Der Briefkasten war leer.

Ben meinte, er müsse auf der Stelle sterben. Der Kasten war leer, und der Briefträger war schon dagewesen.

Angie würde sagen:»Das Leben ist gemein«, aber alles, was Ben tun konnte, war, auf dem ganzen Weg die Treppe hinauf» Verdammt, verdammt, verdammt «zu murmeln. In seiner Wohnung wußte er nichts mit sich anzufangen. Schallplatten halfen nicht. Der Wein schmeckte schal. Und Appetit hatte er auch nicht. So lief er mit großen Schritten auf und ab.

Eine Stunde später, um Punkt sieben Uhr, klopfte Judy Golden an seine Tür, und Ben, der damit rechnete, Angie vor sich zu sehen, riß sie schwungvoll auf.

«Hallo«, sagte das Mädchen. Sie hatte noch immer Blue Jeans und Sandalen an, trug jetzt aber einen groben Pullover über ihrem T-Shirt.»Sie werden sicher sagen, daß ich keine Zeit verliere.«

«Sie verlieren keine Zeit.«

«Störe ich Sie?«

«Nein, gar nicht. Kommen Sie einen Moment herein, und ich werde den Kodex holen. Falls ich mich daran erinnern kann, wo ich ihn hingelegt habe.«

Er verschwand im Arbeitszimmer, während Judy zunächst stehenblieb und sich mit großen Augen in der Wohnung umschaute. Das einzige Licht kam von der Straßenbeleuchtung, die durch die Vorhänge schien. Sie folgte Ben ins Arbeitszimmer. Er wühlte zwischen seinen Bücherstapeln.»Irgendwo muß doch das verdammte Ding sein!«

Judy lächelte und schlenderte zum Schreibtisch.»Ich bin genauso. Ich springe auch von einem Vorhaben zum nächsten. Dabei liegt es bestimmt nicht daran, daß ich mich nicht lange auf eine Sache konzentrieren könnte.«

Während er weiter herumsuchte, fiel Judys Blick zufällig auf die Fotos, die auf dem Tisch verstreut lagen, und ohne auch nur nachzudenken, las sie die gesamte zweite und dritte. Aufnahme der ersten Schriftrolle. Sie trat näher heran und murmelte die Überschrift: »Baruch Attah Adonai Elohenu Melech ha-Olam.« Als sie merkte, daß keines der anderen Fotos in Hebräisch war, sondern in Aramäisch, einer Sprache, die sie erkannte, aber selbst nicht beherrschte, runzelte sie heftig die Stirn.»Das sind interessante Fotografien, Dr. Messer.«

«Aha!«Unter einem schweren Buch zog er einen Umschlag hervor.»Ich wußte doch, daß er hier irgendwo herumliegen mußte. Hier sind der Kodex und meine Aufzeichnungen. Was?

Oh, die Fotos. «Er schaute auf sie hinunter.»Ja. die sind etwas ganz Besonderes.«

«Darf ich fragen, was das ist? Sie sehen faszinierend aus.«

«Faszinierend ist der richtige Ausdruck, ja. «Er lachte kurz auf und reichte ihr den Kodex.»Sie sind alte Schriftrollen, die ich gerade übersetze.«

«Oh. Sie sehen aber gar nicht aus wie herkömmliche Schriftrollen. Aber ich könnte mich natürlich täuschen.«

«Warum? Wissen Sie etwas über alte Schriftrollen?«

«Nur das, was ich darüber in meinem Hauptfach mitkriege. Das zweite und dritte Foto kann ich lesen, weil sie in Hebräisch sind. Wovon handeln die anderen Fotos? Sind sie alle Gebete wie dieses hier?«

«Nein.«, erwiderte er langsam,»nein, das sind sie nicht. Sie sind mehr wie. hm, ich kann gar nicht richtig erklären, was sie eigentlich sind.«

«Nein, ich bin sicher, ich habe sie nie zuvor gesehen.«

«Tja«, meinte er, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln,»das liegt daran, weil sie vorher noch niemand gesehen hat. Zumindest nicht in den letzten tausendneunhundert Jahren. «Judy schaute ihn verwundert an, während ihr die Bedeutung seiner Worte langsam bewußt wurde, und als sie wieder zu sich kam, flüsterte sie:»Meinen Sie etwa, sie sind gerade gefunden worden?«

«Allerdings.«

Ihre Augen weiteten sich.»In Israel?«

«In. Israel.«

Judy schöpfte tief Atem, und stieß dann hervor:»Dr. Messer!«

«Nun ja, es ist ein ziemlich interessanter Fund. «Ben versuchte, ruhig zu bleiben. Judy wurde aufgeregt, er konnte es sehen, konnte es fühlen. Ihre Augen wurden immer größer, und ihre Stimme klang belegt. Ihre Reaktion stachelte Ben nur noch mehr an.»Aber ich habe nichts darüber gehört!«

«Es ist noch nicht in den Nachrichten. Die Rollen wurden erst vor einigen Wochen gefunden, und die Entdeckung wird noch streng geheimgehalten.«

Judy wandte sich den Fotografien zu. Der alexandrinische Kodex, den sie noch immer in der Hand hielt, war plötzlich bedeutungslos geworden. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht rührte Ben, denn er offenbarte die Gedanken der jungen Frau, ihre Ergriffenheit über das, was er gerade gesagt hatte, und ihre Empfindungen stimmten auf bemerkenswerte Weise mit seinen überein.

«Sagen Sie«, meinte er, einem plötzlichen Antrieb folgend,»möchten Sie sie lesen? Das heißt meine Übersetzung?«Sie schaute ungläubig zu ihm auf.»Darf ich?«

«Gewiß. Es ist noch immer so etwas wie ein Geheimnis, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber ich denke, es wird schon in Ordnung sein, wenn Sie. «Ben war sich nicht sicher, ob aus seinem Mund Worte kamen, die er wirklich sagen wollte. Und während er Judy mit dem Schmierheft, in das er seine Rohübersetzung schrieb, ins Wohnzimmer führte, bedauerte er gleichzeitig seine Unbesonnenheit. Da gab es einige unter seinen Kollegen, andere Professoren und Spezialisten auf diesem Gebiet, die vielleicht Judys Dozenten waren. Sie konnte ihnen gegenüber etwas erwähnen.

Ihr Gesicht verriet nichts, als sie mit übergeschlagenen Beinen auf der Couch saß und seine Übersetzung las. Sie las die Seiten ohne aufzublicken, wobei sich ihr Gesichtsausdruck nicht einmal änderte. Ihr Atem ging langsam und flach. Sie hatte den Kopf über das Heft geneigt, wodurch ihr das lange, schwarze Haar nach vorne über die Schultern fiel.

So, dachte er, als er sie beobachtete, sie ist wohl gar nicht beeindruckt.

Doch als Judy Golden endlich von dem Heft aufsah, drückten ihre Augen alles aus, was ihr Gesicht nicht verraten hatte.»Das hier läßt sich nicht mit Worten beschreiben«, meinte sie leise.»Allerdings. «Er lachte gezwungen.»Ich weiß, was Sie meinen. «Falls Ben jemals der kühle, sachliche Wissenschaftler im Umgang mit Schriftrollen gewesen war, so war er jetzt das genaue Gegenteil. Irgend etwas an Judy Golden ließ ihn an seiner Gelassenheit zweifeln. Sie reagierte so ganz und gar nicht wie Angie — Angie, die eine Schriftrolle nehmen oder liegenlassen konnte. Nein, dieses Mädchen mit dem Stern Zions um den Hals war genauso wie Ben. Er bedauerte es nicht länger, ihr die Rollen gezeigt zu haben.»Lassen Sie mich Ihnen von dem Ort erzählen, wo sie gefunden wurden. «Ben beschrieb kurz die Ausgrabungsstätte in Khirbet Migdal, berichtete von John Weatherbys Suche nach einer alten Synagoge und schließlich von der zufälligen Entdeckung der» Bibliothek«.»Wertvolle Schriftrollen in Tonkrügen zu lagern war, wie Sie wissen, eine gängige Praxis im alten Israel. Nur waren die bis heute gefundenen alle religiösen Inhalts. Offensichtlich betrachtete David Ben Jona seine Schriftrollen als ebenso wichtig wie irgendwelche heiligen Schriften.«

«Natürlich! Schließlich wollte er ja unbedingt, daß sein Sohn sie zu lesen bekäme. «Sie starrte vor sich hin.»Ich frage mich, warum.«

«Ich auch.«

«Es macht mich traurig.«

«Was?«

«Daß Davids Sohn sie niemals fand.«

Ben schaute Judy Golden erstaunt an. Ihr rundes Gesicht wirkte im Licht der einzigen Lampe blaß, ihr Haar so viel dunkler und voller.»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber Sie haben wahrscheinlich recht. Zwei der Tonkrüge — die beiden unversehrtesten — trugen an der Stelle, an der sie versiegelt worden waren, sein Zeichen. Das bedeutet, daß sie nicht geöffnet worden sind. Außerdem: Wenn sein Sohn sie gelesen hätte, dann hätte er sie ja wohl nicht wieder versiegelt und vergraben, oder? Ich schätze, Sie haben recht. Sein Sohn. die einzige Person, der er sich so dringend mitteilen wollte. vor dem er seine Beichte ablegen wollte.«

«Es ist traurig. Wir sind nicht die Menschen, für die er sie bestimmt hatte.«

Ben stand unvermittelt auf, drehte eine Runde im Zimmer und schaltete mehr Lampen an, so daß der Raum jetzt mit Helligkeit durchflutet wurde. Wie dumm es doch war, sich von einem Drama rühren zu lassen, das schon vor zweitausend Jahren zu Ende gegangen war. Was nutzte es, sich für jemanden zu grämen, der schon seit zwanzig Jahrhunderten tot war?» Möchten Sie einen Kaffee?«Aber warum hat dein Sohn die Rollen nicht bekommen, David? Was ist ihm widerfahren?

«Es ist nur löslicher Kaffee.«

«Ich bin an löslichen gewöhnt, danke.«

Mein Gott, David, war es dir im letzten Moment, bevor du deine Augen für immer geschlossen hast, bewußt, daß dein Sohn die Rollen niemals lesen würde? Und bist du im Bewußtsein gestorben, daß alles vergeblich gewesen war?

Er ging mechanisch in der Küche umher — ließ Wasser laufen, schaltete das Heißwassergerät ein, löffelte Kaffee in die Tassen —, und als er wieder ins Arbeitszimmer trat, fand er Judy von neuem in die Übersetzungen vertieft.

Ben setzte die Tassen zusammen mit Löffeln, Kaffeesahne und Zucker auf der Glasplatte des Kaffeetischchens ab.

Nein, dachte er betrübt, wir sind nicht diejenigen, die dies lesen sollten, sondern dein Sohn, wer immer er war und was auch immer mit ihm geschehen ist.

«Ich vermute, meine Handschrift ist ziemlich schlecht«, hörte er sich selbst sagen.»Es geht schon.«

«Ich wünschte, ich könnte Schreibmaschine schreiben. Ich habe es nie gelernt. Ich weiß nicht, wie ich John Weatherby das alles schicken soll.«

«Ich würde es gern für Sie tippen, Dr. Messer. Es wäre mir wirklich eine Freude.«

Er sah den Stolz in ihren tiefbraunen Augen, ihre Unbefangenheit und Aufrichtigkeit und schenkte ihr ein Lächeln. Anders als ihre zufällige Begegnung am Nachmittag war dieses Zusammensein mit Judy Golden recht angenehm. Ben stellte überrascht fest, daß er mit ihr offen über die Schriftrollen sprechen konnte.»Und bedenken Sie den Zeitraum«, fing sie an,»zwischen vierunddreißig und siebzig nach unserer Zeitrechnung! Über was für einen wichtigen historischen Fund Dr. Weatherby da gestolpert ist! Was wohl in den übrigen Rollen noch stehen mag?«Sie schaute auf das Gekritzel auf Bens Notizblätter.»Aber ich frage mich.«