»Jacques«, bat sie, »wir müssen gleich absegeln … sofort! Sofort!«

»Warum?«

Sie sagte es ihm in kurzen Worten, und die Freude, die das gebräunte Gesicht des Kaufmanns verklärte, wich.

»Armer Gauthier!« murmelte er. »Er ist also sterblich. Ich gestehe, ich hätte es nicht geglaubt … Wir werden ihn sofort an Bord bringen, damit er seinen letzten Atemzug auf dem Boden seines Landes tut … selbst ein Holzboden wird besser sein als diese Erde!«

Er wandte sich an seine Begleiter, einen kleinen Mann mit klugem Gesicht, eine Art Sekretär, nach dem Schreibzeug und einer kleinen Rolle Pergament zu schließen, die an seinem Gürtel hingen, und den stummen, unbeweglichen Herrn im Turban. Als ob es ihm gleichgültig wäre, wer hinter ihm stand, wandte er sich an diesen:

»Seigneur Ibrahim, seid Ihr nun zu Hause? Ich brauche über Eure Freilassung nicht mehr zu sprechen, da ich meine Freunde ganz persönlich gefunden habe. Ihr seid also frei.«

»Ich danke dir für deine Liebenswürdigkeit, Freund … Ich wußte, daß ich nichts von dir zu fürchten hatte, aber du bist ein Kerkermeister gewesen, wie ihn nur sehr wenige Gefangene haben. Daher bin ich dir ohne Sorge gefolgt.«

»Ich hatte Euer Wort, nicht zu fliehen, und habe mich daran gehalten!« erwiderte der Kaufmann edelmütig. »Lebt wohl, Seigneur Ibrahim!«

Der Gefangene verneigte sich tief und verlor sich schnell in der Menge, die Mansour und seine Männer jetzt zurückdrängten, um Platz für die Sänfte zu schaffen. Die Matrosen Jacques Cœurs hatten den nun bewußtlosen Sterbenden mit äußerster Vorsicht herausgehoben. Die helle Sonne verklärte das abgezehrte, von tragischen Schatten überzogene Gesicht, das die Männer mit einer Art abergläubischer Furcht betrachteten. Man trug ihn in das Boot, in dem Abu sich neben ihn setzte.

»Ich werde bleiben, solange er noch atmet«, erklärte er. »Übrigens, Ihr setzt doch nicht sofort Segel?«

»Nein«, erwiderte Jacques Cœur. »Erst übermorgen. Da ich nun einmal hier bin, möchte ich meinen Aufenthalt nutzen und Seidenstoffe, Möbel mit Intarsien, Gewürze und bearbeitete Felle und Häute, vergoldete Töpferware und diese schönen Pergamente aus Gazellenhaut von der Sahara, eine Spezialität dieses Landes, laden …«

Cathérine unterdrückte ein Lächeln. Gewiß, Jacques war gekommen, um sie zu suchen, und hatte den Gesandtenwimpel gehißt, aber bei ihm verbannten die Gefühle keineswegs den Geschäftssinn. Diese aus Freundschaft unternommene Reise mußte sich lohnen …

Während das Boot mit dem Verwundeten vom Ufer ablegte und dem Schiff zuglitt, von wo es zurückkehren sollte, um sie aufzunehmen, und während Arnaud sich ernst von Mansour verabschiedete, fragte sie:

»Übrigens, mein Freund, wie habt Ihr erfahren, daß wir hier sein würden?«

»Das ist eine lange Geschichte. Aber in zwei Worten: Ihr verdankt unser Kommen Eurer alten Freundin, der Dame de Châteauvillain. Ihr habt Euch, scheint es, im Gebirge von ihr getrennt, habt aber einen Knappen Messire Arnauds bei ihr gelassen, den sie sehr gut auszuhorchen verstand. Worauf sie schnurstracks nach Angers zur Herzogin-Königin eilte und ihr die ganze Geschichte erzählte. Es war Madame Yolande, die mich benachrichtigt und mit mir diese Reise geplant hat.«

»Unglaublich!« rief Cathérine verdutzt. »Ermengarde, die mich an Händen und Füßen gefesselt zu ihrem Herzog zurückbringen wollte?«

»Vielleicht! Solange sie ehrlich glaubte, dies sei die beste Lösung für Euch. Aber von dem Augenblick an, in dem Ihr hartnäckig darauf bestandet, Messire Arnaud nachzureisen, hat sie sich bemüht, Euch zu helfen. Sie will vor allem Euer Glück, und Ihr habt keine Ahnung, was für einen Krach sie machte, bis ich aufbrach! Ich habe die größte Mühe gehabt, ihr klarzumachen, daß ich sie nicht mitnehmen könne.«

»Die gute Ermengarde!« seufzte Cathérine mit unwillkürlicher Zärtlichkeit. »Sie ist eine außergewöhnliche Frau. Auf jeden Fall war das Abenteuer riskant. Wie konnte sie wissen, daß ich Arnaud finden und ob ich gesund und sicher nach Granada gelangen würde?«

Jacques Coeur hob die Schultern und grinste spöttisch.

»Sie kennt Euch eben! Wenn Euer Gatte im Innern Afrikas gefangengehalten worden wäre, hättet Ihr bestimmt Mittel und Wege gefunden, zu ihm zu gelangen. Das natürlich«, schloß er, »wäre ein viel weiterer Weg für mich gewesen …«

In der dunkelsten Stunde der Nacht, unmittelbar vor dem Morgengrauen, starb Gauthier in der hohen Heckkabine, in der Jacques Cœur ihn untergebracht hatte, das Gesicht dem offenen Meer zugewandt, das er nicht mehr befahren konnte … Der Todeskampf war grauenvoll gewesen! Die Luft drang nur mit Mühe in die beschädigten Lungen, und die Konstitution des Riesen, seine außergewöhnlichen Lebenskräfte, verlängerten den erschöpfenden, von vornherein verlorenen Kampf gegen den Tod und machten ihn dadurch noch grausamer.

Cathérine, Arnaud, Abu al-Khayr, Josse, Marie und Jacques Coeur waren bei ihm, wohnten machtlos und mit großem Schmerz diesem erschöpfenden Todeskampf bei, den der bewußtlose Gauthier um ein Leben führte, das nichts mehr von ihm wollte. Dicht nebeneinander, die Gesichter von Müdigkeit und den flackernden Schatten der in der Kabine angezündeten qualmenden Öllampen gezeichnet, beteten sie, daß endlich die gequälte Stimme schweige, die in einer unbekannten Sprache Klagen, Verwünschungen, Anrufungen der geheimnisvollen nordischen Gottheiten ausstieß, die der Normanne sein Leben lang angebetet hatte. Draußen stand die Mannschaft in einem dichten Haufen, wartend, ohne eigentlich recht zu wissen, worauf, in der Erkenntnis nur, daß sich in der geschlossenen Kabine ein Drama abspielte.

Endlich ein letztes Zucken, ein Seufzer, der einem Röcheln ähnelte, und der riesige Körper bewegte sich nicht mehr. Drückende Stille, nicht mehr durch das schreckliche Atmen unterbrochen, senkte sich herab. Das vor Anker liegende Schiff, dessen sanftes Schaukeln den Todeskampf des Riesen begleitet hatte, knarrte unheilverkündend in einer Klage, auf die der heisere Schrei der Möwen antwortete.

Da verstand Cathérine, daß alles zu Ende war. Schluchzend legte sie zwei Finger auf die geöffneten Lider und schloß die Augen ihres Freundes für die Ewigkeit. Dann ging sie zu Arnaud zurück, flüchtete sich in seine Arme. Er zog sie an sich, damit sie ihr tränennasses Gesicht verbergen konnte. Jacques Coeur hustete, um der Bewegung, die ihm das Herz zusammenschnürte, Herr zu werden.

»Gleich, sobald die Sonne aufgegangen ist, werden wir ihn versenken!« sagte er. »Ich werde die Gebete sprechen.«

»Nein«, wandte Abu al-Khayr ein. »Ich mußte ihm versprechen, über sein Begräbnis zu wachen. Keine Gebete, aber ich werde dir sagen, was zu tun ist.«

»Gut, kommt mit. Wir werden die Anweisungen geben.«

Die beiden Männer gingen hinaus, und Cathérine konnte die Stimme Jacques' hören, der auf Deck Befehle gab, worauf die Mannschaft eiligst davonstürzte. Sie suchte den Blick ihres Gatten, dieser aber nahm sie schon an der Hand und führte sie ans Bett, auf dem der Tote lag. Nebeneinander knieten Cathérine und Arnaud nieder, um Gott von ganzem Herzen um Barmherzigkeit für einen guten Menschen zu bitten, der nie an ihn geglaubt hatte. Schweigend knieten Josse und Marie auf der anderen Seite nieder … und trotz ihres Schmerzes bemerkte Cathérine, daß Josse, obgleich seine Augen voll Tränen waren, die Hand der kleinen Marie nicht losließ, die er unter seinen Schutz genommen zu haben schien. Sie dachte, daß dies vielleicht der Beginn eines unerwarteten Glücks sei und daß diese beiden, aus ganz verschiedenen Kreisen kommend, zueinander finden würden. Aber die ernste Stimme Arnauds erhob sich jetzt und sprach die Sterbegebete, und Cathérine fiel ein.

Drei Stunden später schritt Arnaud vor der gesamten, auf Deck versammelten Mannschaft der ›Magdalene‹ und zum Klang der pausenlos läutenden Totenglocke nach den Angaben Abu al-Khayrs zu einer seltsamen Zeremonie. Das Schiff erreichte langsam den Hafeneingang, im Schlepptau ein mit Stroh ausgelegtes Segelboot, auf dem die in Linnen gehüllte Leiche des Normannen lag. Auf der Höhe des Turms des Außenhafens sprang Montsalvy in das Boot, hißte das Segel, das der Wind alsbald blähte, packte das Tau, das das zerbrechliche kleine Boot mit dem Schiff verband, stieg wieder auf die ›Magdalene‹ zurück und zerschnitt das Tau. Wie von unsichtbarer Hand getrieben, schoß das Boot vorwärts, fing den Wind ein und überholte den roten Rumpf der Galeone, deren Ruder untätig blieben. Einen Augenblick sahen die an Bord Versammelten ihm nach, wie es mit der großen weißen Gestalt davonglitt. Dann nahm Arnaud aus den Händen Abus einen großen Eschenbogen, legte einen feuergefiederten Pfeil auf, spannte die Muskeln … Der Pfeil zischte und landete mitten im Herzen des Boots, dessen Stroh sofort Feuer fing. Im Nu war das kleine Schiff in Flammen gehüllt. Die Leiche verschwand hinter einem Feuervorhang, während der Wind, die Brunst anfachend, sie langsam auf die offene See trug …

Arnaud ließ den Bogen fallen und sah Cathérine an, die, ohne zu verstehen, diesem sonderbaren Zeremoniell mit angehaltenem Atem gefolgt war. Sie sah Tränen in den dunklen Augen ihres Gemahls. Dann stieß er mit heiserer Stimme hervor:

»So gingen einst, auf dem Weg der Schwäne, die Befehlshaber der Schlangenschiffe in die Ewigkeit. Der letzte Wikinger hat das Begräbnis bekommen, das er sich wünschte …«

Und weil ihn die Bewegung übermannte, floh Arnaud de Montsalvy eilends.

Am anderen Tag, bei Sonnenaufgang, blähte sich das blau-rote Segel der ›Magdalene‹ im frischen Morgenwind, und die Galeone Jacques Coeurs verließ den Hafen. Einen Augenblick betrachtete Cathérine, unter demselben Mantel an Arnaud gedrückt, die zurückbleibende weiße Stadt in ihrem Schrein von frischem Grün und suchte noch einmal im Gewimmel des Hafens nach dem absurden orangefarbenen Turban Abu al-Khayrs.