Das letzte Foto war von der Ausgrabungsstätte selbst — die Grabung war darauf schon viel weiter fortgeschritten als auf dem ersten Bild, das Ben erhalten hatte. Pappschilder zeigten die verschiedenen Ebenen an, und ein abgegrenzter Bereich schien die Fundstelle der berühmten Tonkrüge zu sein. Der Schauplatz wurde von einer Vielzahl Menschen bevölkert: Ben konnte darauf hagere, alte Wissenschaftler und kräftige, junge Studenten erkennen, die in Khakikleidung über ihre Arbeit gebeugt waren.

Er schaute nochmals in den Umschlag. Es gab keine weiteren Fotos. Fluchend knallte er das ganze Bündel auf den Tisch. Jetzt mußte er doch noch auf die Ankunft von Rolle Nummer fünf warten! Wieder vierundzwanzig Stunden der Anspannung, des ungeduldigen Hin- und Herlaufens, des Wartens darauf, daß David wieder zu ihm sprechen würde.

Poppäa Sabina kratzte ärgerlich an der Schlafzimmertür, und Ben ließ sie heraus. Er nahm die Katze auf den Arm und ließ sich mit ihr auf der Couch im dunklen Wohnzimmer nieder. Poppäa war gekränkt, weil ihr nicht genug Beachtung geschenkt wurde, und Ben schmollte wie ein enttäuschtes Kind.

Nachdem er eine halbe Stunde lang versucht hatte, mit seiner unglaublichen Ernüchterung fertig zu werden, beschloß Ben, vernünftig zu sein und sich zu beruhigen. Er entschloß sich auch, Rolle Nummer vier nochmals durchzugehen. Da er beim Lesen solche Schwierigkeiten gehabt hatte, wollte er sich vergewissern, daß ihm keine Fehler unterlaufen waren.

Zwei Stunden verbrachte er an seinem Schreibtisch und fügte hier und da Korrekturen in seine Übersetzung ein. Als er die letzte Zeile des zweiten Fotos beendet hatte, fühlte er sich seltsam glücklich und freudig erregt. Er sprang vom Schreibtisch auf und lief singend in die Küche, wo er sich ein Glas Wein eingoß. Mitten im Einschenken jedoch ließ ihn sein eigenes Pfeifen in seiner Tätigkeit innehalten. Bestürzt stellte er Glas und Flasche hin und starrte finster auf die kahle Wand.

Warum um alles in der Welt war er plötzlich so glücklich? Er lief zur Küchentür und blickte von dort quer durchs Wohnzimmer in sein Arbeitszimmer. Im Halbdunkel konnte er gerade noch seine Schreibtischecke und die Lehne seines Drehstuhls wahrnehmen. Auf dem Schreibtisch lag sein Übersetzungsheft wie ein weißer Fleck.

Ben verharrte eine Weile im Kücheneingang und blickte durch die stille Wohnung. Er starrte ins Leere und spürte, wie ein unheimliches Gefühl Besitz von ihm ergriff. Er bekam eine Gänsehaut, und die Haare an den Armen und im Nacken standen ihm zu Berge. Eine furchterregende Kälte erfüllte den Raum. Jetzt wußte er es.

Langsam ging er zurück ins Arbeitszimmer und blieb einen Meter vom Schreibtisch entfernt stehen. Zuerst schaute er auf das Foto von dem beschädigten Papyrus, dann auf seine Übersetzung. Die Worte» am nächsten Tag erhielten Saul und ich den Bescheid, daß wir unsere Lehre bei Rabbi Eleasar antreten könnten «fielen ihm wieder ein.

Und jetzt wußte er es genau.

Diese Worte hatten ihm eine riesige Freude bereitet. Als ob es mir passiert wäre, flüsterte er, über das Foto gebeugt.»Deswegen war ich gestern in einer so guten Stimmung. Es war, als wäre ich in Rabbi Eleasars Schule aufgenommen worden. «Ben kniff die Augen fest zusammen, und merkwürdigerweise fröstelte es ihn. Er rieb sich die kalten Arme und zitterte hemmungslos. Die gestrige Freude war nicht meine eigene gewesen, dachte er, es war Davids Freude gewesen. Davids Freude. Ben öffnete die Augen und blickte wieder auf die aramäischen Worte. Ein Gefühl, als habe er eine Brücke überquert, als sei er an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr gab, ließ ihn erschauern.

Er versuchte, diese Empfindung abzuschütteln, die einen warnenden Beigeschmack hatte, und zwang sich zu einem Lachen. Dann sagte er laut zu sich selbst:»Ich glaube, jetzt bin ich völlig übergeschnappt. «Aber seine Stimme klang blechern, das Lachen fast wie ein Röcheln.»O David«, murmelte er mit einem Schauder,»was machst du nur mit mir?«

Es war nicht das erstemal, daß Ben von einem Klopfen an seiner Tür aufwachte. Während er mühsam die Augen aufschlug und versuchte, sich zurechtzufinden, konnte Ben sich nicht vorstellen, wer ihn zu einer solch ungewöhnlichen Stunde sprechen wollte. Dann bemerkte er, daß er keine Ahnung hatte, wie spät es eigentlich war. Er schwang sich aus dem Bett und schleppte sich barfuß ins Wohnzimmer, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Angie hereinkam und die Tür hinter sich schloß. Sie trug einen Hosenanzug aus Baumwolle und hatte ihr Haar kunstvoll mit einem Schal hochgebunden.

«Hallo, Liebling«, rief sie strahlend und stellte ihren Handkoffer auf dem Couchtischchen ab.»Hallo«, erwiderte er verwirrt.

Sie küßte ihn auf die Wange, tätschelte ihn auf die andere und ging zur Küche.»Irgend etwas sagt mir, daß wir heute morgen nicht rechtzeitig fortkommen.«

«Was?«murmelte er.»Wozu fortkommen?«

Angie blieb an der Küchentür stehen.»San Diego, erinnerst du dich? Du wirst dieses Wochenende ein gefallenes Mädchen aus mir machen. Das hast du versprochen. «Dann ging sie in die Küche und begann herumzuklappern.»Ich hoffe, du glaubst nicht an den Wetterbericht«, hörte er sie aus der Küche rufen,»denn es wäre eine gute Entschuldigung dafür, achtundvierzig Stunden in einem Motel zu verbringen!«

Ben stand mitten im Wohnzimmer und fragte sich:»San Diego?«Angie streckte ihren Kopf aus der Tür.»Willst du hier frühstücken oder unterwegs?«

«Nun, ich.«

«Gute Idee. Kaffee hier und was zu essen unterwegs. So gefällt es mir. Vielleicht in San Juan Capistrano. In der Nähe der Mission gibt es ein entzückendes Cafe im spanischen Stil. «Noch mehr Geschirrgeklappere kam aus der Küche, und schließlich tauchte Angie wieder auf.»Der Kaffee braucht nur eine Minute zum Durchfiltern. Geh duschen, und wenn du herauskommst, ist er fertig.«

«Angie.«

Sie blieb vor einem Spiegel stehen, um ihre Frisur zu richten.

«Hm?«

«Angie, wir können nicht fahren.«

Sie hielt mitten in der Bewegung inne.»Was willst du damit sagen?«

«Ich will damit sagen, daß ich heute vielleicht die fünfte Rolle bekomme.«

Angie ließ langsam die Arme sinken und drehte sich zu ihm um.»Ach ja?«

Er machte mit ausgestreckten Händen einen Schritt auf sie zu.»Ich will hier sein, wenn sie kommt.«

«Wird der Briefträger sie nicht in den Kasten stecken?«

«Nein. Die Rollen kommen immer per Einschreiben. Wenn ich nicht hier bin, um sie entgegenzunehmen, muß ich bis Montag warten.«

Ihre Stimme klang kühl.»Ach so?«

«Komm schon, Angie. Versuche mich zu verstehen. «Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.»Ich habe mich so auf diesen Ausflug gefreut.«

«Ich weiß.«

«Früher bist du auch weggegangen, wenn Manuskripte zugestellt werden sollten. Du hast sogar diesen Kodex aus Ägypten drei Tage auf dem Postamt liegenlassen, bevor du hingefahren bist. Normalerweise bist du zuverlässiger, wenn es darum geht, deine Wäsche von der chemischen Reinigung abzuholen. Was ist mit diesen Schriftrollen so anders?«

«Himmel noch mal, Angie!«explodierte er.»Du weißt verdammt gut, was so anders ist!«

«He«, erwiderte sie ruhig,»schrei mich nicht an. Ich bin im selben Raum. Schon gut, schon gut, die Rollen bedeuten dir viel. Und sie sind anders als alles, was du bisher erhalten hast. Aber du hast gesagt, die fünfte Rolle käme vielleicht heute. Kannst du es nicht darauf ankommen lassen und mit mir nach San Diego fahren?«Ben schüttelte den Kopf.

«Weißt du, es ist nicht nett von dir, mich so zu enttäuschen. Das hast du bisher noch nie getan.«

«Es tut mir leid«, verteidigte er sich schwach.

«Also gut. Ich werde versuchen, dich zu verstehen. Du mußt mich nur für diese niederschmetternde Enttäuschung entschädigen.«

«Hör zu, Angie«, sagte er rasch,»wenn ich die Rolle heute nicht bekomme, gibt es keinen Grund, warum wir nicht morgen früh nach San Diego fahren und den Tag dort verbringen können. «Sie schaute ihn traurig und liebevoll an.»Wird es immer so sein, wenn man mit einem Schriftenkundler verheiratet ist?«

«Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin nie mit einem verheiratet gewesen.«

Sie lachte und küßte ihn auf die Wange. Das Aroma von frisch gebrühtem Kaffee erfüllte die Luft.»Geh duschen und zieh dich an. Ich kann ebensogut mit dir auf die Rolle warten, und wenn sie nicht mit der Nachmittagspost kommt, können wir schon heute abend nach San Diego aufbrechen. Was hältst du davon?«

Ben duschte ausgiebig. Er war sich der Tatsache bewußt, daß ihm der Gedanke an Angies Gesellschaft leicht widerstrebte. Obwohl er es ihr nicht erklären konnte und es in der Tat nicht einmal selbst verstand, hatte er doch das dringende Bedürfnis, bis zur Ankunft der fünften Rolle allein zu bleiben. Es schien ihm, als müßte er sich wieder auf David vorbereiten.

Sie saßen schweigend über dem Kaffee, wobei Angie ständig aus dem Fenster blickte und nach Regen Ausschau hielt, während Ben an die nächste Rolle dachte.

Als er seinen schwarzen Kaffee umrührte, schweifte er in Gedanken ab, bis er schließlich ein Gesicht vor sich sah, daß er sich schon lange nicht mehr vergegenwärtigt hatte: die große Nase und die langwimprigen Augen von Salomon Liebowitz. Damals war Salomon ein gutaussehender junger Mann gewesen, mit einem muskulösen Körper und markantem Gesicht. Er hatte lockiges, schwarzes Haar gehabt, einen recht dunklen Teint und einen sinnlichen, vollen Mund. Die Leute hatten die beiden Jungen oft wegen ihrer äußeren Erscheinung aufgezogen: der eine ein dunkelhäutiger, semitischer Typus und der andere ein blasser, blauäugiger Blondschopf. Vom Aussehen her waren sie so verschieden wie Tag und Nacht, doch was ihre Gesinnung und Einstellung anbetraf, hatten sie gut zusammengepaßt. Beide verfügten sie über einen außergewöhnlichen Ideenreichtum und waren bei ihren Streifzügen durch Brooklyn unzertrennlich. In der Jeschiwa waren sie ausgezeichnete Schüler gewesen, die miteinander um das Lob der Lehrer wetteiferten. Sie saßen häufig bis spät in die Nacht beieinander, lernten zusammen und trafen später gemeinsame Verabredungen mit Mädchen.