«Wer seid Ihr?«fragte ich.»Ein Hexenmeister?«
«Ich bin ein Händler aus Antiochia in Syrien. Übermorgen läuft eine Flotte von Joppe nach Ägypten aus. Sie werden dort große Mengen Korn für Rom an Bord nehmen, und wenn alle Schiffe es bis Ostia schaffen, wird das Unternehmen einen Riesengewinn abwerfen.«
«Was wollt Ihr von mir?«
«Der Kapitän dieser Schiffe braucht Geld, um seine Mannschaft zu bezahlen. Als Gegenleistung wird er seine Gewinne teilen. Du, mein Freund, hast nun Gelegenheit, dir einen Anteil an diesem Gewinn zu sichern. Gib mir das Geld, das du besitzt, und in sechs Monaten gebe ich dir dafür eine Riesensumme.«
«Und wenn die Schiffe untergehen?«fragte ich.»Das ist das Risiko, das alle Geldverleiher auf sich nehmen müssen. Wenn sie untergehen, wie es zuweilen vorkommt, wirst du dein Geld verlieren. Wenn sie es dagegen mit dem Korn bis Ostia schaffen.«
Wäre ich nüchtern gewesen, mein Sohn, hätte ich den Griechen nur ausgelacht und ihn stehenlassen. Aber ich war nicht nüchtern. Ich war siebzehn und betrunken und zu allem fähig, um Rebekka zu gewinnen.
Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt ich die Schenke verließ, aber Saul hatte mich wohl nicht gesehen, denn später sagte er, er habe meine Abwesenheit nicht bemerkt. Wie dem auch sei, irgendwie fand ich den Weg zu Eleasars Haus, stolperte, ohne jemanden zu wecken, die Treppe hinauf in mein Zimmer, holte meinen kleinen Geldschatz aus dem Versteck und wankte zurück zur Schenke. Als ich zurückkam, hatte der Grieche bereits einen Vertrag in zwei Ausfertigungen aufgesetzt, und ohne ihn durchzulesen, unterschrieb ich ihn bereitwillig. Salmonides nahm mein Geld und gab mir dafür das Stück Papier.
Und das ist alles von diesem Abend, woran ich mich erinnere. Saul erzählte mir tags darauf, daß er einmal zufällig aufgeblickt und mich schlafend an einem Tisch gesehen habe, an dem ich allein saß. Und so habe er sich von der Gruppe, mit der er zusammengesessen hatte, verabschiedet, mich auf seinen breiten Schultern nach Hause getragen und dort zu Bett gebracht. Der nächste Tag sollte der schlimmste meines Lebens werden. Die Scham war größer als irgendeine Last, die ich in meinem Leben getragen hatte. Ich erniedrigte mich vor Eleasar und schüttete ihm mein Herz aus. Während ich mit gesenktem Blick sprach, hörte er in ernster Stille zu. Ich erzählte ihm, daß ich mich in der Öffentlichkeit betrunken hatte, daß ich mich in der Gesellschaft nackter Mädchen und schändlicher Heiden aufgehalten hatte, daß ich reichlich Schweinefleisch gegessen und schließlich Salmonides mein ganzes Geld gegeben hatte.
Als ich fertig war, saß Eleasar für einen Augenblick in tödlichem Stillschweigen da. Dann stieß er einen solchen Schrei aus, daß ich vor Angst zitterte. Er schlug sich an die Brust, raufte sich das Haar und schrie heraus:»Womit habe ich das verdient, o Herr? Worin habe ich gefehlt? War es nicht dieser Knabe, in den ich meine größten Hoffnungen setzte und der als größter Rabbiner in Judäa meine Nachfolge hätte antreten sollen? Womit habe ich das nur verdient, o Herr?«
Eleasar fiel auf die Knie und tat lautstark kund, welches Unglück ihm widerfahren sei. Er gab sich selbst die Schuld an meiner Missetat, klagte, daß er als Lehrer versagt habe, und jammerte, daß er Gott enttäuscht habe, indem er seinen besten Schüler vom rechten Weg abgehen ließ.
Ich weinte mit ihm, bis die Tränen meine Ärmel durchnäßt hatten und ich nicht mehr weinen konnte. Als ich nur noch trockene Schluchzer von mir gab, schaute ich zu Eleasar auf und sah auf seinem Gesicht, wie groß sein Schmerz war.»Du hast Gottes heiliges Gesetz besudelt«, sagte er erbarmungslos.»David Ben Jona, durch dein eigenes Tun hast du den Bund Abrahams mit Füßen getreten und alle Juden vor Gott beschämt. Habe ich dich nicht recht gelehrt? Wie konntest du nur derart in die Irre gehen und so tief sinken?«
Saul, den der Wein nicht betrunken gemacht hatte, der das Schweinefleisch zurückgewiesen und kein Geld an einen Griechen verloren hatte, war bei Eleasar ebenfalls nicht mehr gut angesehen, und doch war es nicht dasselbe. Eleasar war auf Saul nicht so stolz gewesen wie auf mich. Er hatte in Saul nicht den Nachfolger für sein eigenes erhabenes Amt und für die Weiterführung der Tradition erblickt. Und wegen alldem blieb Saul ein Verweis von der Schule erspart. Anders verhielt es sich mit mir. Eleasar betrachtete meine abscheulichen Sünden als eine ihm persönlich zugefügte Schmach. Ich hatte ihn enttäuscht, und ich hatte das göttliche Gesetz beschmutzt. Es durfte keine Gnade für mich geben. Noch am selben Tage verbannte mich Eleasar aus seinem Haus und legte ein Gelübde ab, daß er mich niemals mehr als seinen Sohn ansehen wolle. Ich packte meine armselige Habe zusammen und lief auf die Straße hinaus, ohne zu wissen, wohin ich gehen oder was ich tun sollte.
Als Eleasars Tür hinter mir zufiel, war es, als hätte Gott selbst mir den Rücken zugekehrt. Ohne Eleasar und die Schule, beladen mit Schande und im Bewußtsein, daß ich jetzt weder als Ehemann für Rebekka noch für ein Leben unter Juden in Frage kam, erwägte ich ernstlich, mir das Leben zu nehmen.
Ben fühlte etwas an seiner Wange, und als er daran rieb, fand er eine Träne. Die Wirkung von Davids Worten, den tiefen Eindruck, den sie beim Lesen auf ihn machten, setzten Ben in Erstaunen. Als würde sich die Verzweiflung des alten Juden auf ihn übertragen, fühlte Ben sich innerlich krank und furchtbar elend. Er mußte fortfahren. Er mußte die letzten beiden Teilstücke von Rolle sechs lesen. Doch sein Blick war von Tränen verschleiert, und seine Nase fing an zu laufen. Er brauchte ein Taschentuch.
Ben stand vom Schreibtisch auf und drehte sich um.»Liebe Güte!«entfuhr es ihm.
Angie stand im Türrahmen.»Hallo, Ben«, begrüßte sie ihn mit sanfter Stimme.
«Mensch, was fällt dir eigentlich ein, dich so klammheimlich heranzuschleichen?«Er faßte sich an die Brust.
«Es tut mir leid, aber ich klopfte und klopfte. Ich habe Licht bei dir gesehen. So dachte ich mir, daß du zu Hause sein mußt. Ich bin mit meinem Schlüssel hereingekommen.«
«Wie lange hast du da gestanden?«
«Lange genug, um mich ein paarmal zu räuspern und keine Antwort von dir zu bekommen.«
«Mensch.«, wiederholte er und schüttelte den Kopf.»Für eine Weile war ich wieder in Jerusalem. «Ben nahm das Blatt
Papier, auf das er seine Übersetzung gekritzelt hatte.»Ich erinnere mich nicht einmal daran, das hier geschrieben zu haben. Alles, woran ich mich erinnere, ist, daß ich in Jerusalem war.«
«Ben.«
Er wandte sich zu ihr um.»Ben, wo warst du letzte Nacht?«
«Letzte Nacht?«Er rieb sich das Gesicht. Letzte Nacht, wann war das?» Laß mich nachdenken. Letzte Nacht war ich.. ich war hier. Warum?«
Angie wandte sich ab und ging langsam in das dunkle Wohnzimmer. Eine sternklare Nacht schien durch die offenen Vorhänge hinein, und rundum herrschte eine frostige Stille. Ben wollte ihr folgen, doch dann spürte er, daß er wie magisch an den Schreibtisch zurückgezogen wurde. Als er über die Schulter sah, fiel sein Blick auf den noch unübersetzten Teil von Rolle Nummer sechs im Schein der Leselampe. Er fühlte eine kalte Leere in seinem Innern. Davids Worte hatten ihn völlig niedergeschmettert. Er wollte sich mit Angie auf keine Diskussion einlassen. Er mußte wieder nach Jerusalem zurück.»Ben. «Angie wirbelte herum.»Ich habe dich gestern nacht angerufen, und eine Frau nahm den Hörer ab.«
«Was? Das ist unmöglich. Du hast sicher die falsche Nummer gewählt.«
«Sie meldete sich mit: >Bei Dr. Messer.< Wie viele Dr. Messers, glaubst du, gibt es in West Los Angeles?«
«Aber das ist doch albern, Angie. «Er unterbrach sich mitten im Satz und runzelte die Stirn.»Warte mal. Jetzt erinnere ich mich. Das war wohl Judy.«
«Judy!«
«Ja. Ich bin nach draußen gegangen, um Pizza zu holen.«
«Was für eine Judy?«Angies Stimme wurde lauter.»Eine Studentin von mir namens Judy Golden, die hier war, um etwas für mich auf der Maschine zu tippen.«
«Wie nett.«
«Ach, jetzt stell dich doch nicht so an, Angie. Eifersucht steht dir nicht. Sie hat etwas für mich abgetippt, nichts weiter. Ich habe weder dir noch irgend jemandem sonst Rechenschaft darüber abzulegen, was ich tue.«
«Ganz recht, das hast du nicht. «Obgleich es ihm nicht möglich war, ihren Gesichtsausdruck im Dunkeln zu erkennen, konnte er ihn sich doch anhand des Klangs ihrer Stimme vorstellen. Sie zitterte und versuchte, sich selbst in der Gewalt zu behalten. Die gute, alte leidenschaftslose, sich stets beherrschende Angie.»Bist du hergekommen, um zu streiten? Ist es das?«
«Ben, ich bin gekommen, weil ich dich liebe. Kannst du das nicht verstehen?«
«Werde doch nicht gleich so melodramatisch. Ich lasse eine Studentin Tipparbeiten für mich erledigen, und schon müssen wir uns gegenseitig unsere Liebe beweisen. Lieber Himmel, Angie, kannst du mir nicht einfach glauben und es dabei belassen?«
Ein lähmendes Stillschweigen herrschte im Raum. Angie war verwirrt, bestürzt. Früher war Ben so berechenbar gewesen. Sie hatte stets gewußt, wie er reagieren oder was er sagen würde. Warum war jetzt alles so anders?
Mit matter Stimme stellte sie fest:»Du hast dich verändert, Ben.«
«Und du ziehst falsche Schlußfolgerungen!«Er lachte nervös.»Wenn irgendjemand sich verändert hat, meine Hübsche, dann bist du es. Ich mußte mich dir gegenüber niemals rechtfertigen. Es bestand nie die Notwendigkeit großartiger Liebesbezeugungen. Was ist denn plötzlich in dich gefahren?«
Sie ging auf ihn zu. Als das Licht der Schreibtischlampe auf ihr Gesicht fiel, konnte Ben den seltsamen Blick in ihren Augen erkennen.
«Es geht nicht darum, was in mich gefahren ist«, erwiderte sie langsam.»Es geht darum, was in dich gefahren ist. Oder vielmehr. «Ihre Augen schweiften von seinem Gesicht ab und blieben an einem Punkt über seiner Schulter haften.»Vielmehr. wer in dich gefahren ist. «Eine kleine Sorgenfalte zeigte sich zwischen ihren Augenbrauen, als sie die Stirn runzelte.»Du bist nicht mehr der alte seit der Entdeckung dieser Schriftrollen. Ich kenne dich seit über drei Jahren, Ben, und ich habe geglaubt, dich besser zu kennen als irgend jemand sonst. Aber in den letzten paar Tagen bist du mir vorgekommen wie ein Fremder. Ich bin dabei, dich zu verlieren, Ben, ich verliere dich schnell, und ich weiß nicht, wie ich dich zurückholen kann. «Als Ben sah, daß Angie Tränen in die Augen schossen, zog er sie plötzlich an sich und preßte ihr Gesicht gegen seinen Hals. Eine unheimliche Furcht schwebte in diesem Moment über ihm, und es war ihm, als stünde er am Rande eines großen, schwarzen Abgrundes. Er schaute hinunter, konnte aber nichts sehen als tiefschwarze Finsternis. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an Angie und schwankte zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen Wirklichkeit und Alptraum. Ben erkannte in diesem Augenblick, daß er selbst jetzt, da er versuchte, sich an Angie festzuhalten, immer weiter an den Rand des Abgrunds glitt.
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