Verärgert und gedemütigt, sagte ich zu Eleasar:»Hätte ich keine Fragen, Meister, so würde ich einen armen Schriftgelehrten abgeben. Und wenn ich schon alle Antworten wüßte, welches Bedürfnis hätte ich dann, zu Euch zu kommen?«

Zum zweiten Mal war Eleasar überrascht. So sagte er zu mir:»Was fürchtest du mehr, das Gesetz oder den Tempel Gottes?«

Und ich antwortete:»Das Studium der Thora ist eine größere Tat als die Errichtung des Tempels.«

Rabbi Eleasar entließ Saul und mich in die Vorhalle, und ich kämpfte gegen die Tränen der Bitternis und der Enttäuschung an. Ich sagte zu Saul:»Er gab mir nicht die kleinste Gelegenheit, um zu beweisen, daß ich seines Unterrichts würdig bin. Nun muß ich zu einem unbedeutenderen Rabbi gehen und werde nur die Hälfte lernen.«

In dieser Nacht weinte ich allein in meinem Zimmer: die ersten Tränen, die ich vergoß, seitdem ich vor drei Jahren aus Magdala gegangen war. Ich hatte nach dem höchsten Gipfel gestrebt und war gescheitert.

(Der Papyrus war an dieser Stelle von Rand zu Rand mittendurch gerissen und machte damit vier Zeilen unverwertbar. Die letzte Zeile lautete:) Am nächsten Tag erhielten Saul und ich den Bescheid, daß wir unsere Lehre bei Rabbi Eleasar antreten könnten.

Kapitel Sechs

Am nächsten Morgen erwachte Ben in heiterer und gelöster Stimmung. Er stand früh auf, duschte und rasierte sich, frühstückte ausgiebig und nutzte die Zeit vor Unterrichtsbeginn, um die Wohnung aufzuräumen. Da mußten mindestens fünfzehn Gläser eingesammelt und in die Spülmaschine geräumt werden. Alle Aschenbecher quollen über. Poppäas kleines Katzenklo mußte frischgemacht werden. Er öffnete die Fenster, um durchzulüften und die abgestandene Luft zu vertreiben. Dann brachte er sein Arbeitszimmer in Ordnung. Er stellte die Bücher auf die Regale zurück, leerte den vollgestopften Papierkorb, wischte Krümel, Asche und Weinflecken von der Tischplatte. Die ganze Zeit summte er vor sich hin. Ben hatte sich lange nicht mehr so großartig gefühlt. Es war, als hätte er gerade eine Menge Geld geerbt oder eben erfahren, daß er hundert Jahre alt werden sollte. Sein ganzer Körper war wie elektrisiert, und so tanzte er singend durch die Wohnung, während er aufräumte. Als Angie um neun Uhr an die Tür klopfte, begrüßte er sie mit einer Umarmung, einem stürmischen Kuß und einer Flut von Entschuldigungen für die vorangegangene Nacht.

«Es war ein harter Brocken«, erklärte er, während er sie in die Wohnung hereinzog,»die vierte Rolle war ein hartes Stück Arbeit, aber es ist mir gelungen, sie gestern nacht fertigzuübersetzen und mir acht Stunden wohl verdienten Schlaf zu gönnen. Ich habe mich seit Wochen nicht so gut gefühlt!«

Angie strahlte.»Das freut mich. Weißt du, dein Telefon war dauernd besetzt.«»Und deshalb, mein Schatz, habe ich eine Überraschung für dich. Am Samstag morgen bei Tagesanbruch setzen wir beide uns in mein Auto und fahren hinunter nach San Diego für zwei vergnügliche, ausgelassene Tage.«

«O Ben, das klingt ja großartig.«

«Wir gehen in den Zoo und ins Meerwasseraquarium, wir essen bei Boom Trenchard’s, und wir lieben uns die ganze Nacht lang. «Er küßte sie lange.»Oder. vielleicht unternehmen wir auch einfach nichts und lieben uns nur zwei Tage lang ohne Unterbrechung. «Sie kicherte.»Alberner Kerl!«

Ben hielt sie eine Armlänge von sich weg, um ihr schönes Gesicht zu betrachten, und sog den süßen Duft ihres Parfüms und das erregende Gefühl ihrer Nähe in sich auf. Er war in diesem Augenblick so verliebt, daß er glaubte, er müsse zerspringen.»So, was führt dich heute morgen zu mir?«

«Deine Leitung war besetzt.«

«Was? Oh!«Er schnalzte mit den Fingern.»Ich habe den Hörer letzte Nacht neben die Gabel gelegt, um nicht gestört zu werden.«

«Von wem? Etwa von mir?«

«I wo.«

«Ach, ist schon in Ordnung.«

«Ha, ich habe eine Idee! Fahre mit mir an die Uni, warte eine Stunde, und ich spendiere dir das tollste Mittagessen, das du dir vorstellen kannst.«

«Klingt großartig.«

Sie fuhren zusammen an die Uni, und Angie ging auf dem Campus spazieren, während Ben seine Vorlesung in Manuskriptdeutung hielt und sich wortreich bei seinen Studenten für den Ausfall der letzten beiden Sitzungen entschuldigte. Unterdessen schlenderte Angie durch den Universitätsgarten und fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Es war gut, Ben so gelöst zu sehen, nachdem er eine Zeitlang ganz und gar von diesen Schriftrollen eingenommen war. Er war wieder er selbst.

Zumindest versuchte Angie, sich das einzureden. Sie hatte zuvor seine neuen Sandalen und das leichte Hinken in seinem Gang bemerkt, und ihr war aufgefallen, wie seltsam geschraubt und linkisch er heute morgen geredet hatte. Aber sie beschloß, dies alles zu vergessen und aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Ben war nur müde, das war alles.

Nach dem Unterricht fuhren sie die Küste hinauf zu einem beliebten Restaurant, das in die Klippen hineingebaut war und sogar über die Wellen hinausragte.

Nachmittags suchten sie sich einen abgeschiedenen Platz und liebten sich im Auto. Anschließend machten sie bei Sonnenuntergang einen Ausflug in die Berge, aßen in Hollywood zu Abend und sahen sich einen Film im Kino an.

Während dieser ganzen Zeit fühlte Ben sich Angie näher, als er es je gewesen war. Ihre gute Laune und ihr Humor ließen ihn alles andere vergessen. Sie war schön anzusehen und sehr erregend. Der Tag war vollkommen gewesen, von dem Augenblick, wo er mit diesem Hochgefühl aufgewacht war, bis zu dem leidenschaftlichen Gutenachtkuß, mit dem er sich um Mitternacht von Angie verabschiedete. Es war ein traumhaft schöner Tag gewesen.

«Das nächste Mal nehmen wir uns ein Zimmer im Hotel Circle«, versprach er Angie, kurz bevor er sie verließ.»Und wir können nach Tijuana hinunterfahren, wenn du willst.«

Sie war unter seiner Aufmerksamkeit richtig aufgeblüht und strahlte übers ganze Gesicht. Sie fühlte sich überglücklich und war sich ganz sicher, daß sie den vollkommenen Mann gefunden hatte, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.

Um Mitternacht standen sie beide ein wenig angesäuselt und todmüde in der Toreinfahrt zu Angies Wohnung und lachten leise.»Laß uns das wieder tun«, flüsterte Ben.»Jeden Tag, Liebling, jeden Tag.«

Und er verließ Angie mit dem Gefühl, sich eine Zeitlang im Paradies aufgehalten zu haben.

In bester Laune fuhr er nach Hause. Während des ganzen Tages hatte er sich nicht einmal gefragt, warum er denn auf einmal so gelöst und voller Freude gewesen war.

Und natürlich hatte er in diesem Zusammenhang nicht eine Sekunde lang an David Ben Jona gedacht.

Am nächsten Morgen fühlte er sich völlig anders. An diesem Freitag war seine Hochstimmung wie weggeblasen und hinterließ ihn in annähernd demselben Gemütszustand wie in den Tagen zuvor. Während ihres Telefongesprächs am Dienstag hatte John Weatherby Ben mitgeteilt, er sei in Jerusalem, um ihn anzurufen und» eine neue Serie Fotos abzuschicken. Diesmal gute. «Das bedeutete, sie könnten jeden Tag eintreffen, spätestens am Montag. Ben konnte es kaum erwarten, die nächste Rolle zu bekommen.

Er war kaum in der Lage, sich auf seinen Kurs» Sprachen der Archäologie «zu konzentrieren, und noch schwerer fiel es ihm, die Alt- und Neuhebräisch-Stunde durchzustehen. Die ganze Zeit über konnte er nur an die nächste Rolle denken. Falls Weatherbys Brief per Einschreiben käme, müßte er vor fünf noch schnell mit dem Zettel aufs Postamt gehen und dort Krach schlagen, um seinen Brief noch vor Montag zu bekommen. Ansonsten wäre ein elendes Wochenende vorprogrammiert.

Ben stellte überrascht fest, daß Judy Golden im Seminar fehlte. Obgleich ihre Gegenwart ihn durcheinanderbrachte, erfüllte ihn ihre Abwesenheit mit noch größerer Unruhe. Und diesmal hatte er sogar daran gedacht, den Kodex mitzubringen.

Nachdem er den Unterricht pünktlich zu Ende gebracht hatte, hastete Ben nach Hause und fand einen gelben Zettel in seinem Briefkasten. Ein Einschreiben aus Israel konnte am Montag zwischen neun und fünf auf dem Postamt abgeholt werden.

Er verlor keine Zeit. Um Viertel vor fünf war Ben auf dem Postamt und verlangte, den Postamtsvorsteher zu sprechen. Innerhalb von fünf Minuten hatte er beachtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es wurde ihm gestattet, auf seinen Postboten zu warten, der kurz darauf im Postamt eintraf. Er händigte Ben mißbilligend seinen Umschlag aus, wobei er ihn darüber belehrte, daß dies eigentlich gegen die Vorschriften sei.

Fünfzehn Minuten später war Ben wieder in seiner Wohnung, schaffte sich ein wenig Platz auf seinem Schreibtisch, verbannte Poppäa ins Schlafzimmer und setzte sich hin. Nachdem er sich innerlich auf den nächsten Auszug aus David Ben Jonas Leben vorbereitet hatte, fiel sein Blick auf das Telefon, und mit weniger Skrupeln als das letztemal nahm er den Hörer von der Gabel. Dann wischte er seine verschwitzten Handflächen an der Hose ab und öffnete den Umschlag.

Darin war ein Brief von John Weatherby.

Die gesamte Knesseth einschließlich des Premierministers habe die Ausgrabungsstätte besucht, hieß es darin. Sogar der amerikanische Botschafter und der berühmte Professer Yigael Yadin seien nach Khirbit Magdal geeilt. Es folgten Beschreibungen von den gräßlichen Arbeitsbedingungen: unberechenbare Wetterumschwünge, Insekteneinfälle, ungenießbares Essen und kalte Nächte erschwerten die Ausgrabungen. Und am Ende wünschte John Weatherby allen Mitarbeitern seines Archäologenteams den Segen Gottes.

Ben warf den Brief auf die Seite und riß den inneren Umschlag auf. Drei Fotos fielen heraus.

Das eine war ein Schnappschuß, auf dem Dr. Weatherby über seine Schreibmaschine gebeugt zu sehen war. Seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt, und die Brille mit dem Drahtgestell saß ihm ganz vorne auf der Nase. Er saß an einem Kartentisch vor einem Zelt. Das zweite Foto zeigte Dr. Weatherby, seine Frau Helena und Professor Yigael Yadin — alle drei posierten am Rand der Ausgrabungsstätte. Sie lächelten, als hätten sie im Lotto gewonnen. Ihre Kleider waren staubig und schweißgetränkt.