Das Markus-Evangelium war kurz vor der Zerstörung Jerusalems verfaßt worden, als in Rom eine heftige antijüdische Stimmung geherrscht hatte. Da Markus nicht imstande gewesen wäre, die dortigen Heiden zum neuen Christentum zu bekehren, wenn die römischen Statthalter für die Ermordung des Messias verantwortlich gewesen wären, hatte er einfach die Schuld von Pilatus auf die Juden abgewälzt— eine einfache Lösung, um zu erreichen, daß sein Evangelium in Rom akzeptiert würde. Als Ben sich langsam von seinem

Wagen entfernte, schüttelte er traurig den Kopf. Soviel zu dem Jesusmörder!

Ein Fetzen Papier war an dem großen, etwas mitgenommenen Umschlag befestigt, der Ben entgegenfiel, als er seinen Briefkasten öffnete. Darauf hatte sein Nachbar eine kurze Notiz gekritzelt. Der Postbote war wieder mit einem Einschreibebrief dagewesen und hatte eben den gelben Abholzettel in Bens Kasten werfen wollen, als der Musiker zufällig vorbeigekommen war. Er hatte wieder dafür quittiert.

In unermeßlicher Dankbarkeit drückte Ben den Umschlag an sich. Er würde diesem Burschen die teuerste Flasche Wein kaufen, die er finden konnte.

Dann hastete er so schnell er konnte die Treppe hinauf, stürmte in die Wohnung und in sein Arbeitszimmer, wo er sich auf seinen Stuhl fallen ließ und den Umschlag hastig aufriß. Obenauf lag die übliche schlecht getippte Mitteilung von Weatherby, und darunter befand sich ein weiterer versiegelter Umschlag. Er war dick und fühlte sich an, als enthielte er eine Menge Fotografien. Ohne die Notiz auch nur zu lesen, warf Ben sie vor sich auf den Schreibtisch, riß den zweiten Umschlag auf und zog liebevoll die Bilder daraus hervor. Vor ihm lag die vertraute Handschrift von David Ben Jona.

Rebekka war ein scheues, stilles Mädchen, das sich in meiner Gegenwart oft schüchtern hinter seinem Schleier versteckte. Ich weiß nicht, wann ich zum erstenmal spürte, daß ich sie liebte, aber es war ein Gefühl, das immer stärker wurde. Ich weiß nicht, was Rebekka für mich empfand, denn sie schlug oft die Augen nieder, wenn ich sie ansah. Für mich war sie wie ein zerbrechliches, kleines Vögelchen, so zart und kostbar. Sie hatte winzige Hände und Füße und kleine Sommersprossen im Gesicht. Und wann immer sie mich aus ihren schönen blaßgrünen Augen ansah, glaubte ich, das Entzücken selbst zu sehen.

Ich hätte in meiner Liebe zu der sanften Rebekka glücklich sein können, und doch war ich es nicht, denn die Gedanken an sie machten es mir oft schwer, mich auf mein Studium zu konzentrieren. Eleasar bemerkte es und gab mir weise Ratschläge. Aber es war nicht leicht, ihnen zu folgen. Ich war siebzehn und hätte Rebekka liebend gern zur Frau genommen. Was hätte ich ihr aber bieten können? Ich war arm. Als Schüler des Gesetzes hatte ich ein bescheidenes Leben zu führen und meine Freude einzig und allein aus der Ehre zu schöpfen, dem Rabbi dienen zu dürfen. Meine Kleidung war grob und schlicht. Jedesmal, wenn ich Rebekka sah, versuchte ich, die ausgefransten Ränder meines Umhangs zu verdecken oder die Stellen zu verbergen, auf die ich Flicken genäht hatte.

Rebekka schien keinen Anstoß an meiner Armut zu nehmen, und dennoch war ich mir nicht sicher, ob sie unter diesen Umständen eingewilligt hätte, meine Braut zu werden.

Ich hatte noch mehrere Jahre unter Rabbi Eleasar vor mir, bevor ich mein eigener Herr wäre. Und selbst dann, wenn ich Schriftgelehrter wäre, würde ich erst einmal Zeit brauchen, um das für eine Verbindung mit Rebekka nötige Geld und Ansehen zu erwerben. Ich erzähle Dir all dies, mein Sohn, weil es in direktem Zusammenhang zu dem steht, was als nächstes geschah — ein Ereignis, das möglicherweise den entscheidenden Wendepunkt meines Lebens herbeiführte. Und danach kam alles, wie es kommen mußte, bis zu jenem späteren Ereignis, über das Du die Wahrheit erfahren mußt und das der eigentliche Grund ist, warum ich dies schreibe. Doch im Augenblick muß ich Dir erst erzählen, was meine Liebe zu Rebekka und meine Armut bewirkten. In der freien Zeit, die Eleasar uns nun gewährte, führten Saul und ich ein sorgloses Leben. An einem Nachmittag und an einem Abend pro Woche durften wir das Studium ruhen lassen. Dann schlenderten wir durch die Straßen Jerusalems, erforschten die Gärten jenseits der Stadtmauern oder besuchten Freunde. Während wir uns im Gedränge des Marktplatzes voranschoben, stiegen uns die intensiven Gerüche von exotischen Speisen, teuren Düften, gegerbtem Leder und menschlichen Ausdünstungen in die Nase. Außergewöhnliche Anblicke übten eine magische Anziehungskraft auf uns aus: der Sklavenmarkt, die Stadttore, an denen täglich Fremde um Einlaß baten, die schönen heidnischen Frauen in ihren Sänften, Schlangenbeschwörer, Straßenmusikanten und römische Soldaten in ihren roten Umhängen. Jerusalem mit seinen vielen Gesichtern, Stimmen und Farben hörte nie auf, uns zu unterhalten. Und doch war ich in Gedanken meist bei Rebekka. Ich ging so oft mit ihr aus, wie ich konnte, ohne bei ihr Anstoß zu erregen, denn wir waren nicht verlobt. Und Eleasar sagte oft zu mir:»David Ben Jona, du darfst dich durch diese Betörung nicht vom Gesetz abbringen lassen. Wenn du nur ein einziges Mal bei der Befolgung des göttlichen Gesetzes schwankst, wenn du je in einer solchen Weise davon abkommst, daß du ihm Schande machst, dann wäre es gerade so, als hättest du auf das Allerheiligste gespuckt. Denn der Schriftgelehrte steht in einer Hinsicht über allen Menschen: Er ist auf dieser Erde, um Abrahams heiligen Bund zu schützen und dafür zu sorgen, daß das auserwählte Volk sich niemals von Gott abkehrt. Wenn du durch deine Vernarrtheit in Rebekka das Volk im Stich lassen solltest, dann hast du Gott im Stich gelassen, und das ist unverzeihlich.«

«Aber was kann ich tun, Rabbi? Ich muß ständig an sie denken. Und wenn ich neben ihr sitze, spüre ich eine merkwürdige Schwäche in meinen Lenden.«

Er antwortete:»Alle Diener Gottes werden in ihrem Leben viele Male in Versuchung geführt, und sie müssen dagegen ankämpfen. Das Einhalten des göttlichen Gesetzes ist keine leichte Aufgabe, und deshalb stehen wir über anderen Menschen. Durch unser Vorbild werden sie das Gesetz befolgen. Und das Gesetz muß an erster Stelle kommen, David. Wenn du ihm wegen dieses Mädchens den Rücken kehrtest, dann wäre es besser, du hättest nie das Licht der Welt erblickt.«

So tobte in meinem Innern ein Kampf. Ich sah keinen Ausweg. Ich mußte an meinem Studium festhalten und Rebekka vergessen. Doch ich konnte es nicht. Und eines Nachts, mein Sohn, trug das Fleisch den Sieg über meinen Geist davon.

Saul und ich hatten in einem der Gärten jenseits der Stadtmauern Oliven gegessen. Haus und Garten gehörten einem alten Mann, der allein lebte und sich über unsere Gesellschaft freute. Als die Sonne zu sinken begann, bat er uns, noch ein Weilchen zu bleiben, weil er so einsam sei. Er bot uns dafür von seinem besten Wein an. Saul und ich hatten in unserem Leben nur sehr wenig davon getrunken, denn Eleasar erinnerte uns beständig an Noahs Schwäche. Wir blieben und tranken etwas Wein mit ihm, in der Absicht, gleich zu gehen. Doch als der Wein erst einmal unser Blut erwärmt hatte, schien jeglicher Widerstand zu schwinden. Und so blieben wir und labten uns an des alten Olivenhändlers Wein. Als wir endlich aufbrachen, war ich ziemlich erhitzt und hatte mich nicht mehr ganz in der Gewalt. Der große, kräftige Saul schien hingegen nur wenig davon berührt zu sein. Wir sangen auf unserem Weg durch die engen, gewundenen Gassen Jerusalems und stießen schließlich durch Zufall auf eine berüchtigte Schenke. Keiner von uns hatte je zuvor eine Schenke besucht, so daß unsere Neugierde wuchs, als wir draußen vor der Tür standen und auf der anderen Seite die Lichter sahen und von drinnen fröhliche Stimmen hörten. Es war Saul, der vorschlug, wir sollten hineingehen und uns drinnen umsehen. Und ich willigte ohne weiteres ein. Wir erregten großes Aufsehen, so ärmlich wie wir gekleidet waren, mit unseren langen, schwarzen Bärten und unseren Schläfenlocken. Da sie selten Rabbinenschüler in ihrer Mitte sahen, luden uns die Heiden ein, uns zu ihnen zu setzen und uns mit ihnen zu unterhalten. Sie brachten uns Krüge mit ungewässertem Wein, den wir zuerst ablehnen wollten, schließlich aber doch tranken. Dabei schauten wir ganz unverhohlen auf junge Mädchen, die mit nackten Brüsten tanzten und sich von fremden Männern berühren ließen. Saul und ich waren befremdet, und doch starrten wir wie gebannt darauf. In der überfüllten Schenke gab es Kameltreiber, römische Soldaten und ähnliche Männer, die viel in der Welt herumgekommen waren. Sie erzählten uns Geschichten von fremden Völkern am anderen Ende der Welt, von Seeungeheuern und Fabelwesen und von fernen Orten, so daß uns vor Staunen der Mund offen stand. Ich weiß nicht genau, wann ich Salmonides traf; ob er schon die ganze Zeit über dagewesen war oder sich erst später zu uns gesellt hatte. Alles, woran ich mich entsinne, ist, daß ich ihn in meiner Benommenheit plötzlich neben mir sitzen sah und daß er mir eine lange, weiße Hand auf den Arm gelegt hatte. Er hatte ein merkwürdiges, zeitloses Gesicht, dazu weißes Haar und unergründliche blaue Augen. Er sprach ausgezeichnet Aramäisch, als ob es seine Muttersprache gewesen wäre.

Ich muß ihm wohl mein Leid in bezug auf Rebekka und meine Armut geklagt haben, denn er sagte:»Es gibt nur einen sicheren Weg, das Herz einer Frau zu gewinnen, und zwar durch Geld. Du mußt dein Studium nicht aufgeben, um von ihr ein Heiratsversprechen zu erlangen. Du mußt nur beweisen, daß du eines Tages in der Lage sein wirst, gut und anständig für sie zu sorgen. Dann wird sie sich einverstanden erklären, auf dich zu warten. Ich weiß das, denn die Frauen sind überall auf der Welt gleich. «Ich gab mir große Mühe, sein Gesicht deutlich zu sehen, aber ich vermochte es nicht. Wie aus weiter Ferne konnte ich Saul in Gesellschaft einiger Männer lachen hören. Unser Tisch war beladen mit Wein und Käse und Schweinswürsten, und alles war so köstlich, daß ich mich bis obenhin damit vollstopfte. Ich war ebenso berauscht vom Essen wie vom Wein und achtete daher nur wenig darauf, was ich sagte. Ich mußte Salmonides gegenüber wohl mein kleines Geldversteck erwähnt haben, denn er fuhr fort:»Geld wächst, wie es die Zeder und die Palme tun. Pflanze deine Schekel, mein redlicher Jude, und beobachte, wie sie zu großen Sesterzen sprießen.«