Nur Jüdisches war gut. Jüdisches war vollkommen, heilig und rein. Und zwischen den zwei Polen — den abscheulichen Deutschen und den geheiligten Juden — war die übrige Welt angesiedelt. Es hatte etwas mit Rosa Messers verzerrtem Bild von den Völkern der Welt zu tun und der Rangfolge, die sie einnahmen. Kein Volk war geringer einzustufen als die Deutschen, denn diese lagen gerade unterhalb der Hölle.»Dr. Messer?«

«Hm? Ah!«Er schnellte mit dem Kopf nach vorn.»Die Platte ist zu Ende.«

«Ach ja, richtig. Ich glaube, ich war in Gedanken. Hören Sie, Sie können jederzeit anfangen zu tippen. Ich weiß nicht, wie lange Sie brauchen werden.«

Sie standen beide auf. Ben ging ins Arbeitszimmer, um die Schreibmaschine zu holen, die in einem Koffer unter seinem Schreibtisch stand. Dann legte er wieder den Telefonhörer neben die Gabel. Mittlerweile dachte er sich gar nichts mehr dabei. Im Wohnzimmer hob er die Schreibmaschine aus dem Koffer, schloß das Stromkabel an und drückte auf den EinSchalter. Die Maschine begann zu summen.

«Sehr schön«, urteilte Judy.»Meine eigene ist eine von diesen alten, schwarz-goldenen mechanischen, die einem brutale Gewalt abverlangen, um eine Taste herunterzudrücken. Das hier ist wie sterben und in den Himmel kommen.«

Er lief nochmals ins Arbeitszimmer und kam mit Schreibmaschinenpapier, Kohlepapier und dem Übersetzungsheft zurück, das er aufgeschlagen auf den Tisch legte. Stirnrunzelnd betrachtete er die erste Seite.»So ein Geschmiere«, murmelte er,»ein fürchterliches Gekritzel. Es sieht fast so aus, als müßten Sie eine ebenso schwere Arbeit beim Entziffern leisten wie ich beim Übersetzen. Und ich habe mich über David Ben Jonas unordentliche Schrift beschwert! Schauen Sie nur das an!«

Judy lächelte, setzte sich vor die Schreibmaschine und begann, mit der Umschalttaste zu spielen. Ben beugte sich über sie und schaute beim Anblick seiner Handschrift noch finsterer drein.»An dieser Stelle habe ich richtig schnell geschrieben, so daß ich einige Wörter zusammenzog. Wissen Sie, David tat das ebenfalls. Beim Übersetzen kann einen das an den Rand der Verzweiflung bringen. Er war ein gebildeter Mann und ein ausgezeichneter Schreiber, doch manchmal, wahrscheinlich wenn er aufgeregt oder vielleicht in Eile war, schrieb er nachlässig — wie ich hier. Nun, das ist das eine, was David und ich miteinander gemeinsam haben. Zuweilen fügte er Wörter zu dicht aneinander, und es kostete mich eine halbe Stunde, um sie zu entziffern. Der geringfügigste Irrtum kann die gesamte Bedeutung eines Satzes verändern. Wie zum Beispiel.«, Ben nahm einen Bleistift und kritzelte eine Folge von Buchstaben oben auf die Seite: Godisnowhere.»Das ist natürlich Englisch, aber es vermittelt Ihnen einen Eindruck von den Schwierigkeiten, auf die ich beim Übersetzen von Davids Aramäisch stoße. Lesen Sie es einmal laut vor. «Judy musterte das Geschriebene eine Sekunde lang und las dann:»God ist nowhere.«(Gott ist nirgendwo.)

«Sind Sie ganz sicher? Sehen Sie nochmals hin. Könnte es nicht auch heißen: God is now here!« (Gott ist jetzt hier.)»Oh, ich begreife, was Sie meinen.«

«Und das verändert die Bedeutung erheblich. Wie dem auch sei, wenn Sie irgendwelche Probleme mit meinem Gekrakel haben sollten, dann brauchen Sie nur zu rufen. Die Abschnitte, die sich Ihnen als wildes Gekritzel präsentieren, sind Stellen, wo ich eine ebensolche Unleserlichkeit in Davids Handschrift antraf.«

«Ich denke, das wird lustig werden.«

«Wenn Sie irgend etwas brauchen, die Küche ist dort drüben, und das Badezimmer finden Sie, wenn Sie da hinten durchgehen. Ich bin im Arbeitszimmer, in Ordnung?«

«Alles klar. Viel Spaß.«

Ben war eben dabei, seine Regale nach einem entspannenden Lesestoff durchzusehen, als es an der Tür klopfte. Es war sein Nachbar, der Musiker, bekleidet mit einem triefendnassen gelben Regenumhang.

«Hallo, Nachbar«, grüßte er,»ich habe da etwas für Sie. Ich war heute nachmittag unten, gerade als der Briefträger wieder einen gelben Zettel in Ihren Kasten stecken wollte. Ich glaubte, Sie seien nicht zu Hause, und wenn es ein Einschreiben ist, könnte es ja wichtig sein. So quittierte ich dafür. «Er zog den schwarzen Umschlag unter seinem Arm hervor.»Andernfalls hätten Sie bis Montag warten müssen, richtig?«

Ben antwortete nicht, sondern starrte nur auf die vertraute Handschrift und die israelischen Briefmarken.

«Hören Sie, es tut mir leid, daß ich es nicht eher herauf gebracht habe, aber ich hatte noch etwas Dringendes zu erledigen. In Ordnung?«

«Was? Oh, ja, ja. Ganz wunderbar! Ich war den ganzen Nachmittag zu Hause und habe auf dieses Einschreiben gewartet, aber ich habe wohl nicht gehört, als der Briefträger klopfte. Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«

«Lassen Sie es gut sein. Schönen Abend noch. «Lange, nachdem die Tür ins Schloß gefallen war, stand Ben noch immer wie angewurzelt da und starrte auf den Umschlag. Und sein Herz begann wie rasend zu schlagen.

Kapitel Sieben

Ich trat meine Lehrzeit bei Eleasar mit großer Sorge an. Nicht daß ich die vor mir liegenden Jahre voller Mühsal und Verzicht fürchtete. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich würdig genug war, ein Jünger zu sein. Rabbi Eleasar Ben Azariah war einer der wahrhaftig großen Autoritäten des Gesetzes, und er war ein berühmter Lehrer. Außerdem war er Mitglied des Hohen Rats der Juden, ein Pharisäer und frommer Mann. Eleasar lebte einfach und anspruchslos und arbeitete in seinem Handwerk als Käsemacher, um sich und seine Familie zu ernähren. Er kleidete sich in das Gewand eines bescheidenen Mannes und trug keine breiteren Gebetsriemen als seine Nachbarn. Anders als manche seiner Kollegen, die laut betend durch die Straßen gingen, war Eleasar ein ruhiger Mann, der mit seinem Herzen zu Gott sprach. Er kannte den Wortlaut des Gesetzes besser als irgendein anderer, und er praktizierte den Geist des Gesetzes durch seine Weisheit und seine tägliche Lebensführung. Und dieser Mann sollte nun mein Lehrer werden. Wie die meisten Rabbis hatte auch Eleasar stets zwölf Jünger um sich geschart. Wir zwei waren die jüngsten. Saul und mir wurde ein ungenutzter Schuppen hinter seinem Haus als Schlafstätte zugewiesen, so daß wir ständig in seiner Nähe sein konnten. Von den anderen zehn lebten drei in den Häusern ihrer Väter, drei wohnten bei Verwandten und vier waren in den oberen Räumen von Eleasars Haus untergebracht. Eleasars Frau Ruth nährte und kleidete uns als Gegenleistung für unsere Arbeit. Da sie keine Töchter hatte, fiel mir die unwürdige Aufgabe zu, täglich die Wasserbehälter am Brunnen aufzufüllen. Sauls Pflicht war es, das alte Haus in gutem Zustand zu halten. Die anderen vier Schüler halfen Eleasar in seinem Käseladen, wenn wir nicht gerade im Tempel weilten. Wir mußten lange Jahre dieser Knechtschaft erdulden, in denen wir als bescheidenste Diener ohne Lohn lebten, denn dies war der Preis, wenn man ein Mann des Gesetzes werden wollte.

Am Anfang meiner Lehrzeit, als ich auf meiner Matte lag und in das Dunkel unserer winzigen Kammer starrte, ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Eine große Finsternis breitete sich vor mir aus, ein so weiter, unendlicher, furchterregender Abgrund, daß meine Kinderseele laut aufschrie:»Bin ich würdig genug, Herr?«Und ich hatte Heimweh nach Magdala. Ich träumte vom Haus meines Vaters am Seeufer; davon, wie ich ihm half, seine Netze unter der heißen Sonne aufzuspannen, und im Traum hörte ich sein rauhes Lachen. Ich vermißte die Umarmung meiner Mutter, den süßen Duft nach Honig und Gerste, der sie stets umgab; die Art, wie ihr die Tränen kamen, wenn sie zu sehr lachte. Ich hatte Sehnsucht nach den Sommernächten, in denen wir alle draußen vor dem Haus saßen, gebratenen Fisch und Schrotbrot aßen und dazu die Milch unserer einzigen Ziege tranken. Das Feuer der Kochstellen erhellte jedes lächelnde Gesicht. Die Männer unterhielten sich leise, und die Frauen summten in ruhiger Zufriedenheit vor sich hin. Vor uns lag der schwarze See Genezareth, der unser ganzes Leben bestimmte. Und hinter uns erstreckten sich die westlichen Hügel bis zu einem Gewässer, das so riesig war, daß man es das» Große Meer «nannte, und jenseits davon — das Ende der Welt.

Während Saul auf seiner Matte schlummerte, schluchzte ich wie ein Kind vor Einsamkeit.»Vater«, rief ich ihm über die Entfernung hinweg zu,»warum hast du mich hierher geschickt?«Doch es stand mir nicht zu, die Entscheidungen meines Vaters in Zweifel zu ziehen. Ich hatte demütig zu sein und von Eleasar das Gesetz des heiligen Bundes zu lernen. Mit weniger wollte ich mich nicht begnügen. Ich würde eines Tages ein großer Rabbi werden und die Thora aus dem Gedächtnis zitieren. Ich würde werden wie Eleasar.

Jerusalem schien kleiner zu werden, je älter ich wurde. Als ich mit elf Jahren im Haus meiner Schwester zum erstenmal die Stadt sah, überwältigte sie mich. Doch je mehr ich körperlich und geistig heranwuchs, desto mehr schien Jerusalem zu schrumpfen. Warum dies so war, wußte ich nicht. Doch Du hast Jerusalem gesehen, mein Sohn, und Du weißt, was ich meine, wenn ich sage, es ist der Mittelpunkt der Welt. Du hast die Geschäftigkeit seines Marktplatzes erlebt, den Lärm der vielen Menschen vernommen und den mannigfaltigen Gestank seiner Rinnsteine eingeatmet. Du warst auch Zeuge seiner Pracht und fühltest die Gegenwart des Herrn, wo immer du auch gingst.

Vom ersten Tag an standen Saul und ich vor dem Morgengrauen auf, verrichteten unsere Gebete, steckten uns Brot und Käse in unsere Gürtel und brachen mit Rabbi Eleasar zum Tempel auf. Den ganzen Tag über sprach er mit uns. Während ein Großteil der Stadt noch im Schlafe lag, wanderten wir, fest in unsere Umhänge gehüllt, durch jene kalten Straßen und erörterten das Gesetz. Wenn wir in Eleasars Gesellschaft waren, gab es nie einen Augenblick, in dem wir nicht über das Gesetz sprachen. Und er prüfte uns ständig. Wenn wir bei einer Antwort zögerten, war er streng mit uns. Wenn wir richtig antworteten, lächelte er zustimmend. An der Vorhalle des Tempels erspähte ich oft andere Knaben, die uns neidisch beobachteten. Als Eleasar Saul und mich aufgenommen hatte, hatte er zugleich siebenunddreißig andere abgewiesen. Ich versuchte, deshalb nicht hochmütig zu werden, auch wenn es mir ziemlich schwerfiel. Mein Lehrer wußte mehr über das Gesetz als irgend jemand anders, und eines Tages würde ich sein wie er. Saul und ich waren ihm nicht gleichgültig, obwohl es uns vielleicht anfangs so vorkam. Die anderen Knaben waren weiter fortgeschritten als wir und schienen häufiger mit seinem Lächeln bedacht zu werden. Doch wie in der Parabel von dem verlorenen Schaf wandte sich Eleasar oftmals von den anderen Knaben ab, um uns gesondert zu unterweisen.