Ben verbarg sein Gesicht in den Händen und schluchzte verzweifelt. Langsam, als näherte sie sich aus einer großen Entfernung, ließ sich allmählich wieder die Stimme seiner Mutter vernehmen. Sie sagte:»Benjamin Messer, heute bist du dreizehn Jahre alt. Du bist nun ein Mann. Es ist deine Pflicht, der Sohn zu sein, den dein Vater sich wünschte, denn er starb, als er dich beschützte. Ich habe dir nie erzählt, wie dein Vater umkam, Benjamin. Von heute an solltest du es wissen.«

Eine Träne rann zwischen Bens Fingern hindurch, als er so an die Spüle gelehnt dastand und die Szene von vor zweiundzwanzig Jahren noch einmal durchlebte. Und er empfand dasselbe Leid und dieselbe Qual wie damals.

«Benjamin«, sprach Rosa Messer ernst,»du solltest wissen, daß dein Vater von den Nazis getötet wurde. Du solltest wissen, daß er starb, während er Zion für die Juden auf der ganzen Welt verteidigte. Er ging nicht wie ein Lamm in den Tod wie die Juden in Auschwitz, sondern kämpfend wie ein Streiter Gottes. Ich stand hinter einem Zaun und beobachtete, wie die Deutschen deinen Vater aus der Baracke holten, ihn nackt auszogen und ihn zwangen, mit einer Schaufel eine Grube zu graben. Dann, Benjamin, stießen die Nazis deinen Vater in das Loch und begruben ihn bei lebendigem Leib. «Ben wußte, daß es lange her war, seit er gegessen hatte, und doch war ihm jetzt der Gedanke an Essen im höchsten Grad zuwider. Da er zumindest imstande war, Kaffee zu trinken, verdickte er ihn mit Sahne und Zucker und stürzte zwei Tassen hinunter, bevor er sich besser zu fühlen begann.

Der Alptraum hatte eine unglaubliche Wirkung auf ihn gehabt. Jetzt fiel ihm wieder ein, wie er vor zweiundzwanzig Jahren, als seine Mutter ihm zum erstenmal die Wahrheit über den Tod seines Vaters erzählt hatte, von denselben Alpträumen heimgesucht worden war. Sie waren nie genau gleich, lediglich in diesem einen Punkt, dem Gefühl, daß sich etwas unter seinen Füßen bewegte. Er war viele Male tränenüberströmt und schweißgebadet aufgewacht und hatte sogar gelegentlich im Schlaf geschrien. Doch nicht nur der schreckliche Tod seines Vaters hatte Ben die Kindheit zum Greuel gemacht. Verantwortlich dafür waren auch die anderen Erzählungen seiner Mutter von ihren Erlebnissen im Konzentrationslager, mit denen sie ihr Kind belastet hatte. Die langen Abende, an denen er ihren Geschichten lauschte, sich die Greueltaten ausmalte und seine Mutter stundenlang ununterbrochen weinen sah; all dies hatte die Kindheit für Ben Messer zur Trübsal werden lassen, so sehr, daß er sich wünschte, nie als Jude geboren worden zu sein.

Das letzte Mal, als er sich über seinen Vater oder Majdanek Gedanken gemacht hatte, war auch das letzte Mal gewesen, da er mit Salomon Liebowitz zusammengesessen und geredet hatte. Damals war er neunzehn Jahre alt gewesen, und danach hatte er nie wieder geweint.

Ben griff nach den verstreuten Seiten seiner Übersetzung und versuchte, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es hatte ihm wehgetan, von Salomon Abschied zu nehmen, denn Salomon war das einzige Glück seiner Jugend gewesen. Ein Freund, den er liebte, dem er sich anvertraute und auf den er angewiesen war. Aber gleichzeitig wußte Ben, daß er dem Umfeld seiner Kindheit entfliehen mußte, um in einer veränderten Umgebung einen neuen Anfang zu machen. Die alten Straßen von Brooklyn waren voller Erinnerungen. Er mußte ihnen entkommen.

Seine Übersetzung der fünften Rolle war lang — bis dahin war es die längste Rolle — und daher ziemlich unordentlich. Zeilen waren durchgestrichen. Einige Wörter hatte er durchgestrichen und verbessert. Randbemerkungen waren in den Text hineingeschrieben. Und stellenweise stieß er auf seine völlig unleserliche Handschrift. Ben schaute zum Telefon, dann auf die Uhr. Es war sechs Uhr dreißig. Er fragte sich, ob Judy Golden wohl zu Hause war.

Sie war wieder durchnäßt, und trotzdem lächelte sie verschmitzt.»Es tut mir gut«, meinte sie, als sie ihren Pullover zum Trocknen aufhängte.»Ich könnte näher am Haus parken, aber ich laufe gerne durch den Regen.«

Judy trug wieder Jeans und ein T-Shirt. Ihr Haar war feucht und klebte ihr am Kopf und verlieh ihr das Aussehen eines nassen Kätzchens.»Danke, daß Sie alles stehen und liegen gelassen haben und gekommen sind«, sagte Ben.

«Ich mußte gar nichts stehen und liegen lassen. Ich bin gespannt, die Rolle zu lesen. Und Sie sagen, es sei bisher die längste?«Sie gingen ins Wohnzimmer, wo alle Lichter brannten und es wohlig warm war. Gegen die regnerische Nacht war es eine sehr behagliche Atmosphäre.

«Diesmal habe ich richtigen Kaffee für uns zubereitet«, verkündete er auf dem Weg in die Küche. Judy sank auf die Couch und schleuderte ihre Stiefel von sich. Dann zog sie die Knie an und schlang die Arme um die Beine. Ben Messers Wohnung war gemütlich, überhaupt nicht zu vergleichen mit ihrer eigenen, die unordentlich und unaufgeräumt war und von einem riesigen Hund bewohnt wurde, der noch dazu schnarchte. Judy hatte laute Nachbarn zu beiden Seiten, und in der Wohnung über ihr lebte, nach dem Getrampel zu schließen, ein zehnfüßiges Ungeheuer. Sie hatte selten den Frieden und die Ruhe, die Ben zu Hause genießen konnte.

Er kam mit dem Kaffee herein und setzte ihn auf dem niedrigen Tisch ab. Als er neben ihr Platz genommen hatte, deutete er auf den Stoß Papier neben dem Tablett und erklärte:»Rolle Nummer fünf. In all ihrer unleserlichen Pracht.«

Sie grinste.»Wissen Sie, als ich letzte Nacht wegging, stand ich im Eingang Ihres Arbeitszimmers und beobachtete Sie am Schreibtisch. Mann, haben Sie sich vielleicht konzentriert! Ich räusperte mich ein paarmal, und Sie hörten mich nicht einmal. Und Ihre Hand schrieb mit einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern! Es muß eine spannende Rolle sein.«

«Lesen Sie selbst.«

Mit der Kaffeetasse in einer Hand und den Blättern auf ihrem Schoß begann Judy, Rolle Nummer fünf zu lesen.

Lange Zeit vernahm man nichts als den heftigen Regen, der gegen die Fenster klatschte. Gelegentlich konnte man hören, wie sich das Heizgerät an- und ausschaltete, da der Thermostat für eine gleichbleibende Raumtemperatur sorgte. Und Judys schwaches, leises Atmen, während sie die Rolle las.

Ben saß dicht neben ihr und streichelte zerstreut Poppäa Sabina, die auf seinen Schoß gesprungen war. Er konnte seine Augen nicht von Judys Gesicht abwenden, und gleichzeitig wunderte er sich über sie und fragte sich, warum er sie zu sich gerufen hatte. Als ihre großen, braunen Augen langsam über die Zeilen wanderten, erkannte Ben fasziniert, daß sie in eben diesem Augenblick einen Tag im alten Jerusalem durchlebte. Und er fragte sich: Ist das der Grund, warum ich sie hier haben will? Um Davids Erfahrungen mit ihr zu teilen? In der Wärme und Stille der Wohnung, während der Herbstregen ununterbrochen gegen die Fenster prasselte, kam Ben der Erkenntnis, warum er Judy Golden an seiner Seite brauchte, einen Schritt näher. Denn während er von den entfernten Geräuschen des Novemberregens dahingetrieben wurde, glaubte Ben Messer, aus seinem Unterbewußtsein ein sanftes Flüstern zu vernehmen, das ihm sagte: Sie ist hier, weil David es so will.

Als Judy geendet hatte, rührte sie sich nicht von der Stelle, sondern starrte weiter auf die letzte Zeile, die sie gelesen hatte. In der linken Hand hielt sie auf halbem Weg zu ihren Lippen eine Tasse mit kaltem Kaffee. Neben ihr saß Ben, der kaum atmete und in einem Dämmerzustand vor sich hin grübelte.

Endlich brach sie den Bann.»Es ist wunderschön«, flüsterte sie. Ben versuchte, seinen Blick auf Judy zu konzentrieren. Worüber hatte er gerade nachgedacht? Über irgend etwas im Zusammenhang mit David. Ben schüttelte den Kopf und hatte Judy jetzt schärfer im Blickfeld. Er war in Gedanken abgeschweift. Er konnte sich nicht daran erinnern, woran er gedacht hatte. An irgend etwas, was mit David zu tun hatte. Doch nun war es wie weggeblasen.

Ben räusperte sich.»Ja, es ist schön. Wissen Sie, ich bekomme irgendwie ein seltsames Gefühl, wenn ich Davids Worte lese. Wie.beinahe, als ob er direkt zu mir spräche. Wissen Sie, was ich meine? Es ist, als könnte er jeden Augenblick sagen: >Nun, Ben.<«

«Tja, offensichtlich fühlen Sie eine gewisse Verwandtschaft mit ihm. Sie haben doch tatsächlich einige Dinge mit ihm gemein. Dasselbe Alter, beide Juden, beide Gelehrte des Gesetzes. «Ben hörte nicht weiter hin. Sein Blick wanderte die Wände entlang und blieb an einem Aquarell vom Nil und den Pyramiden hängen. Eine andere, aus großer Ferne kommende Stimme trat an die Stelle von Judys Stimme und sagte:»Benjy, dein Vater hat immer gesagt, daß der Herr den Weg der Gerechten behütet, der Weg der Sünder aber in den Abgrund führt. «Jona Messer. Jona Ben Ezekiel.

Dann dachte er an Saul, so kräftig und muskulös neben dem sanften, romantischen David. Und er dachte an Salomon Liebowitz, der den polnischen Rohlingen die Nasen blutig geschlagen hatte. Kann das alles Zufall sein? fragte er sich verwirrt. Ich verstehe es nicht. Es scheint zuviel.

Judys Stimme drang wieder langsam an sein Ohr.»Ich bin sicher, Sie erkennen viel von sich selbst in David, und deshalb bedeuten Ihnen seine Worte so viel.«

Er schaute sie schräg von der Seite an, während er abermals versuchte, ihr Gesicht klar zu sehen.

Judy brachte da einen ganz neuen Gedanken ins Spiel, einen merkwürdigen, schwer faßbaren Gedanken. Ich erkenne viel von mir selbst in David. Was hatte das zu bedeuten? Was bedeutete das alles? Die Übereinstimmungen. David, der zu mir spricht. Judy beugte sich nach vorne, um ihre Kaffeetasse auf dem Glastisch abzustellen, und durch die Bewegung und das Klappern wurde Ben aus seinen Träumen gerissen. Er schüttelte seinen Kopf zum zweitenmal. Seltsame Gedanken. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich darauf komme. Es muß hier drinnen wohl zu warm sein. Vielleicht bin ich auch hungrig.