3.

Zwei Wochen waren seither verstrichen, Tage voll Mühe und Arbeit, aber auch voll befriedigenden Lohnes. Ja, es ging, wenn auch da und dort ein Brandfleck die neuangeschafften Kochschürzen verunzierte, einige Geschirrscherben den Spruch vom Lehrgeld bewahrheiteten und die weichen Hände der neugebackenen Köchin immer noch recht empfindlich waren gegen rauhe Berührung. Fräulein Lindenmeyers gutmütig angebotene Hilfe hatte Klaudine schon am ersten Tage entschieden abgelehnt. Das schmächtige, kränkliche Geschöpfchen stand auf sehr schwachen Füßen und bedurfte oft selbst der Pflege. Dafür aber war Heinemann eine tüchtige Stütze, und er ließ es sich durchaus nicht nehmen, alle gröberen Arbeiten zu besorgen.

So war allmählich die neue Haushaltung ins Geleise gekommen, und heute fand Klaudine einen freien Augenblick, um auf die Zinne des Turmes hinaufzusteigen. Die Morgensonne lag auf dem Scheitel des alten Burschen, der sich mit gelben Mauerblümchen besteckt hatte, die aus allen Ritzen und Fugen dem Tageslicht zustrebten, und so altersmürrisch er auch sonst aussah, er beherbergte doch noch gern und willig junges, aufwachsendes Leben – das Vogelvolk brütete unter seinen Simsen und Mauervorsprüngen und fand des Piepsens und Zwitscherns kein Ende. Und vom Garten herauf und von den harztriefenden Fichten, die ihre schaukelnden dunklen Bärte wie Trauerfahnen in die Ruinen des Kirchenschiffes hineinhängen ließen, kam ein traumhaftes Summen – schier unersättlich umtaumelten Heinemanns Bienen und das wilde Hummelgesindel des Waldes den süßen Saft, den Prinz Mai aus Blütenbechern schenkt.

Über ihr stand der blaue Äther, den nur dann und wann noch ein kühner Vogelflügel durchschnitt, wie zu Kristall erstarrt, dort drüben aber, am fernen Horizonte, troff sein Blau auf den welligen Bergrücken und schmolz mit ihm zusammen. – Dort weitete sich das Paulinental zur ebenen Fläche, die erst in weiter Ferne wieder jener blaubehauchte Höhenzug abschloß. Auf dem flachen Lande lag es wie feine, durchgoldete Nebelschleier. Sie deckten das Herzogsschloß. Nichts war zu sehen von seinem stolzen, hochgelegenen Bau, seinen purpurbeflaggten Türmen und marmornen Freitreppen, zu deren Füßen die Schwäne segelten und silberglitzernde Furchen durch den Teichspiegel zogen, nichts von dem Magnolien- und Orangendickicht der überglasten Zaubergärten, die mit ihrem düfteschweren Odem das Blut in den Schläfen pochen machten und das Herz angstvoll beklemmten, nichts von den türhohen, spiegelnden Fenstern, hinter denen eine junge Frau, ein Königskind, schlank und schneebleich, hüstelnd auf und ab schwankte und nach einem Blick aus den dunkelschönen Augen strebte, die mit heißem Flehen – eine andere suchten.

Klaudine trat hastig von der Brustwehr zurück, sie war erblaßt bis in die Lippen. War sie deshalb heraufgestiegen in den kühlen blauen Himmel, um sich von dem schwülen, ängstlich geflohenen Odem dort drüben her anwehen zu lassen?

Sie wandte den Blick weg von jener sonnenbeschienenen Weite und ließ ihn nordwärts in die Runde schweifen. Wald, nichts als grüner Wald, wohin sie sah! Nur dort, wo der breite Fahrweg die Wipfel auseinanderdrängte, lag in äußerster Ferne wie ein kleines Bild das Neuhäuser Gutshaus. Seine fensterreiche Fassade trat hell aus dem dämmernden Lindenkreise. Dort wehte eine rauhe, strenge, aber reine Luft unter Beates Regiment. Seit lange herrschte Spannung zwischen den beiden Geroldshöfen. Der Neuhäuser hatte öffentlich scharf über die »gottheillose« Spielwut des Obersten geurteilt, und damit war das Tischtuch zwischen den beiden Familien zerschnitten gewesen. Nicht die geringste Beziehung hatte mehr zwischen ihnen bestanden. Lothar und Joachim, die beiden gleichaltrigen Söhne der entzweiten Familien, waren sich geflissentlich aus dem Wege gegangen, und nur Klaudine und Beate, die Zöglinge ein und desselben Instituts, waren sich näher getreten.

Da war es nun allerdings nicht aufgefallen, als sich plötzlich bei Hofe zwei Gerolds gegenüberstanden, die sich gegenseitig fremd und kühl gemustert hatten, Lothar, der elegante, schneidige Offizier, und Klaudine, die neue Hofdame. Übermütig, im stolzen Bewußtsein seines errungenen hohen Zieles, eine glänzende Erscheinung, umschmeichelt und verwöhnt von der gesamten Hofgesellschaft, hatte er sie eingeschüchtert. Es war kurz vor seiner Vermählung mit der Prinzessin Katharina, der Cousine des regierenden Herzogs, gewesen. Sie hatte es ihm verargt, daß er auf seiner schwindelnden Höhe über die Tochter der verarmten Hauptlinie seines Geschlechtes achtlos hinwegsah.

Wie unglaublich schlicht und einfach erschien ihr in diesem Augenblick sein Geburtshaus da drüben neben dem Glanz des Ereignisses, welches der Höhepunkt seines beispiellosen Siegeslaufes gewesen war, neben seiner Vermählungsfeier. Sie sah ihn noch vor sich, wie er zur Seite der Prinzessin, umleuchtet von dem ganzen Glanz des Hofgepränges, an den Altarstufen stand. Das schmale Figürchen der Braut, in Spitzen und Atlasbauschen völlig versinkend, hatte sich an seine hohe Gestalt so fest angeschmiegt, als könne er ihr, dessen Besitz sie sich energisch erkämpft hatte, auch hier noch entrissen werden, und mit ihren funkelnden schwarzen Beerenaugen hatte sie unverwandt, in leidenschaftlicher Zärtlichkeit zu ihm aufgesehen. Und er? Er war totenblaß gewesen, und sein bindendes »Ja« hatte rauh, fast heftig geklungen. Hatte ihn ein Schwindel auf dem Gipfel seines Glücks ergriffen, oder war ihm plötzlich ein Ahnen gekommen, daß er dieses Glück nicht lange besitzen werde, daß sich die liebstrahlenden, schwarzen Augen schon nach einem Jahre für immer schließen würden unter den Pinien und Palmen der Riviera, wohin der Reisewagen die Neuvermählten sofort nach der Trauung entführen sollte? Ja, dort in ihrer prächtigen Villa war die Prinzessin gestorben, nachdem sie einem Töchterchen das Leben gegeben, und dort lebte der verlassene Mann noch, um das sehr schwächliche Kind in dem milden Klima zu belassen, bis es erstarkt sein würde, wie man sagte, wohl aber auch, weil es ihm schwer werden mochte, den Schauplatz seines kurzen Glückes zu verlassen. In der Heimat war er nicht wieder gewesen, und das stille, einsame Haus dort drüben mochte er schwerlich wieder bewohnen, wenn er auch wieder zurückkam – und das war nur gut und wünschenswert für den Einsiedler im Eulenhaus.

Klaudine bog sich lächelnd über die Brustwehr des Turmes und sah hinab in den Garten, der sich wie ein buntes Schachbrett mit seinen Blumen- und Gemüsebeeten drunten hinbreitete. »Eiapopai!« sang die kleine Elisabeth. Sie trug ihre Wickelpuppe im rosa Kattunmäntelchen und trabte durch den Mittelweg des Gartens. Heinemann hatte ihr einen Maiblumenstrauß auf das Strohhütchen gesteckt, und Fräulein Lindenmeyer bewachte das kleine, seelenvergnügte Ding von der Laube aus, wo sie für Heinemann Spargelpfeifen pfundweise zusammenband. Der alte Gärtner verkaufte viel Gemüse und Blumen nach der nächsten kleinen Stadt, und der Ertrag gehörte ihm kraft der testamentarischen Verfügung seiner verstorbenen Herrin.

Er kam eben mit einem Armvoll kleingespaltenen Holzes von den Ruinen her, und drunten durch die offene Glastür der Wohnstube klang die tiefe Brummstimme der großen Wanduhr herauf und schlug elfmal an. Es war Zeit, an den Herd zu treten.

»Arbeit schändet nicht!« sagte Heinemann bald darauf in der Küche mit einem Seitenblick nach der rußigen Pfanne, welche Klaudine auf den Herd stellte. »Nein, ganz und gar nicht, und ein paar Rußfleckchen verschimpfieren feine Finger auch nicht, so wenig wie es an meinen weißen Narzissen kleben bleibt, daß sie aus der schwarzen Erde gekrochen sind. Aber so vom Herzogshofe weg geradewegs ans Küchenfeuer, just so, als sollten meine schönen Gloxinien auf einmal im Holzstall oder auf dem Hühnerhofe kampieren, ach, die armen Dinger! – Dazu gehört was, es würgt mir an der Kehle, wenn ich die Plackerei so mit ansehe. Ja, wenn es noch sein müßte! Aber es muß nicht sein, absolut nicht – das weiß ich besser! Und Sparen ist auch eine schöne Sache, ei ja! Ich jage ja meine paar Pfennig auch nicht durch die Gurgel, Gott bewahre! Aber alles was recht ist, gnädiges Fräulein!« Er warf einen schelmischen Blick auf das dünne Butterscheibchen, das Klaudine in die Pfanne gelegt hatte, um ein paar Tauben zu braten. »Das ist ja wie für 'nen Kartäuser!« Er schüttelte den Kopf. »Nein, so knapp braucht's bei uns doch nicht herzugehen, so knapp nicht! Wir haben mehr, als Sie denken, gnädiges Fräulein!«

Er sagte das letztere auffallend langsam, mit nachdrücklicher Betonung. Die junge Dame sah mit großen Augen nach ihm hin. »Sie haben wohl einen Schatz gefunden, Heinemann?« fragte sie lächelnd.

»Je nun, wie man's nimmt«, meinte er den Kopf wiegend, und um seine Augenwinkel erschienen zahllose Fältchen, aus denen etwas wie verheimlichtes Glück lachte. »Gold und Silber freilich nicht – du lieber Gott, blind könnte sich der Mensch in dem Trümmerhaufen gucken und fände doch nicht das kleinste Flinkerchen! Nein, damit ist's nichts! Das ist alles der Mordbrennergesellschaft von dazumal an den Fingern hängen geblieben – haben sie doch gar dem Jesukindchen das bißchen Goldsachen von seinem Seidenrock gerissen! Aber muß es denn gerade ein Spartopf oder so was wie Silberkannen oder Abendmahlskelche sein? Sehen Sie, zum Kloster hat einmal viel Land gehört. Von außen her sind Klosterjungfern eingetreten, die Hab und Gut, meist liegende Gründe, mit eingebracht haben, und das ist alles zu Klosterhöfen gemacht worden. Da hat's Zehnten an Korn, Federvieh, Honig und Gott weiß was noch, die schwere Menge gegeben, und die Klosterhöfe sind gut bewirtschaftet worden. Dazumal ist hier in dem Trümmerwerk Milch und Honig geflossen, wie im Lande Kanaan, und die Nonnen sollen es gar gut verstanden haben, aus den schönen Sachen genug bare Batzen zu schlagen. Gar manchmal haben da die Frachtwagen vor dem Kloster gestanden und Fässer und Kisten in die Welt 'nausgefahren. Ja, dumm sind die Frauenzimmerchen von dazumal nicht gewesen, dumm gar nicht! – Heide, Himbeeren und Heidelbeeren, das beste Bienenfutter, hat's hier und auf den Klosterhöfen genug und übergenug gegeben, und da haben sie eine Bienenzucht gehabt, wie in unserer Zeit kaum die großen Güter in Ungarn. Na ja – und da bin ich gestern abend unten im Keller – ich hatte schon lange ein paar wacklige Steine an der Mauer gesehen, aber im Frühjahr gibt's immer viel zu tun, und dazu kam die Räumerei und das Reinmachen im oberen Stockwerk, und da verschob ich die Flickerei von einem Tag zu dem anderen. Gestern aber dachte ich doch, ich müßte mich schämen, und Sie hielten mich für einen liederlichen Hausverwalter, wenn Sie das sahen, und da hole ich mir gleich Kelle und Mörtelgelte. Wie ich aber den ersten wackligen Stein anfasse, Herr meines Lebens, da wird es doch ordentlich lebendig unter meinen Fingern! Es rückt und wankt – kein Wunder, ist's doch auch nur in der Angst und Flucht gemacht gewesen – und ehe ich mich recht versehe, ist das liederliche Mauerwerk zusammengeprasselt, und ich gucke in ein mannshohes Höhlenloch – ja, in ein Gewölbe, von dem kein Erdenmensch mehr 'was gewußt hat! Und was war drin? – Wachs!«