, in dem David in Rom war, im Jahr dreiundsechzig unserer Zeitrechnung. Das bedeutet, daß Rolle Nummer zehn wahrscheinlich die dazwischenliegenden acht Jahre abdeckte. In dieser Zeit muß sich eine Menge ereignet haben. Saras Bekehrung zu den Armen, zunehmender Wohlstand für David. Hingegen scheint es nicht so, daß Saul ebenfalls dem Heer der Nazaräer beigetreten ist. Ich frage mich, warum wohl.«
Judy schaute Ben forschend an. Plötzlich schien er wieder er selbst zu sein, als ob wenige Minuten vorher überhaupt nichts gewesen wäre. Sie beobachtete ihn, als er sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte und sich daran machte, einen Krapfen zu verzehren.»Rolle zehn«, sprach er mit vollem Mund weiter,»ergänzte diese fehlenden Jahre. Ich bedaure sehr, sie nicht zu haben.«
«Aber es bleiben uns ja immerhin noch sieben Jahre.«
Ben nickte. Er wirkte jetzt ruhig, entspannt und unbeschwert. Was auch immer ihn noch eine Minute vorher bedrückt hatte, jetzt war es vergessen und wie weggeblasen.»Die nächsten beiden Rollen werden diese sieben Jahre ausfüllen. Und sie werden die abscheuliche Tat enthüllen, die David beging. Er wird uns auch Aufschluß darüber geben, warum er kurz davor steht zu sterben.«
Judy nickte nachdenklich und starrte in ihre Tasse. Es fiel ihr schwer, mit Bens abrupten Persönlichkeitsschwankungen fertigzuwerden. Es war nicht leicht, ihm zu folgen, zu wissen, wie man ihn anpacken mußte oder was man als nächstes zu erwarten hatte. Als er endlich seine Tasse abstellte und verkündete:»Ich bin todmüde«, war sie sehr erleichtert.
«Ich gehe ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag, und wir werden eine weitere Rolle erhalten. «Ben erhob sich von der Couch und reckte seinen langen, mageren Körper. Dann hielt er einen Augenblick inne, um auf Judy herabzuschauen, und bemerkte aufs neue, wie klein sie doch wirkte.»He«, sagte er sanft,»es ist spät. Wir müssen uns schlafen legen.«
Aber Judy schüttelte den Kopf. Das Schlimmste an Bens plötzlichen Stimmungsänderungen war, daß er sie gar nicht wahrnahm. Sie wollte fragen:»Was war vor ein paar Minuten mit dir los? Was bringt dich dazu, daß du den Bezug zur Wirklichkeit verlierst?«Aber sie tat es nicht. Sie wußte, was er sagen und wie er reagieren würde. Er hätte keine Erinnerung daran, wie eigenartig er sich verhalten hatte, nachdem er die Rolle gelesen hatte. Und es wäre auch sinnlos, es ihm erklären zu wollen.
«Ich will noch eine Weile aufbleiben«, erwiderte sie abweisend. Ben langte herunter und legte seine Hand auf ihren Kopf.»Weißt du«, begann er mit gedämpfter Stimme,»ich habe dir nie dafür gedankt, daß du zu mir gezogen bist. Durch deine Anwesenheit erhält die Sache ein ganz anderes Gesicht.«
Judy blickte nicht zu ihm auf, rührte sich nicht. Für einen ganz kurzen Augenblick spürte sie, wie er mit der Hand über ihr Haar strich, dann zog er sie zurück, und sie hörte ihn aus dem Wohnzimmer gehen und die Schlafzimmertür hinter sich schließen.
Judy blieb noch eine Zeitlang sitzen, bevor sie schließlich aufstand und zum Fenster hinüberwanderte. Die Vorhänge waren aufgezogen und ließen die kalte, mitternächtliche Finsternis von draußen herein, während sich die Lichter aus der Wohnung auf der Fensterscheibe widerspiegelten. Sie erblickte darin auch ihr eigenes Spiegelbild, ein trauriger Abklatsch ihres früheren Ich — ein viel zu blasses Gesicht, das vor Sorge ganz schmal geworden war. Verloren blickte sie mit ausdruckslosen Augen hinaus auf die schlafende Stadt. Gefühle und jegliches Interesse waren Judy abhanden gekommen. Die Ereignisse der vergangenen Woche hatten sie aller Sicherheit und Charakterstärke beraubt und sie willenlos gemacht. Denn wie Ben war Judy letzten Endes auch nur eine Marionette, die von den hier wirkenden Kräften beliebig gesteuert werden konnte. Aber was waren das nur für Kräfte, die den Bewohnern dieser ruhigen Wohnung von West Los Angeles so übel mitspielten? Waren es übernatürliche Mächte, oder waren es nur Energien, die ihnen beiden innewohnten? Sie preßte ihr Gesicht gegen das kalte Glas. Warum bin ich hier? fragte sie sich gedankenverloren. Wie kam es eigentlich, daß ich in Ben Messers private Katastrophe verwickelt wurde? War es vom Schicksal vorherbestimmt?
Es ist fast, als wären wir beide hier zusammengebracht worden, um dieses eigenartige Stück durchzuspielen. Aber warum? Zu welchem Zweck?
Ohne darüber nachzudenken, drehte Judy sich um und lief durch das Zimmer, wobei sie alle Lichter löschte. Sie verabscheute das Licht; sie wollte Dunkelheit. Es war leichter, sich in der Dunkelheit zu verirren, leichter, in der Dunkelheit Vergessen zu finden. Als sie wieder ans Fenster trat, waren die Spiegelungen verschwunden, und alles, was sie sehen konnte, waren die skelettartigen Bäume, die die Straße säumten und sich im Wind bogen. Draußen sah es kalt aus. Kalt und bedrohlich.
Wie kann Wind kalt aussehen? dachte sie abwesend, ihre Stirn wieder gegen die Scheibe gepreßt. Wie kann man etwas beurteilen, was unsichtbar ist? Wie kann man Wind betrachten? Es ist wie mit David Ben Jona. Ich kann ihn nicht sehen, und doch.
Judy wandte sich langsam vom Fenster und den kahlen Bäumen draußen ab und begann, in die Tiefen der finsteren Wohnung zu starren. Sie konnte David nicht sehen und wußte doch, daß er anwesend war. Sie ließ ihre Augen zur Schlafzimmertür schweifen und dort eine Weile verharren, während sie über den seltsamen Mann nachdachte, der auf der anderen Seite schlief.
Was für eine unglaubliche Veränderung hatte Benjamin Messer in diesen letzten drei Wochen durchgemacht! Was für eine Krise mußte er bewältigen! Und warum?» Liegt es am Judentum?«fragte sich Judy, während vor ihrem inneren Auge staubige Straßen und Palmen vorbeizogen.»Oder ist es einfach eine Identitätsfrage?«Oder waren Identität und Judentum möglicherweise ein und dasselbe? Ein Mensch war einfach ein Jude. Ob Katholiken wohl genauso empfanden? Oder gab es am Judensein etwas, was sich von allen anderen Erfahrungen unterschied — wenn man davon ausging, daß Judentum und Identität so unentwirrbar miteinander verflochten waren? Sie starrte mit leerem Blick vor sich hin und achtete nicht auf die Bilder von sonnenverbrannten Straßen und überfüllten Marktplätzen, die ihr rastloser Geist heraufbeschwor. Sicherlich war Benjamin Messer nicht der einzige wichtige Faktor in diesem Spiel, obgleich möglicherweise die Hauptfigur. Daneben standen David Ben Jona, die geduldig leidende Rosa Messer, ihr Ehemann, der als Rabbiner den Märtyrertod gestorben war. Und schließlich Judy selbst. Ihre
Gedanken konzentrierten sich jetzt auf einen bestimmten Punkt. Statt sich weiter getrocknete Feigen, geschnürte Sandalen und weiße Gewänder auszumalen, blickte sie jetzt in ihr tiefstes Inneres. Und was sie dort sah, erschreckte sie. Als ob sie am Rand eines riesigen, unergründlichen Kraters stünde, fühlte Judy, wie sie von einem starken Gefühl der Leere überwältigt wurde. Eine unfaßbare Einsamkeit. Eine kalte Einöde, die sie so entsetzte, daß sie vor Verzweiflung aufschreien wollte. Der riesige, schwarze Krater, der mit einer tintenartigen Kälte gefüllt war und sich bis an die Grenzen der Vorstellungskraft ausdehnte, befand sich im tiefsten Innern ihrer Seele. In diesem schrecklichen Nichts war alles tot, denn kein Leben konnte hier gedeihen.
Die dunkle Wohnung, die schwarze Nacht draußen und die furchterregende Leere in Judys Seele hatten eines gemeinsam: die Finsternis wurde von keinem Licht erhellt.
Mehr Bilder blitzten vor ihr auf. Aleppokiefern, die sich gegen einen strahlendblauen Himmel abhoben. Der Duft nach Narde, der die Luft erfüllte. Die heiße Sonne, die auf staubige Straßen herunterbrannte.
Sie wandte sich davon ab. Kehrte dem Zauber des antiken Jerusalem den Rücken. Es wäre schön, dorthin zu entfliehen, ja, sich nur für einen Moment gehenzulassen und in der Vergangenheit Zuflucht zu suchen, um der Gegenwart nicht ins Auge sehen zu müssen. So, wie Ben es tat.
Judy blickte wieder hinüber zur Schlafzimmertür, und für einen kurzen Augenblick wurde ihr bewußt, daß Ben ungewöhnlich ruhig war.
Sie riß sich von den Offenbarungen ihres inneren Ichs und den flüchtigen Einblicken in die Vergangenheit los, durchquerte den dunklen Raum und öffnete die
Schlafzimmertür.
Ben lag völlig bekleidet auf dem Bett und schlief tief und friedlich. Als Judy behutsam näher trat, konnte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen, der sie überraschte. Ben lächelte fast unmerklich und schien sich in einem Zustand vollkommener Ruhe zu befinden. Judy starrte ihn ungläubig an. Mit Ausnahme der Nacht, in der sie ihm eine Schlaftablette verabreicht hatte, war es Ben nie vergönnt gewesen, so friedvoll zu schlafen. Auch hatte sie ihn nie zuvor jemals so gelöst gesehen. Als sie jetzt auf ihn hinabblickte, begann sie, in diesem Gesichtsausdruck eine tiefere Bedeutung zu erkennen. Es waren Anzeichen der Kapitulation, der völligen Aufgabe. Judy hob jäh den Kopf und sah sich im Zimmer um. Irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht. Seltsam beunruhigt verließ Judy auf leisen Sohlen das Schlafzimmer, schloß sachte die Tür und kehrte zu ihrem Wachtposten am Fenster zurück. Das Glas an ihrem heißen Gesicht fühlte sich angenehm kühl an. Sie hätte eigentlich froh darüber sein sollen, daß Ben so gut schlief. Und doch war sie es nicht. Sein Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen. Als sie die schweren Wolken am Himmel dahinziehen sah, dachte Judy: Warum tust du uns das an? Warum bist du hierhergekommen? Und was bist du eigentlich, David Ben Jona, ein Freund oder ein Feind? Stehst du neben ihm und wachst über ihn, um ihn zu beschützen, oder wartest du nur auf einen Augenblick der Schwäche.?
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