«Weißt du, Benjy«, hatte Solomon Liebowitz bei ihrer letzten Begegnung gesagt,»du bist dir nur selbst nicht ganz klar darüber, warum du dem jüdischen Glauben den Rücken kehren willst.«
«Ich habe nicht gesagt, daß ich ihm den Rücken kehren wolle. Ich werde trotzdem noch Jude bleiben.«
«Aber kein orthodoxer, Benjy, und damit bist du überhaupt kein Jude mehr. Du hast die Thora und die Synagoge aufgegeben, Benjy, und ich kann einfach nicht verstehen, warum.«
Ben hatte die Ohnmacht in seinem Inneren gespürt. Wie konnte er seinem besten Freund Solomon erklären, wie konnte er ihm begreiflich machen, daß er, um von seiner unglücklichen Vergangenheit loszukommen, sich auch vom Judentum lösen mußte? Weil Judentum und Unglück für Ben unentwirrbar miteinander verflochten waren.
«Es wird deine Mutter ins Grab bringen«, hatte Solomon gewarnt.»Sie hat Schlimmeres durchgemacht.«
«Wirklich, Benjy? Hat sie das?«
Dieser letzte Abschied von Solomon war einer der schmerzlichsten Augenblicke in Bens Leben gewesen. Und jetzt, als er sich in seinen Alpträumen verzweifelt auf der Couch wand, strömten all die quälenden Erinnerungen an Rosa Messer und Solomon Liebowitz zu ihm zurück.
Im letzten Traum stand Ben David gegenüber. Der stattliche, bärtige und fein gekleidete Jude sagte in Aramäisch:»Du bist ein Jude, Benjamin Messer, ein Mitglied von Gottes auserwähltem Volk. Es war falsch, dein eigenes Volk durch deine Feigheit im Stich zu lassen. Dein Vater ist im Kampf für die Würde der Juden gestorben. Doch du würdest davor Reißaus nehmen, als handelte es sich um etwas Unreines.«
«Warum verfolgst du mich?«schrie Ben im Schlaf.»Ich verfolge dich nicht. Du verfolgst dich selbst. Kapitel siebenundzwanzig, Vers fünfundzwanzig.«
Das Klingeln des Telefons riß ihn aus dem Schlaf. Er hob völlig verwirrt ab. Am anderen Ende hörte er Dr. Cox’ Stimme klar und deutlich. Es war Nachmittag, und Ben war schon zum dritten Mal nicht zum Unterricht erschienen. Was stimmte nicht? Ben hörte sich selbst als Entschuldigung irgend etwas von Krankheit murmeln. Dann vereinbarte er mit Professor Cox, sich um fünf Uhr in dessen Büro mit ihm zu treffen. Ob er denn persönliche Probleme habe, ob ein Lehrer als Vertretung nötig sei.»Das sieht dir ja überhaupt nicht ähnlich, Ben.«
«Ja, ja, danke. Bis um fünf dann.«
Ben legte auf und wandte sich ruckartig vom Telefon ab. Ein leichter Schmerz rumorte in seinem Kopf und ein noch größerer in seinem Magen. Ohne richtig darüber nachzudenken, lief er schnurstracks in die Küche und durchstöberte die Schränke nach etwas Eßbarem.
Schließlich fand er eine Büchse mit Suppe, leerte sie in einen Topf, stellte den Topf auf den Herd und verließ die Küche. Ihm war so schlecht wie noch nie zuvor in seinem Leben. Es überstieg körperliches Unbehagen bei weitem, denn die Gründe für diese Übelkeit waren in den Abgründen seiner Seele zu suchen. Ben fühlte sich durch und durch krank, gequält von den gräßlichen Alpträumen, die ihn verfolgten.
Er ließ sich auf die Couch zurückplumpsen und starrte wie betäubt vor sich hin. Er war unglaublich müde. Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte noch etwa eine Stunde bis zur Postzustellung an — noch eine Stunde, bevor er wieder in Jerusalem sein, in Davids Haut schlüpfen und der Gegenwart entfliehen konnte. Eine qualvolle Stunde des Wartens auf die nächste Rolle, wenn es überhaupt eine solche geben würde. War Weatherby am Ende angelangt? Ben rieb sich mit den Fäusten die Augen. Irgendwann letzte Woche hatte Weatherby ihm mitgeteilt, er habe vier weitere Rollen gefunden. Wann war das gewesen? Hatte Ben sie etwa schon gelesen?» O Gott, bitte nicht«, flüsterte er.»Mach, daß die Rollen nicht eher enden, als bis ich sie alle gelesen habe. Ich muß herausfinden, was David mir sagen will. Ich muß wissen, warum er gerade mich auswählte.«
Die Stunde verbrachte Ben träumend im Jerusalem der Antike. Er schloß die Augen, legte den Kopf nach hinten und glitt sanft in eine andere Welt hinüber. In West Los Angeles fiel grauer Regen, doch in Jerusalem war es heiß und sonnig. Die Straßen waren staubig und erfüllt von dem ständigen Summen der Fliegen. Hunde schliefen im spärlichen Schatten, und die Bettler waren nirgends zu sehen. Ben ging zusammen mit seinem Freund David spazieren. Sie gingen auf das Tor zu, das zu den Gärten jenseits der Stadt führte. Sie würden der Straße nach Bethanien folgen, den Kidron überqueren und den alten Händler auf dem Ölberg besuchen. Vielleicht würden sie auch im Schatten eines Olivenbaumes etwas Wein trinken und die müßigen Stunden ungestört mit Scherzen und Lachen verbringen. Es war ein gutes Gefühl, einen Nachmittag mit David zu verleben, und Ben kehrte nur ungern in die Wirklichkeit zurück. Nur aus einem Grund tat er es dennoch. Der Postbote würde bald vorbeikommen. Mit einem Satz erwachte er plötzlich wieder zum Leben, stürmte zum Garderobenschrank und zog hastig eine Jacke daraus hervor.»Okay, David, mein Freund. Nun wollen wir hoffen, daß du mich nicht enttäuschst.«
Er sprang die Stufen hinunter und blieb jäh vor den Briefkästen stehen. Ein kurzer Blick ergab, daß die Post noch nicht dagewesen war. So ließ er sich auf den kalten, feuchten Stufen nieder und wartete. Fünfzehn Minuten vergingen. Ben war außer sich vor Ungeduld. Er begann, in dem glitschigen Durchgang auf und ab zu gehen und kümmerte sich nicht um den Nieselregen, der auf ihn herabfiel. Je näher der Augenblick rückte, da er die nächste Rolle lesen würde, desto unerträglicher wurde das Warten. Und als er so mit hinter dem Rücken gefalteten Händen hin- und herlief, war sich Ben völlig darüber im klaren, daß ein unsichtbarer Geist an seiner Seite harrte. Es war David Ben Jona. Er paßte auf, daß die nächste Rolle auch sicher ankäme.
Als der Briefträger auftauchte, stürzte Ben auf ihn zu.»Messer? Wohnung dreihundertzwei? Lassen Sie mich nachschauen. «Der Mann blätterte die Post in seinen kalten Händen durch.»Muß wohl ein Scheck sein. Richtig? Es scheint, daß sich nur Leute, die auf Schecks warten, in der Nähe der Briefkästen herumtreiben. «Er hatte den Stoß fertig durchgesehen.»Nee, da gibt es keinen Brief für Messer. Tut mir leid.«
Ben schrie beinahe auf.»Es muß aber einer dabei sein! Sehen Sie noch einmal nach. Ein großer, brauner Umschlag.«
«Schauen Sie, Mister, Sie können sich selbst überzeugen. Hier ist nichts dabei.«
«Wie steht es denn mit Ihrer Tasche? Schauen Sie doch dort einmal nach!«
«Für diese Adresse ist da nichts drin.«
«Er ist eingeschrieben!«rief er.»Ein eingeschriebener Brief!«Der Briefträger hob den Zeigefinger.»Oh, ein Einschreiben, sagen Sie. Ja. Da habe ich eines für diesen Block. Der Empfänger ist gewöhnlich nie zu Hause, um dafür zu quittieren. Lassen Sie mich nachsehen. «Er durchstöberte ein Seitenfach seiner Ledertasche.»Hier ist es. Nicht zu glauben. Es ist tatsächlich für Sie. Wenn Sie hier bitte unterschreiben wollen.«
Ben nahm zwei und drei Stufen auf einmal, um nur schnell wieder in die Wohnung zu gelangen. Als er schließlich drinnen war, lehnte er sich schwer atmend gegen die Tür und starrte auf den Umschlag. Eine plötzliche Erregung durchfuhr seinen Körper wie ein Blitz, und in einer Mischung aus Freude, Besorgnis und Überschwang begann er zu zittern.
Während er auf Weatherbys vertraute Handschrift hinabsah, flüsterte Ben:»David. Oh. David.«
Kapitel Elf
Obgleich Eleasar darauf drang, daß ich wieder bei ihm wohnen solle, konnte ich dieses Angebot nicht annehmen. Es war das Heim von braven Leuten, von frommen Juden, und ich fühlte mich nicht länger als einer der Ihren. Ich mußte mich auf meine eigene Weise mit Gott versöhnen und mir selbst einen neuen Lebensinhalt schaffen. Als Eleasar mir eine Lehre in seinem Käseladen anbot, lehnte ich abermals ab. Als mein Vater mich bat, nach Magdala zurückzukehren und dort mein eigenes Fischerboot zu betreiben, schlug ich auch das aus.
Eines Tages ging ich aus der Stadt hinaus und begab mich zu dem Haus des Olivenhändlers, dessen Wein ich damals mit Saul getrunken hatte. Ich erzählte ihm alles, was in diesen sechs Monaten geschehen war, und machte ihm einen Vorschlag. Da er ein kinderloser Witwer war und einen Olivenhain und eine Ölpresse zu bewirtschaften hatte, würde ich für ihn zu einem Lohn arbeiten, der weit unter dem Durchschnittsverdienst eines Tagelöhners lag. Er war froh über mein Angebot, denn er hatte schon etwas Zuneigung zu mir gefaßt und erinnerte sich an die Tage, an denen ich ihm die einsamen Stunden vertrieben hatte. Aber er wollte mir keinen Sklavenlohn bezahlen. Was immer ich auch getan hatte, war geschehen. Die Sünden der Vergangenheit waren vorbei. Wir würden nicht zurückblicken.
Und so kam es, daß ich schweren Herzens von Eleasar Abschied nahm und in der bescheidenen Behausung des Olivenhändlers eine neue Bleibe fand. Ich sah Rebekka selten, aber ich träumte jede Nacht von ihr. Eines Tages, als wir allein miteinander waren und ich es wagte, ihre Hände in die meinen zu nehmen, schwor ich ihr meine Liebe und versprach ihr, daß der Tag kommen werde, an dem ich einen würdigen Ehemann abgäbe. Doch bis dahin mußte ich mich vor Gott und den Menschen bewähren. Ich mußte mich als würdig erweisen, wieder unter Juden leben zu können.
Mit Saul traf ich häufig zusammen. Er kam zur Ölpresse und aß Käse und Brot mit mir. Was er mir von Eleasar und der Schule erzählte, tat mir im Herzen weh, und es war, als ob ein Messer in meiner Brust umgedreht wurde. Und doch bat ich ihn nicht, darüber zu schweigen, denn von diesen Dingen zu hören war meine Strafe. Saul würde eines Tages den Titel des Schriftgelehrten erlangen und hocherhobenen Hauptes durch die Menge schreiten. Ich beneidete ihn darum, und gleichzeitig liebte ich ihn dafür. Eleasar betrachtete ich auch weiterhin wie meinen eigenen Vater. Ihn allein liebte ich mehr als irgendwen sonst, denn er war weise, gerecht und gütig. Auf eigene Faust fuhr ich damit fort, das Gesetz zu studieren, wußte ich doch, daß die Thora für die Juden das Mittel war, ihren Erwählungsauftrag auf Erden zu erfüllen. Wenn ich Fragen hatte, ging ich in die Stadt, setzte mich zu Eleasars Füßen und lauschte seinen Ermahnungen.
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