Er lief zur Garderobe.»Ich werde nicht lange brauchen. Die Pizzeria ist gerade hier um die Ecke, und es geht immer sehr schnell. Gewöhnlich hole ich mir dort etwas, wenn ich viel Arbeit habe. Ich werde auch eine Flasche billigen Wein dazu kaufen. Was halten Sie davon?«
«Einfach toll.«
Nachdem er gegangen war, schlenderte Judy durch die Wohnung und nahm einige der Kunstgegenstände in Augenschein. Es waren vorwiegend Sachen aus dem Mittleren Osten, viele Geräte aus archäologischen Funden, ein paar Souvenirs und schließlich der übliche, in besseren Häusern anzutreffende Nippes. Sie stand gerade vor dem Aquarell vom Nil und den Pyramiden, als das Telefon klingelte.
Ohne zu zögern, nahm Judy den Hörer ab.»Hallo?«Am anderen Ende der Leitung trat eine kurze Stille ein, dann hörte sie, wie aufgelegt wurde.
Judy wollte eben weggehen, als das Telefon abermals klingelte. Diesmal nahm sie ab und sagte:»Bei Dr. Messer«, aber der andere Teilnehmer legte wiederum auf.
Es klingelte kein drittes Mal mehr, und als Ben schließlich mit dem Wein und der Pizza nach Hause kam und Judy ihm von den Anrufen erzählte, zuckte er nur die Schultern und meinte:»Wenn es wichtig ist, werden sie schon zurückrufen.«
Sie breiteten die Pappschachtel auf dem Kaffeetischchen aus, holten Gläser und Servietten und nahmen die Pizza in Angriff.»Sie haben einige interessante Dinge in Ihrer Wohnung«, bemerkte Judy, während sie von ihren Fingern Käsefäden ableckte.»Alles Beute von meinen Reisen.«
«Ich mag dieses Gemälde dort.«
«Die Pyramiden? Ja, es ist auch eines von meinen Lieblingsbildern. Es bringt Erinnerungen zurück. «Er lachte ein wenig in sich hinein.»Wissen Sie, es gibt da einen Trick, mit dem die Kameltreiber einen bei den Pyramiden aufs Kreuz legen. Es ist eine Touristenattraktion, auf einem Kamel um die Pyramiden herum zu reiten, und es kostet auch nur ein paar Piaster. Wenn Sie jedoch auf dem Höcker des hinterlistigen Tieres dahinschweben und sich gerade richtig großartig fühlen, fängt der Kameltreiber an, Ihnen eine Lügengeschichte aufzutischen, wie sehr er Sie doch ins Herz geschlossen habe und wie gerne er Ihnen einen extra langen Gratis-Ritt zukommen lassen würde. Niemand versteht es besser, einem zu schmeicheln, als ein Araber. So nehmen Sie natürlich gerne an. Der Kameltreiber läuft neben dem Kamel her, während Sie immer weiter in die Wüste hinausreiten, weit genug, daß man Sie nicht mehr hören kann und die Menschen um die Pyramiden herum wie Ameisen wirken. Dann wendet sich der Kameltreiber an Sie, während Sie hoch oben auf seinem reizbaren Tier sitzen, und teilt Ihnen mit, daß es Sie fünf amerikanische Dollar kostet, wieder zurückzukommen.«
«Scherz beiseite! Ist Ihnen das wirklich passiert?«
«So wahr ich hier sitze. Und ich mußte ihn auch bezahlen, sonst wäre ich von seinem Biest womöglich noch zertrampelt worden. Und außerdem ist es ein langer Rückweg über die Sanddünen.«
«Ist er ungeschoren davongekommen?«
«Natürlich nicht. Sobald wir zurückkamen, fand ich einen Polizisten und schilderte ihm den Vorfall. Er verhielt sich wirklich prima in der Sache und brachte den Mann dazu, mir mein Geld zurückzugeben. Die Polizei ist überall in Ägypten und kann manchmal ganz hilfreich sein.«
«Ich beneide Sie. Die weiteste Reise, die ich je nach Osten unternahm, war letztes Jahr eine Fahrt nach Brooklyn. Sind Sie schon einmal dort gewesen?«
«Das will ich meinen. Ich bin dort aufgewachsen.«
«Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Wo ist Ihr Brooklyner Akzent?«
«Ich habe hart daran gearbeitet, ihn loszuwerden.«
«Sie klingen wie ein Kalifornien«
«Danke.«
«Warum? Mochten Sie Brooklyn nicht?«
Ben stellte sein Weinglas ab und wischte sich Gesicht und Hände mit einer frischen Serviette ab. Der Wein begann, seine Wirkung zu tun. Er lehnte sich zurück und starrte vor sich hin.»Es ist schwer zu sagen. Einerseits mag ich Brooklyn, andererseits wieder nicht.«
«Schmerzliche Erinnerungen?«
«Manche, nicht alle. «Er dachte an Salomon Liebowitz.»Ist dort Ihr Bruder gestorben?«
Ben wandte langsam sein Gesicht, so daß er Judy ansehen konnte.»Mein Bruder starb in einem Konzentrationslager in Polen.«
«Oh«, flüsterte sie kaum hörbar.
«Er war noch ein ganz kleiner Junge und verhungerte. Mein Vater ist übrigens auch dort umgekommen.«
«Wo?«
Er schloß die Augen und drehte seinen Kopf weg.»Der Ort hieß Majdanek in Lublin, Polen. Etwa einhundertfünfundzwanzigtausend Juden fanden dort den Tod. Zwei davon waren mein Vater und mein Bruder.«
«Wie sind Sie diesem Schicksal entgangen?«fragte sie leise.»Ich weiß nicht recht. Mein Vater äußerte sich sehr offen gegen die Nazis und bekämpfte sie, wo er konnte. Bevor sie in unser Haus kamen, wurden wir von Nachbarn gewarnt, und so war mein Vater noch imstande, mich mit ihrer Hilfe wegzuschaffen. Ich fand im Haus eines Sympathisanten Aufnahme, während mein Vater, meine Mutter und mein Bruder fortgebracht wurden. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, auch sie zu verstecken.«
«Was geschah mit Ihrer Mutter?«
«Sie überlebte es und kam 1944 aus dem Lager, als die Sowjets es befreiten.«
«Nun. «Judy stellte ihr Glas ebenfalls ab und wischte sich schweigend die Hände an einer Serviette ab. Sie wußte, daß es Ben Messer nicht leichtgefallen war, sich ihr so anzuvertrauen, daß es ihm jetzt vielleicht sogar lieber gewesen wäre, ihr nichts darüber gesagt zu haben. Deshalb fühlte Judy eine gewaltige Verantwortung.»Ich habe keine Familienangehörigen im Krieg verloren. Ich glaube nicht, daß irgend jemand von uns, Cousinen, Tanten, Onkel, davon betroffen waren. So kann ich nur in recht bescheidener Weise mit Ihnen mitfühlen.«
«Hols der Teufel. Es geschah vor über dreißig Jahren.«
«Trotzdem.«
«Ich war fünf, als meine Mutter mich wieder zurückholen konnte. Wir wohnten weiterhin bei Freunden, die ihr irgendwie halfen, eine Arbeit zu finden. Sie war eine ausgezeichnete Näherin, und sie war imstande, ob Sie es glauben oder nicht, in dieser Nachkriegszeit genügend Arbeit zu finden, um sich Geld zusammenzusparen. Fünf Jahre später, als ich zehn war, wanderten wir nach Amerika aus. Meine Mutter arbeitete hart, um uns hier durchzubringen. Ich kann mich an sie erinnern, wie sie den ganzen Tag und die ganze Nacht beim Schein einer einzigen Lampe dasaß, mit einem Haufen änderungsbedürftiger Kleidungsstücke zu ihren Füßen. Sie war eine geschickte und gewissenhafte Näherin, und es mangelte ihr nie an Kundschaft. Aber der Lohn war gering und die Arbeit anstrengend. Es machte sie vorzeitig alt.«
Er wandte sich wieder zu Judy um. Seine Augen glänzten feucht.»Das und Majdanek.«
Judy schwieg. Sie erkannte, daß hier alte Wunden aufgerissen worden waren, und blieb ruhig sitzen, bis er fortfuhr.»Majdanek hatte sie alt und krank gemacht. Als wir nach Amerika kamen, war sie dreiunddreißig Jahre alt, doch jeder hielt sie für meine Großmutter. Mit ihr aufzuwachsen war eine Erfahrung für sich. Sie sprach unablässig von meinem Vater und meinem Bruder, oftmals gerade so, als seien sie noch am Leben. Es war nicht leicht, wir beide allein in einem fremden Land, und vermutlich halfen ihr die Erzählungen über ihre Familie dabei, nicht den Verstand zu verlieren. Sie überhäufte mich mit ihrer Liebe und mütterlichen Fürsorge. Und ich kann es ihr nicht verübeln. Ich war alles, was sie hatte. «Bens Gesicht verzog sich zu einem zynischen Lächeln.»Ich erinnere mich, daß mir immer die Schnürsenkel aufgingen. Bei welchem Kind passiert das nicht? Doch sie machte eine Riesenaffäre daraus. Wenn sie es sah, geriet sie so außer sich, daß sie mir drohte, sie werde sie mir dicht über dem Fuß zunähen. >David<, pflegte sie zu sagen, >wenn du über diese Schnürsenkel stolperst und dir den Hals brichst, dann bin ich ganz allein. Liebst du deine Mutter nicht?< Das arme Geschöpf lebte in der ständigen Angst, mich zu verlieren. Es wundert mich, daß sie mich überhaupt zur Schule gehen ließ.«»Ich kann ihre Gefühle verstehen«, meinte Judy einfühlsam.»Aber warum nannte sie Sie David?«
«Was?«Er hob den Kopf.»Ach, Unsinn. Ich meine natürlich Benjy. Sie nannte mich Benjy.«
Judy räusperte sich und rückte auf der Couch nach vorne.»Es ist spät, und ich sollte jetzt besser gehen.«
«Oh, natürlich.«
Sie stand auf und sah sich nach ihrer Tasche um.»Danke für die Pizza«, sagte sie mit fester Stimme.»Das war sehr nett von Ihnen.«
Ben holte ihren Pullover, der inzwischen getrocknet war. Als er ihr beim Hineinschlüpfen behilflich war, meinte er:»Ich teile es Ihnen mit, sobald ich Rolle Nummer sechs bekomme.«
«Gut.«
Er öffnete seinen Garderobenschrank und zog seine Jacke heraus.»Ich begleite Sie zum Wagen. Man kann nie wissen, wer sich um diese Zeit draußen herumtreibt.«
In melancholischem Stillschweigen gingen sie die Treppe hinunter und traten auf die nasse Straße hinaus. Judy kickte beim Laufen braune Blätter vor sich her und hatte das Gefühl, viel länger als nur einen Abend mit Ben Messer zusammengewesen zu sein. An ihrem Wagen standen sie in dem leichten Dunst und versuchten, die richtigen
Abschiedsworte zu finden. Es war kein x-beliebiger Besuch gewesen — viel war gesagt und viel offengelegt worden. Jetzt teilte Judy Golden Bens Geheimnisse. Sie stand nicht mehr außerhalb seines Lebens.
Er war einen Kopf größer als sie und mußte deshalb nach unten sehen, um ihr zuzulächeln. Tröpfchen sammelten sich auf seinen Brillengläsern und behinderten seine Sicht, aber er konnte erkennen, daß sie zurücklächelte. Sie verstanden sich wortlos.
Schließlich murmelte sie:»Gute Nacht «und stieg ins Auto. Er trat zurück, als sie den Motor anließ, und winkte ihr nach, als sie abfuhr. Während er ihre Rücklichter allmählich verschwinden sah, flüsterte Ben:»Schalom «und ging langsam in seine Wohnung zurück.
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