«Die anderen beiden erhalten ebenfalls Auszüge und arbeiten in der gleichen Weise wie ich. Übersetzer arbeiten gewöhnlich in Teams, aber Weatherby möchte, daß wir getrennt und ohne gegenseitige Hilfe zu Werke gehen. Er glaubt nämlich, daß wir auf diese Weise genauere Übersetzungen liefern werden. Und ich schätze, er wählte uns drei, weil wir ein Geheimnis für uns behalten können.«

«Warum? Was ist denn dabei das Geheimnis?«

«Na ja, das hängt mit unserem Beruf zusammen. Manchmal ist es einfach besser, eine phantastische Entdeckung noch eine Weile für sich zu behalten, bis alles vorbereitet und fertiggestellt ist, um erst dann damit an die Öffentlichkeit zu treten. Die Authentizität eines solchen Fundes könnte in Zweifel gezogen werden, und dann muß man gewappnet sein, um seine Forschungsergebnisse zu verteidigen. In unserem Tätigkeitsfeld gibt es immer kleine Eifersüchteleien. «Ben wollte nicht noch weitergehen. Angie würde es nicht verstehen. Und auch sonst kein Außenstehender, denn es war nicht leicht zu erklären. Man konnte einen makellosen wissenschaftlichen Ruf haben und mit ehrlichen Methoden arbeiten, immer fand sich einer, der alles anfechten würde. Sogar wegen der Qumran-Schriftrollen war seinerzeit weltweit ein Meinungsstreit unter Wissenschaftlern ausgebrochen.

Selbst bei naturwissenschaftlichen Entdeckungen war so etwas möglich.

«Du hast mir noch immer nicht verraten, was nun gerade an diesen Rollen so besonders ist.«

«Nun, einerseits sind sie die ersten ihrer Art, die je gefunden wurden. Alle antiken Schriftrollen, die heute auf der ganzen Welt in Museen und Universitäten aufbewahrt werden, haben durchweg einen religiösen oder irgendwie >offiziellen< Inhalt, beispielsweise als Verwaltungs- oder Gesetzesaufzeichnung. Und sie wurden alle von Priestern, Mönchen oder sonstigen Schriftgelehrten verfaßt. Der Durchschnittsmensch, der in diesen Zeiten lebte, schrieb niemals Dinge nieder, wie du und ich es tun. Deshalb ist noch nie zuvor etwas gefunden worden, was sich mit Weatherbys Rollen vergleichen ließe. Verstehst du, ein normaler Bürger, der persönliche Worte niederschreibt.«

«Was für Worte?«

«Es sieht aus wie eine Art Brief oder Tagebuch. Er sagt, er habe eine Beichte abzulegen.«

«Also werden die Rollen dadurch berühmt, weil sie die einzigen ihrer Art sind.«

«Deshalb und dann natürlich«, Ben kniff die Augen zusammen und zeigte ein verschmitztes Lächeln,»wegen des Fluchs.«

«Ein Fluch?«

«Irgendwie ist es ja romantisch, ein Versteck mit alten Schriftrollen zu finden, die mit einem Fluch behaftet sind. Weatherby erzählte mir am Telefon davon. Wie es scheint, war der Jude namens David Ben Jona, der die Rollen schrieb, vermutlich als alter Mann, fest entschlossen, seine kostbaren Handschriften sicher zu bewahren, und griff daher auf einen uralten Fluch zurück. Den Fluch Mose.«

«Den Fluch Mose!«

«Er stammt aus dem Fünften Buch Mose, Kapitel achtundzwanzig. Dort findet sich eine ganze Reihe schrecklicher Flüche. Wie etwa von einer schlimmen Feuersbrunst heimgesucht und auf ewig von Grind und Krätze verfolgt zu werden. Ich denke, David Ben Jona hatte diese Rollen wirklich schützen wollen. Er mußte wohl geglaubt haben, dies sei genug, um jeden Unbefugten in Angst und Schrecken zu versetzen und von den Rollen fernzuhalten.«

«Nun, Weatherby hat es anscheinend nicht abgeschreckt. «Ben lachte.»Ich bezweifle, ob der Fluch nach zweitausend Jahren noch viel von seiner Kraft hat. Aber wenn Weatherby jetzt plötzlich von Grind und Krätze befallen wird.«

«Hör auf!«Angie rieb sich die Arme.»Brrr. Ich kriege Gänsehaut davon.«

Beide starrten wieder ins Feuer, und Angie, die sich an das verblichene Pergament erinnerte, das sie im» Schrein des Buches «gesehen hatten, fragte:»Warum waren die Rollen von Qumran eine so phantastische Entdeckung?«

«Weil sie den Beweis für die Richtigkeit der Bibel lieferten. Und das ist keine Kleinigkeit.«

«Ist das dann nicht bedeutender als das, was Dr. Weatherbys Rollen zu sagen haben?«

Ben schüttelte den Kopf.»Nicht vom Standpunkt der Geschichtsschreibung. Wir haben genug Bibeltexte, die uns das verraten, was. wir über die Entwicklung der Bibel durch die Jahrhunderte hindurch wissen müssen. Was wir nicht besitzen, ist eine hinreichende Kenntnis darüber, wie sich zu jenen Zeiten das tägliche Leben abspielte. Religiöse Schriftrollen wie die vom Toten Meer enthalten beispielsweise Prophezeiungen und Glaubensbekenntnisse, doch sie sagen uns nichts über die Zeit, in der sie geschrieben wurden, oder über die Menschen, die sie verfaßten. Weatherbys Rollen dagegen. Großer Gott!«entfuhr es ihm plötzlich.»Ein persönliches Tagebuch aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert! Denk nur mal an die Wissenslücken, die dadurch geschlossen werden könnten!«

«Was ist, wenn sie älter sind? Vielleicht aus dem ersten Jahrhundert?«

Ben zuckte die Schultern.»Das ist möglich, aber um das sagen zu können, ist es noch zu früh. Weatherby tippt auf das späte zweite Jahrhundert. Die Radiokarbonmethode kann es nicht weiter für uns eingrenzen. Letztendlich hängt es von meiner Analyse des Schreibstils ab. Erst sie wird uns Aufschluß darüber geben, wann David Ben Jona gelebt hat. Dabei ist meine Tätigkeit keine exakte Wissenschaft. Aus dem zu schließen, was ich bislang gelesen habe, könnte der alte David Ben Jona zu jeder x-beliebigen Zeit innerhalb einer Epoche von dreihundert Jahren gelebt haben.«

Ein verträumter Blick zeigte sich auf Angies Gesicht. Es war ihr gerade etwas eingefallen.»Aber das erste Jahrhundert wäre das phantastischste, nicht wahr?«

«Natürlich. Neben den Qumran-Handschriften, den Briefen von Bar Kochba und den Schriftrollen von Masada existiert nach heutiger Kenntnis kein weiteres aramäisches Schriftstück aus der Zeit Christi.«

«Meinst du, er wird darin erwähnt?«

«Wer?«

«Jesus.«

«Oh, na ja, ich glaube nicht. «Ben wandte seinen Blick von ihr ab. Für ihn war die Wendung» aus der Zeit Christi «lediglich ein Instrument zum Festlegen des historischen Maßstabs. Es war einfacher, als zu sagen» vom Jahr vier vor unserer Zeitrechnung bis etwa zum Jahr siebzig nach unserer Zeitrechnung «oder» nach-augustinisch und präflavianisch«. Es war nur ein Kürzel zur Bezeichnung dieser bestimmten Epoche in der Geschichte. Ben besaß seine eigene Theorie über den Mann, den die Leute Christus nannten. Und diese wich von der Norm ab.

«Du wirst also anhand der Schriften herausfinden können, wann es geschrieben wurde?«

«Das will ich hoffen. Die Schreibstile veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte. Die Handschrift selbst, das benutzte Alphabet und die Sprache sind meine drei Maßstäbe. Ich werde Weatherbys Rollen mit anderen vergleichen, die wir heute schon besitzen, wie etwa die von Masada, und sehen, inwieweit der Schreibstil übereinstimmt. Nun haben wir nach der chemischen Analyse des Papyrus ein hypothetisches Entstehungsdatum von vierzig C. E. mit einer Spannweite von zweihundert Jahren. Das bedeutet, der Papyrus wurde zwischen hundertsechzig B. C. E. und zweihundertvierzig C. E. hergestellt.«

«Was heißt C. E.?«

«Es steht für Common Era und bedeutet dasselbe wie A. D. >Anno Domini< oder >Christi Geburtc, beinhaltet aber keine religiöse Anspielung. Archäologen und Theologen benutzen es. Aber es ist ja auch einerlei, wie man sich bei der Zeitangabe nun ausdrückt. Die Radiokarbonmethode funktioniert prima bei prähistorischen Schädeln, wo ein so großer zeitlicher Spielraum nicht weiter stört. Aber wenn man eine relativ kleine Zeitspanne vor ungefähr zweitausend Jahren eingrenzen will, dann ist ein Spielraum von zweihundert Jahren praktisch überhaupt keine Hilfe. Er bildet lediglich die Grundlage, von der man ausgeht. Dann versuchen wir, anhand der Bodentiefe, in der die Ausgrabung gemacht wurde, ein Datum zu bestimmen. Ältere Schichten liegen darunter, und Lagen aus jüngeren Jahren breiten sich darüber aus. Wie geologische Bodenschichten. Doch nachdem dies alles geschehen ist, müssen wir uns für das endgültige Datum doch wieder der Schrift selbst zuwenden. Und bisher schreibt dieser

David Ben Jona in einer Art, die große Ähnlichkeit mit den Handschriften vom Toten Meer aufweist und die man irgendwann zwischen hundert vor Christus und zweihundert nach Christus datieren kann.«

«Vielleicht erwähnt dieser David in seinem Schriftstück etwas, was dir einen genauen Anhaltspunkt geben könnte, einen Namen, ein Ereignis oder sonst etwas.«

Ben, der eben sein Glas zu den Lippen führen wollte, hielt auf halbem Weg inne und starrte Angie an. Darauf war er selbst noch gar nicht gekommen. Und warum sollte es auch nicht möglich sein? Schließlich hatte das erste Bruchstück ja bereits bewiesen, daß diese Migdal-Schriftrollen sich von allen bisherigen unterschieden. Es war möglich. Alles war möglich.

«Ich weiß nicht, Angie«, antwortete er langsam.»Daß er uns ein Datum nennt. auf soviel darf man wohl nicht hoffen. «Sie zuckte die Achseln.»So wie du redest, könnte man meinen, daß du nicht einmal auf die Rollen selbst hättest hoffen dürfen. Und dennoch sind sie da.«

Ben blickte sie abermals erstaunt an. Angies Fähigkeit, selbst die wunderlichsten Ereignisse ganz beiläufig hinzunehmen, überraschte ihn immer wieder. Und doch, so überlegte er jetzt, während er ihren gleichgültigen Gesichtsausdruck studierte, war es vielleicht nicht so sehr die Gelassenheit, mit der sie gewisse Ereignisse hinnahm, sondern vielmehr die Gelassenheit, mit der sie sie abtat. Sie besaß die Fähigkeit, alles mit der gleichen nüchternen Sachlichkeit aufzunehmen, sei es nun die Tageszeit oder die Nachricht von einer Katastrophe. Angie war keine Frau von heftigen Leidenschaften. Niemals hatte sie etwas an den Tag gelegt, was auch nur annähernd einem Gefühlsausbruch gleichkam. Und sie schien in der Tat stolz darauf zu sein, eine höchst gleichmütige Person zu sein. Selbst in Krisensituationen verlor sie nie die Fassung. Eine beliebte Anekdote, die in ihrem