Ich war traurig und glücklich zugleich. Ich schwitzte unter der Sonne im Olivenhain und aß Fisch und Käse. Die Abende waren ruhig und mild, und in Gedanken weilte ich oft bei der sanften Rebekka. Möglicherweise hätte ich mit diesem Leben für den Rest meiner Tage zufrieden sein können, doch sollte es anders kommen.
Ich erzähle Dir dies, mein Sohn, damit Du weißt, daß unsere größten Pläne ganz einfach zunichte gemacht werden können. Gott allein plant unser Schicksal, und wir haben keinen Einfluß darauf. Das Leben ist wie ein Fluß, der ständig in Bewegung ist, und du kannst deine Hand nicht zweimal an derselben Stelle eintauchen.
Wieder einmal sollte mein Leben eine Wendung nehmen. Es trat etwas ein, das im Grunde nur einen weiteren Schritt hin zu der unausweichlichen Stunde darstellte, über die ich Dir bald berichten werde. Das Verbrechen, das ich letzten Endes beging und von dem Du zweifellos bereits gehört hast, war das Endergebnis von vielen derartigen Umwegen und Änderungen in meinem Leben. Mein ganzes Planen und meine ganze Macht hätten mich nicht daran hindern können, in dieser verhängnisvollen Stunde so zu handeln.
Ebenso, wie mein Leben einen anderen Verlauf nahm, als mein Vater mich von Magdala zum Studium nach Jerusalem schickte, ebenso, wie ich in Ungnade fiel und von der Schule gewiesen wurde, so brachte mich ein drittes Ereignis wieder auf die Straße, an deren Ende das Verhängnis wartete.
Ich war dabei, Öl von unserer Presse zum Verkauf auf den Marktplatz zu bringen. Ich wartete mit den Eseln, die die fünf Tonkrüge trugen, geduldig in der Schlange, die sich langsam durch das Goldene Tor wand. Und als ich müßig in der Sonne stand und zufällig aufsah, erspähte ich ein bekanntes Gesicht in der Menge. Es war Salmonides, der Grieche.
Ein aufgeregtes Klopfen drang von der Tür her zu Ben.»Lieber Himmel!«rief er, als er aufsprang. Er riß die Tür auf.»Judy!«
«Hallo, ich wollte gerade.«
«Bin ich vielleicht froh, Sie zu sehen!«Ben nahm sie bei der Hand und zog sie in die Wohnung.»Er hat Salmonides gefunden!«
«Was?«
«David hat Salmonides gefunden! Kommen Sie, wir können es zusammen lesen!«Er zog Judy hinter sich her ins Arbeitszimmer und bedachte sie mit einem strahlenden, breiten
Lächeln.»Können Sie das glauben? Was meinen Sie, wie sich David wohl verhält? Hoffentlich haut er dem Griechen gehörig die Hucke voll!«Ben verstummte, als er ihren ernsten Gesichtsausdruck bemerkte. Als nächstes gewahrte er die zusammengefaltete Zeitung in ihrer Hand.»Was ist das?«
«Haben Sie es noch nicht gesehen?«
«Es gesehen? Was gesehen?«
Mit zitternden Fingern schlug Judy die Zeitung auf und breitete sie vor Ben aus. Dieser starrte ungläubig auf die Titelseite. Die Schlagzeile lautete:
JESUS-HANDSCHRIFTEN GEFUNDEN?
«Was zum Teu. «Er riß ihr die Zeitung aus der Hand.»Jesus-Handschriften! Was zum Henker soll das für ein schlechter Scherz sein!«
«Es ist kein Scherz.«
«Jesus-Handschriften! Jesus-Handschriften! Ach, um Gottes willen!«Er hielt die Zeitung mit ausgestreckten Armen von sich und starrte entgeistert darauf. Dann fiel er rücklings in seinen Sessel.»Jesus-Handschriften gefunden! Und noch dazu mit einem Fragezeichen versehen! Gott, ist das vielleicht billig!«
Unter der Überschrift war das Foto einer Nachrichtenagentur abgedruckt, das Dr. John Weatherby mit einem der großen Tonkrüge in den Armen am Rande der Ausgrabungsstätte zeigte. Die Unterschrift des Bildes lautete:»Archäologe Dr. John Weatherby aus Südkalifornien hält einen Tonkrug, der eine der in Khirbet Migdal gefundenen Schriftrollen enthielt.«
Ben starrte ungläubig auf die Zeitung, als wäre er vom Blitz getroffen worden.
«Lesen Sie die Geschichte«, forderte Judy ihn auf. Sie räumte sich einen Platz auf dem Schreibtisch frei und setzte sich auf die Kante. Ihr Gesicht wirkte blaß und traurig. Sie hatte ihm diese Neuigkeit nur sehr ungern überbracht.
«Das ist verheerend«, murmelte Ben.»Ich kann es einfach nicht glauben!«
«Nun, das mußte ja irgendwann passieren. Sie können nicht erwarten, daß sich so etwas lange geheimhalten läßt. «Ben zitierte aus dem Artikel.»Hören Sie sich das an: Daß es sich dabei um einen bedeutenderen Fund handeln könnte als bei den Qumran-Handschriften vom Toten Meer, wurde heute von einem Archäologen vor Ort angedeutet, der wörtlich sagte: >Das hier wird ein bedeutenderer Fund sein als die Qumran-Handschriften vom Toten Meer.<«Ben schaute zu Judy auf.»Ach du lieber Himmel, was ist denn das für ein Journalismus?«Er las weiter.»Zum Inhalt der Schriftrollen wollte sich Dr. Weatherby bislang noch nicht äußern. Er teilte mit, der Text werde erst dann veröffentlicht, wenn die Übersetzung abgeschlossen sei. Die Rollen werden gegenwärtig von drei Experten auf dem Gebiet der Handschriftenkunde in Amerika und Großbritannien übersetzt. Bislang kann man über Bedeutung und Inhalt des Fundes nur Vermutungen anstellen. «Ben schleuderte die Zeitung auf den Boden.»Vermutungen anstellen, ja, aber um Gottes willen. Jesus-Handschriften!«
«Das steigert die Auflage, Ben.«
«Ich weiß, daß es die Auflage steigert. Wem sagen Sie das? Darum heißt es in der Überschrift auch nicht: >David Ben Jona — Handschriften gefunden< Wer kennt schon David Ben Jona? Dagegen weiß jeder, wer Jesus war. Ach, du meine Güte! Haben Sie gelesen, wie begierig sie solche Namen wie Galiläa und Magdala aufgreifen! >Zur Zeit Jesu<. Was zum Teufel hat dieser Jesus eigentlich getan, das ihn so verdammt bedeutend macht?«
Judy war bestürzt darüber, Ben so außer sich zu sehen. Sie wußte, welchen Schmerz ihm die entwürdigende Vermarktung seiner kostbaren Schriftrollen bereitete, wußte, daß er es nicht ertragen konnte, daß David Ben Jona wie ein exotischer Vogel vor ein Publikum gezerrt wurde. Sie war ebenfalls betroffen, wenn auch weit weniger als er.»Als nächstes werden sie einen Hollywood-Film daraus machen«, fuhr er fort,»mit zwei SexIdolen in den Rollen von David und Rebekka. Auf der Madison Avenue werden T-Shirts und Auto-Aufkleber verkauft. Sie werden daraus so viel Kapital schlagen wie möglich. O Judy. «Er schüttelte den Kopf, als wollte er anfangen zu weinen.»Ich kann es nicht ertragen, daß sie David so etwas antun. Sie werden ihn nicht verstehen. Nicht wie wir es tun.«
«Ich weiß.«
Als Ben sich ein wenig beruhigt hatte, hob er die Zeitung vom Boden auf und überflog sie noch einmal. Was für ein schändliches Medienspektakel würde die Presse daraus machen. Sie würden begierig jede Einzelheit aufgreifen und sie verzerren. Die Tatsache, daß der Autor der Schriftrollen ein sanfter, frommer Jude war, der seinem einzigen Sohn ein privates Geständnis abzulegen hatte, würde überhaupt keine Beachtung finden. Statt dessen würden sie es ausschlachten, daß die Schriftrollen ausgerechnet am See Genezareth gefunden wurden, und mit Schlagwörtern wie Magdala und >zur Zeit Christi< aufwarten.»Das steigert die Auflage, in der Tat«, murmelte er traurig.»Ich schätze, Weatherby hatte gar keine Wahl.«
«Da bin ich mir sicher.«
«Sehen Sie sich das an. «Er tippte mit dem Finger auf eine Textstelle.»Sie erwähnen den Fluch. Den Fluch Mose, als handelte es sich dabei um irgendeinen komischen, lachhaften Einfall. Sie werden sehen, morgen steht in der Überschrift irgend etwas über den Fluch. Sie bringen es fertig und finden einen, der während der Ausgrabung verletzt oder krank wurde, und das schreiben sie dann dem Fluch zu. «Ben schaute müde zu Judy auf.»Ich kann das nicht aushalten. Ich hatte gestern eine schreckliche Nacht. Es war die schlimmste meines Lebens. Ich glaubte allen Ernstes, ich würde sterben.«
«Wieder Alpträume?«
Er nickte.
Judy wollte gerade weiterreden, da klingelte das Telefon. Ben schien es nicht zu hören. Beim fünften Klingeln nahm Judy den Hörer ab und meldete sich:»Hallo?«Es war Professor Cox.
Judy legte ihre Hand auf die Hörmuschel.»Er sagt, Sie seien um fünf mit ihm verabredet.«
Ben schaute auf seine Armbanduhr.»Ach du großer Gott! Ich kann nicht hingehen. Nicht jetzt. Hören Sie, sagen Sie ihm. sagen Sie ihm, daß es in meiner Familie einen Todesfall gegeben habe und daß ich es vor Schmerz kaum aushalten könne und daß ich verreisen müsse und eine Vertretung für meinen Unterricht brauchte. «Judy starrte ihn mit offenem Mund an.
«Machen Sie schon. Sagen Sie ihm das. Sagen Sie ihm, daß ich mich in ein paar Tagen mit ihm in Verbindung setzen werde und daß es mir wirklich leid tut.«
Sie zögerte abermals, unsicher, was sie tun sollte. Schließlich, als sie sah, daß sie wirklich keine Wahl hatte, setzte sie Professor Cox, so gut sie konnte, auseinander, was Ben gesagt hatte, legte auf und starrte ihn wieder an.»Was ist los?«
«Ihr Unterricht.«
«Ich kann keinen Unterricht geben, Judy. Nicht jetzt. Sie wissen das. Ich kann keine Minute von David lassen — oder besser. er wird nicht von mir lassen. Er verfolgt mich, hält mich gefangen und wird mir keine Atempause geben, bevor ich nicht seine ganze Geschichte kenne.«
Ohne eine weitere Überlegung zu äußern, wandte sich Ben von ihr ab und beugte sich über das nächste Papyrus-Stück. Als er zu lesen begann, musterte Judy ihn eingehend, sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, die tiefen Falten, die sich um seinen Mund herum eingegraben hatten. Ben war in den letzten Tagen deutlich gealtert.
Nachdem sie einige Zeit nachgedacht hatte, legte sie ihm schließlich sanft eine Hand auf die Schulter.»Ben?«Er schien nicht zu hören.»Ben?«
«Hm?«Er blickte auf.»Wann haben Sie zum letzten Mal gegessen?«
«Gegessen? Ich weiß nicht. Kann nicht lange her sein. Erst vor. erst vor. «Er runzelte die Stirn.»Ich erinnere mich nicht.«
«Kein Wunder, daß Sie Alpträume haben. Sie müssen ja am Verhungern sein. Ich werde nachsehen, ob ich in der Küche etwas für Sie finde.«
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