«Möchten Sie etwas zu essen?«hörte er sich fragen und schreckte von der Lautstärke seiner eigenen Stimme hoch.

«Nein, danke. Bruno und ich haben, kurz bevor Sie anriefen, zu Abend gegessen. Der Kaffee ist völlig ausreichend, danke. «Sie saßen wieder schweigend da und lauschten auf das sanfte Prasseln des Regens gegen das Fenster, während sie sich im Geiste die kahlen, herbstlichen Bäume und die blankgewaschenen Gehsteige ausmalten. Bis Judy ganz unvorbereitet fragte:»Warum sind Sie Paläograph geworden?«

«Was?«

«Warum sind Sie Schriftenkundler geworden?«»Warum? Nun.?«Er runzelte die Stirn und suchte nach einer Antwort.»Niemand hat mir je zuvor diese Frage gestellt. Ich weiß nicht recht. Wahrscheinlich einfach, weil ich mich dafür interessiere.«

«Schon immer?«

«Solange ich mich erinnern kann. Schon als Junge haben mich antike Manuskripte fasziniert. «Ben führte seine Tasse zum Mund und trank schlürfend einen Schluck. Es war tatsächlich so. Niemand hatte ihn je zuvor danach gefragt, und folglich hatte er sich auch nie Gedanken darüber gemacht. Als er nun darüber grübelte, fiel ihm absolut kein Grund ein, warum er sich der Paläographie, der Handschriftenkunde, verschrieben hatte.»Ich glaube, es hat sich wohl einfach so ergeben.«

«Es ist interessant. Aber man muß dafür sehr geduldig sein, was ich nicht bin. Hatten Sie als Kind eine intensive religiöse Erziehung?«

«Ja.«

«Ich nicht. Meine Eltern waren Reformjuden. Und selbst als solche hielten sie sich an keinerlei Gebote. Ich kann mich nicht entsinnen, je den Unterschied zwischen Jom Kippur und Rosch Ha-Schana gekannt zu haben. «Sie nippte ein wenig an ihrem Kaffee und überlegte sich, wie sie ihre nächste Frage formulieren sollte.»Waren Sie sehr klein, als Sie Deutschland verließen?«

«Ich war zehn.«

Sie sah ihn mit ihren großen Augen an, die so ausdrucksvoll und unwiderstehlich waren, und Ben wußte genau, was sie dachte. Es war ein Thema, das er noch nie zuvor angeschnitten hatte, nicht einmal mit Angie, und er erkannte, daß er gefährlich nahe daran war, sich darauf einzulassen.

«Haben Sie Geschwister?«

«Nein.«

«Da haben Sie aber Glück. Ich war eines von fünf Kindern. Drei Brüder und eine Schwester, und ich war in der Mitte. Gott, was für ein Irrenhaus! Mein Vater war Schneider. Er hatte sein eigenes Geschäft und konnte es sich leisten, uns in relativem Wohlstand aufzuziehen. Rachel, meine kleine Schwester, lebt immer noch bei meinen Eltern. Die anderen sind alle verheiratet. Wissen Sie«, sie lachte leise auf,»ich habe mir so oft gewünscht, ein Einzelkind zu sein. Sie hatten Glück.«

«Hm, ich weiß nicht recht«, erwiderte er geistesabwesend. Wie oft hatte er sich als Kind Geschwister gewünscht?» Eigentlich hatte ich ja doch einen älteren Bruder. Aber er starb, als ich noch klein war.«

«Das ist zu traurig. Erinnern Sie sich an Deutschland?«Ben sah Judy ruhig an und fühlte sich seltsam behaglich dabei, sich so mit ihr zu unterhalten. Er wußte, daß sie ihn aus der Reserve locken wollte. Nachdem sie über ihre eigene Vergangenheit gesprochen hatte, würde es ihm leichter fallen, über seine eigene zu sprechen.»Sie wollen wissen, wie es war, während des Krieges ein Jude in Deutschland gewesen zu sein«, stellte er schließlich fest.»Ja.«

Ben schaute gedankenvoll auf seine Hände. Heute scheint der richtige Tag zu sein, um an wunden Punkten zu rühren, dachte er. Zuerst Angie, dann der Alptraum und nun auch noch das.»Wissen Sie, ich habe nie mit jemandem über diesen Abschnitt meines Lebens gesprochen. Nicht einmal meine Verlobte weiß viel über mich vor meinem zwanzigsten Lebensjahr, und sie ist durchaus bereit, es dabei zu belassen. Warum interessieren Sie sich so dafür?«

«Es liegt wohl in meiner Natur. Ich weiß gern über die Leute Bescheid. Darüber, was sie bewegt. Was einen Juden dazu veranlaßt, kein Jude mehr zu sein.«

«Woher wollen Sie wissen, daß ich je einer war?«»Sie sagten, Sie hatten eine religiöse Kindheit?«

«Ja. das sagte ich, nicht wahr? Also gut, ich werde es Ihnen erklären. Ich habe dem jüdischen Glauben tatsächlich den Rücken gekehrt. Aber ich wurde nicht nur ins Judentum hineingeboren, und damit hatte es sich, wie es auch bei Ihnen der Fall war. Ich war einmal ein praktizierender Jude, und dann habe ich es aufgegeben. Eigentlich tat ich sogar mehr als das. Ich wandte mich erhobenen Hauptes davon ab und schlug die Tür hinter mir zu. Zufrieden?«Sie zuckte die Achseln.»Das war keine sehr theologische Antwort.«

«Das habe ich auch nie behauptet. Na ja. «Es war, als spräche er mit sich selbst.»Vielleicht war ich einfach nicht dazu bestimmt, ein Jude zu sein. In der Kindheit wurde ich weiß Gott genug darauf getrimmt. Hebräisch war mir ebenso geläufig wie Jiddisch. Ich besuchte die Jeschiwa und ging jeden Samstag in die Synagoge. Als ich dann neunzehn war, stellte ich fest, daß es einfach nichts für mich war. Und so habe ich es ganz und gar sein lassen.«

«Sind Sie jetzt ein Atheist?«

Erneut fühlte er sich durch ihre Frage unliebsam überrascht.»Junge, Junge, Sie scheuen sich wohl überhaupt nicht davor, persönliche Fragen zu stellen, oder? Sind Sie Atheistin?«

«Ganz und gar nicht. Ich hänge dem Judentum auf meine eigene Weise, an.«

«Ein Judentum nach Ihrem eigenen Gutdünken.«

«Wenn Sie so wollen.«

«Ja, ich bin Atheist. Überrascht Sie das?«

«In gewisser Weise schon. Nur weil es mir sonderbar vorkommt, daß Sie Ihr Leben dem Studium religiöser Schriften widmen, ohne selbst religiös zu sein.«

«Großer Gott, Judy, man muß doch wohl kein Grashüpfer sein, um Insektenkunde zu studieren!«

Sie lachte.»Das ist wahr. Aber trotzdem könnte ich wetten, daß Sie die Thora besser kennen als irgendein Rabbi. «Ben zog die Augenbrauen hoch. Irgendwann in seiner nebelhaften Vergangenheit hatte jemand schon einmal dasselbe zu ihm gesagt. Er konnte sich nur nicht erinnern, wer es gewesen war, aber es hatte in seinem Geist dieselbe Reaktion hervorgerufen. Genau wie damals ertappte sich Ben dabei, wie er dachte: Es ist doch ziemlich seltsam, daß ich über Thora und Judentum vermutlich mehr weiß als beispielsweise der hiesige Rabbi, und doch gibt es dabei diesen großen Unterschied.

Was ist überhaupt Religion? Es ist mehr, als etwas zu wissen, mehr, als etwas auswendig zu lernen und ein Fachmann darin zu sein. Religion ist, etwas zu fühlen.

Und dieses Gefühl, das man gewöhnlich Glauben nannte, war bei Ben nicht vorhanden.

«Warum wurden Sie dann aber Atheist?«hörte er Judy fragen.»Warum haben Sie es nicht einmal mit dem Christentum versucht? Oder mit dem Buddhismus?«

«Es war nicht das Judentum, von dem ich mich abwandte, sondern Gott. Es gibt Leute, die keine Religion brauchen. Sie bringt nämlich nicht jedem den ersehnten Seelenfrieden. Für manche Menschen kann Religion Leid bedeuten.«

«Ja, das kann schon sein. «Sie blickte wieder nach unten auf den Stapel Papier in ihrem Schoß.»Ich frage mich, wie es für David ausgeht. Meinen Sie, daß er ein großer Rabbi wurde? Vielleicht sogar ein Mitglied des Hohen Rats?«

Auch Ben fing an, auf seine übersetzten Seiten zu starren. Er stellte sich einen siebzehnjährigen Juden mit schwarzem, welligem, schulterlangem Haar und den träumerischen Augen eines Propheten vor. David, David, dachte Ben, was versuchst du nur, mir zu sagen? Welche furchtbare Tat ist es, die zu gestehen du deinen ganzen Mut zusammengenommen hast, die du in verborgenen Tonkrügen versiegelt und mit einem mächtigen Fluch geschützt hast? Und dieser Fluch. Bens Miene verdüsterte sich. War es möglich, daß er wirklich über einige Macht verfügte? Könnte er mich etwa in irgendeiner Weise beeinflussen? Ist das der Grund für meine Alpträume, für meine schlaflosen Nächte, für meinen Streit mit Angie? Habe ich deshalb den Eindruck, daß David langsam Einfluß auf mein Leben gewinnt? Kann es sein, daß der Fluch Mose tatsächlich wirkt? — »Dr. Messer?«

Er blickte Judy an. Sie hatte geredet, und er hatte nichts gehört.»Es wird allmählich spät. Deshalb sollte ich mich jetzt vielleicht ans Tippen machen.«

Warum fallen mir so wunderliche Dinge ein? Warum kommen mir Gedanken, die ich nie zuvor hatte, als ob jemand anders sie mir eingäbe.?

«Ja, ans Tippen.«

Sie standen zusammen auf und vertraten sich die Beine. Ben warf einen Blick auf seine Armbanduhr und wurde von der vorgerückten Stunde aufgerüttelt. Wo war nur die Zeit geblieben?

Judy tippte bis spät in die Nacht hinein, wobei sie ab und zu ein paar kürzere Pausen einlegte. Währenddessen saß Ben allein in seinem dunklen Arbeitszimmer. Das Geklapper der Tasten war weniger störend als die immer wieder einkehrende Stille, so daß Ben einmal, als er glaubte, Judy habe ganz aufgehört, aufstand und nach ihr sah. Judy saß, das Kinn auf die Hände gestützt, vor der Schreibmaschine und starrte ins Leere. Einen Augenblick später setzte sie ihre Tipparbeit fort, als hätte sie sich plötzlich auf sich selbst besonnen. Ben kehrte an seinen Schreibtisch zurück, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Wieder zogen die Ereignisse von Rolle Nummer fünf an seinem inneren Auge vorbei. Er verweilte ein wenig bei Rebekka, malte sich den Unterricht in der Vorhalle des Tempels aus, sah sich dabei, wie er den ersten Brief an seinen Vater schrieb, und wunderte sich, daß Eleasar von seiner Tätigkeit als Wasserträger erfahren hatte. Dies waren gute Jahre, damals in Jerusalem, als er im Hause des Rabbis wohnte. Ben wünschte, er könnte diese Jahre noch einmal zurückholen, denn er hegte süße Erinnerungen daran.»Dr. Messer?«

Er ließ seine Hände sinken und setzte sich auf.»Ja?«

«Ich bin fertig.«

«Prima. «Ben stand auf.»Wissen Sie was? Ich bin mit einemmal hungrig. Mögen Sie Pizza?«Judy zögerte.»Passen Sie auf, ich flitze schnell nach unten und besorge uns eine mit allem darauf, was dazugehört. Ich denke, mein Magen hat nichts Eßbares mehr bekommen, seit, nun seit. ich kann mich nicht erinnern, wie lange es schon her ist.«