«Und was willst du mir damit sagen? Daß David versucht, dich mit sich nach Jerusalem zu nehmen?«

«Nein«, entgegnete Ben,»das will ich damit überhaupt nicht sagen. Letzte Nacht bin ich David Ben Jona mutig entgegengetreten und habe ihn angeschrien. Ich ballte meine Fäuste und forderte ihn heraus, sich von der Stelle zu rühren. Nun«, Ben blickte zu Judy auf,»David nahm meine Herausforderung an. Jetzt weiß ich, was er die ganze Zeit hier tat. Er war nicht hier, um dabeizustehen, während ich seine Schriftrollen übersetzte, wie ich anfangs dachte. Nein. David hatte einen anderen Grund, weshalb er herkam, sich neben mich stellte und mich beobachtete. Er wartete auf den Anblick, in dem ich zusammenbrechen würde, was ich letzte Nacht schließlich tat.«

«Warum? Was will er?«

«Er will mich, Judy. Oder vielmehr, er will meinen Körper. «Sie rückte unwillkürlich von ihm ab und starrte ihn aus großen, ungläubigen Augen an.»Nein!«flüsterte sie heiser.»Doch, es ist wahr. David schert sich einen Dreck um mich, Judy. Er will nur in meinen Körper schlüpfen, damit er nach Israel zurückkehren kann.«

«O Ben, das ist doch irrsinnig!«

«Verdammt noch mal, sag das nicht! Ich bin völlig in Ordnung!«Sie sah die Adern an seinem Hals hervortreten, sah, wie ihm beim Schreien Speichel aus dem Mund lief.»Hör zu, Ben, das kann unmöglich so sein«, meinte sie beschwichtigend.»David würde dir nicht weh tun. Er ist doch. dein Freund.«

«Oh, aber verstehst du nicht? Es tut überhaupt nicht weh. Es ist sogar sehr schön. «Ben lachte in sich hinein.»Er hat mir gezeigt, wie angenehm es sein kann, ins alte Jerusalem zurückzukehren. «Oh, lieber Gott, dachte Judy in panischem Schrecken.»Was willst du jetzt tun?«fragte sie mit erstickter Stimme.

«Ich weiß es nicht, Judy. Ich habe mir noch nicht so viele Gedanken darüber gemacht. Vielleicht werde ich David die Entscheidung überlassen.«»Meinst du. meinst du, du wirst es zulassen, daß er. dich beherrscht.«

«Warum nicht?«

Judy spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte.»Aber Ben, du bist doch dein eigener Herr! Was wird aus dir, wenn sich David auch deines Geistes bemächtigt? Was wird dann aus Benjamin Messer?«

«Benjamin Messer kann von mir aus zur Hölle fahren, zusammen mit seiner geistesgestörten Mutter und seinem heldenhaften Vater. Siehst du, ich habe letzte Nacht, nachdem du gegangen warst, eine Menge Veränderungen durchgemacht.«

«Und?«

«David zeigte mir, was für ein Mensch ich in Wirklichkeit war. Was für ein elender Tropf er eigentlich ist, dieser Ben Messer, der seine Mutter im Stich ließ und sich seines verstorbenen Vaters schämte. Ich war von Anfang an ein niederträchtiges Kind und ein noch schlechterer Jude.«

«Aber Ben, für das alles kannst du doch nichts. So, wie du aufgezogen wurdest.«

«Ich denke, ich werde mit David glücklicher sein. «Sie wandte sich von ihm ab und rang verzweifelt die Hände.»Und was wird aus mir?«

«Aus dir? Nun ja, ich werde dich natürlich mitnehmen. «Judy fuhr herum. Bens blaue Augen waren hell und durchdringend. Seine Züge entspannten sich, und auf seinem Gesicht zeigte sich ein unbefangenes Lächeln. Er sah aus wie ein Mann, der ein Picknick auf dem Land organisiert.»Mich. mitnehmen.?«

«Aber sicher. Das wäre Davids Wunsch, und es ist auch ganz bestimmt der meine. «Ben griff nach ihrer Hand, drückte sie zart und sagte sanft.»Du hast doch nicht geglaubt, ich würde ohne dich gehen, oder?«

Völlig unbeherrscht schossen ihr Tränen in die Augen. Sie war nun schon eine ganze Weile in Ben verliebt, und es trieb sie zur Verzweiflung, zu sehen, was mit ihm geschehen war. Sie beschloß, ihm ab sofort nicht mehr von der Seite zu weichen. Sie würde in seine Wohnung ziehen und diese Sache bis zum Ende mit ihm durchstehen. Und wenn es kein Ende gäbe.

Genau in diesem Moment klopfte es an die Tür, und Ben sprang auf, um zu öffnen. Sie konnte die Person auf der anderen Seite nicht sehen, aber sie hörte eine Stimme:»Ein Telegramm aus Übersee für Dr. Messer. Normalerweise geben wir den Eingang eines Telegramms telefonisch durch, aber Ihr Telefon ist defekt. Wußten Sie das?«

«Ja, ja, danke. «Ben quittierte für das Telegramm, gab dem Boten ein Trinkgeld und schloß langsam die Tür.»Es ist von Weatherby«, verkündete er.

«Wahrscheinlich hat er versucht dich anzurufen, und es klappte nicht. Ich wette, er will wissen, warum du ihm keine Übersetzungen geschickt hast.«

«Ja, du hast recht. «Ohne es zu öffnen, warf Ben das Telegramm auf das Couchtischchen. Dann nahm er Judys leere Tasse.»Soll ich dir nachschenken?«

«Ja bitte. Tu diesmal viel Sahne hinein.«

Als Ben in der Küche verschwand, schaute Judy auf den zerknitterten braunen Umschlag auf dem Couchtischchen. Und eine frostige Vorahnung überkam sie. Nein, dachte sie traurig. Mit diesem Telegramm hat es mehr auf sich, als wir denken. Sonst hätte Weatherby wohl nur einen gewöhnlichen Brief geschickt.

Mit großer Besorgnis nahm sie den Umschlag und schlitzte ihn auf. Als sie die kürze Nachricht darinnen las, blieb ihr fast das Herz stehen.»O Gott!«flüsterte sie und begann zu zittern. Wieder einmal befand sie sich in einer verzwickten Lage. Sie wußte nicht, wie sie Ben die Neuigkeit beibringen sollte. Oder ob sie ihm überhaupt etwas davon sagen sollte. Aber auf der anderen Seite würde er ohnehin bald dahinterkommen, und es war besser für ihn, es von ihr zu erfahren.

Müde erhob sich Judy von der Couch. Sie war sich ihrer Gefühle in diesem Augenblick nicht sicher. Sie wußte nicht, ob sie über die Nachricht glücklich, traurig oder ärgerlich war. In gewisser Hinsicht war sie alles auf einmal.

Ben kam pfeifend ins Wohnzimmer, und als er Judys Miene sah, blieb er unvermittelt stehen.»Was ist los?«

«Es ist wegen Weatherby«, antwortete sie mit fester Stimme.»O Ben.«

Rasch stellte er die Tassen auf dem Couchtischchen ab und griff nach dem Telegramm.

Judy sagte:»Ich weiß nicht, ob ich schreien oder lachen oder weinen soll, Ben. Dr. Weatherby hat drei weitere Schriftrollen gefunden.«

Kapitel Fünfzehn

Die Tage, die bis zum Eintreffen von Nummer elf vergingen, waren für Ben und Judy eine schier unerträgliche Zeit. Judy hatte eine halbe Stunde gebraucht, um nach Hause zu hetzen, ein paar Dinge zusammenzupacken, Bruno der Obhut eines Nachbarn anzuvertrauen und wieder zurückzueilen. Hatte die Nachricht vom Ende der Rollen Ben fast zusammenbrechen lassen, so brachte ihn die Neuigkeit von drei weiteren Rollen nun völlig aus dem Gleichgewicht. Sie erlebte mit, wie er beständig zwischen drei Zeitebenen hin- und hersprang. Für einen Augenblick war er in der Gegenwart ganz normal und gesprächig; im nächsten Moment befand er sich wieder als armer, gequälter Junge in Brooklyn, und gleich darauf genoß er als David Ben Jona unter einem Olivenbaum eine Mahlzeit aus getrocknetem Fisch und Käse. Dann kam er wieder in die Gegenwart zurück und konnte sich nicht mehr erinnern, was in den letzten Minuten geschehen war.»Ich habe keine Kontrolle darüber!«schrie er an diesem Abend verzweifelt.»Ich kann es nicht bekämpfen. Wenn David von mir Besitz ergreift, läßt er mich das sehen, was er will!«

Und wenn Ben in diesen Zustand geriet, nahm Judy ihn in die Arme und wiegte ihn, bis er ruhig wurde.

An diesem Abend löste sie eine Schlaftablette in etwas warmem Wein auf und verhalf ihm damit zum ersten erholsamen Schlaf seit vielen Tagen. Nachdem er in seinem Bett fest eingeschlafen war und mit friedlichem Gesicht und ruhig atmend dalag, machte sie sich mit einem Kopfkissen und einer Decke ein Lager auf der Couch zurecht und lag noch lange wach, bevor sie ebenfalls einschlief.

Am nächsten Morgen, nach einer traumlosen Nacht, schien es Ben schon wesentlich besser zu gehen. Er duschte, rasierte sich und zog frische Kleider an. Obgleich er nach außen hin fröhlich schien, bemerkte Judy darunter die Anzeichen der Unruhe — ruckartige Handbewegungen, rasche, flüchtige Blicke, ein gezwungenes, nervöses Lachen. Sie wußte, daß Ben begierig war, die nächste Rolle zu bekommen, und sie war sich auch darüber im klaren, daß seine Unruhe mit jedem Tag zunehmen würde.

Sie spürte es auch. Eine weitere Rolle. ja sogar drei weitere Schriftrollen! So wären diese drei Rollen diejenigen, welche die unbeschriebenen sechzehn Jahre ausfüllen würden. Sie würden von der Entwicklung der Messias-Bewegung berichten und die schändliche Tat enthüllen, die David begangen hatte und für die er sterben sollte. Auch Judy sehnte die Ankunft der Rolle herbei und hoffte verzweifelt, daß alles vorüber wäre, bevor Ben den letzten Rest seines gesunden Menschenverstandes einbüßte.

Am Sonntag gelang es ihr, ihn abzulenken, indem sie ihn in Diskussionen verwickelte und noch einmal seine bisherigen Übersetzungen mit ihm durchging. Stundenlang saß er da und starrte auf die aramäische Schrift auf dem Papyrus, und Judy wußte, daß er zweitausend Jahre von ihr entfernt weilte und gerade einen ruhigen Tag im Leben von David Ben Jona verlebte. Sie unternahm nicht einmal den Versuch, ihn aus dieser Welt zu reißen, denn er schien mit sich selbst im reinen und vollkommen zufrieden. Sie kam zu dem Schluß, daß es im Augenblick besser war, ihn Davids friedvollen Tag in Ruhe genießen zu lassen, als ihn in die stürmische Gegenwart zurückzuholen. Denn wenn er wieder er selbst war und in dieser Wirklichkeit lebte, war er nervös und hörte nicht auf, hin und her zu laufen. Und wenn er wieder in seine Kindheit zurückglitt und die Schreckensszenen mit seiner verrückten

Mutter durchlebte, weinte er und rief Verwünschungen auf Jiddisch und warf sich hin und her.

So ließ ihn Judy in seiner Traumwelt und hoffte, daß er dort bleiben möge, bis die nächste Rolle eintraf.