Die alte Dame reckte sich, gähnte unmäßig und seufzte dann: »Und ich bin nach wie vor der Meinung, daß gute, schnelle Pferde mehr wert sind als schlappe Füße, wenn man Straßenräubern entwischen will. Im übrigen sage ich Euch voraus, wenn wir so weitermachen, werdet Ihr auf dem schnellsten Wege verrückt … und ich auch.«
Im Grunde gab Cathérine Ermengarde recht, wollte es aber nicht zugeben. Sie war überzeugt, daß Gott es ihr übelnehmen würde, wenn sie ihren Weg nicht bis zum Ende mit den Pilgern zurücklegte, denen sie sich angeschlossen hatte. Er würde sie dafür bestrafen, indem er sie hinderte, Arnaud wiederzufinden. Aber seit langem schon wußte die Dame de Châteauvillain in dem hübschen, ausdrucksvollen Gesicht ihrer Freundin zu lesen. Sie murmelte:
»Nun, Cathérine, traut Gott ein wenig Großmut zu, und haltet ihn nicht für einen schäbigen Krämer, der sich nur an feste Geschäftsabmachungen hält. Was haltet Ihr von seiner Barmherzigkeit?«
»Ich halte sehr viel von ihr, Ermengarde, aber wir ziehen mit den anderen weiter!«
Sie hatte fest gesprochen, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Auch Ermengarde täuschte sich darüber nicht. Ein entmutigter Seufzer war ihre einzige Antwort.
Die Prozession von Sainte-Foy mußte wirksam gewesen sein, denn als die Pilger sich am nächsten Tag in der Frühe von neuem auf den Weg machten und Conques, die gewohnheitsmäßigen frommen Lieder singend, verließen, goß es wie mit Kübeln. Cathérine hatte ihren Platz zwischen Josse Rallard und Colin des Epinettes wieder eingenommen. Mutig schritt sie dahin und versagte es sich, zur Nachhut zurückzublicken, wo Ermengarde und ihr berittener Trupp reisten. Es war der Gräfin gelungen, Gott allein wußte, wie, sich während des Aufenthalts zwei neue Pferde zu beschaffen, deren eines die eine Kammerfrau trug, während das andere frei nebenhertrottete, von Sergeant Béraud am Zügel geführt. Cathérine war sich nicht im unklaren, daß dieses Tier für sie bestimmt war, aber sie wollte es nicht wissen.
Der Weg stieg mühselig am Hang des Hügels an, um wieder ins Tal des Lot zu führen und von da Figeac zu erreichen. Und der Regen diente zu nichts. Er verwüstete die Landschaft, zerschlug die zarten, eben erblühenden Rosen des Heidelands, verschreckte das kleinste Blatt, füllte die Augen und wurde von dem groben Wollstoff der Pilgerkleidung aufgesogen. Bald fein und sprühend, bald von jähen Windstößen gepeitscht, breitete er über das düstere Land eine furchtbare Traurigkeit, schwer wie die Welt, die Catherines Herz zu bedrücken schien. Niemand dachte an diesem Morgen mehr daran zu singen. An der Spitze marschierte Gerbert mit rundem Rücken, den Kopf zwischen die Schultern geduckt, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.
Als man die Höhe des Hanges erreichte, waren plötzlich Rufe hinter der Kolonne zu vernehmen.
»Haltet an! … Um der Liebe Gottes willen, haltet an!«
Diesmal wandte Gerbert sich um und alle anderen mit ihm. Weiter unten am Hang taten drei atemlose Mönche ihr Bestes, sie einzuholen. Mitunter strauchelte einer von ihnen in einem Loch oder über einen Stein, aber sie riefen unaufhörlich und schwenkten heftig die Arme.
»Was ist da los?« murmelte Colin mürrisch. »Haben wir etwas vergessen, oder wollen diese frommen Leute sich uns anschließen?«
»Das würde mich wundern«, erwiderte Josse Rallard, der die drei Mönche mit Stirnrunzeln herankommen sah. »Sie tragen nichts bei sich, nicht einmal Pilger Stäbe.«
»Dann wollen sie sich vermutlich unseren Gebeten am Heiligen Grab des Apostels empfehlen«, entgegnete Colin salbungsvoll. Aber sein Gefährte sah ihn so scharf an, daß er nicht wagte, in seinen Vermutungen weiterzugehen. Übrigens lief Gerbert Bohat die ganze Länge der Kolonne zurück, den Ankömmlingen entgegen. Sie trafen ziemlich in der Nähe Catherines und ihrer Gefährten zusammen, so daß der jungen Frau nichts von ihrer Unterhaltung entging. Außerdem brüllten die drei Mönche trotz ihrer Kurzatmigkeit, daß die Felsen barsten.
»Man hat uns bestohlen! Fünf große Rubine sind vom Mantel der heiligen Foy entwendet worden!«
Ein Unmuts- und Zorngeschrei begrüßte diese Nachricht, aber Gerbert erwiderte sofort schlagfertig und aggressiv:
»Das ist eine scheußliche Freveltat, aber ich sehe nicht ein, weshalb ihr uns so eilig gefolgt seid, um uns das mitzuteilen. Ihr nehmt doch nicht etwa an, daß einer von uns der Dieb ist? Ihr seid fromme Leute, aber wir, wir sind die fahrenden Ritter Gottes!«
Der größte Mönch wischte mit verlegener Miene über sein großes rosiges Gesicht, über das der Regen in kleinen Rinnsalen herunterrann, und machte eine ohnmächtige Geste.
»Die schwarzen Schafe des Teufels verbergen sich manchmal zwischen den Besten unter uns. Und die Tatsache, daß man einem Pilgerzug angehört, ist noch längst keine Garantie für Frömmigkeit. Es gibt Beispiele …«
»Wir waren nicht die einzigen in Conques gestern … oder wann immer der Diebstahl begangen wurde. Ich bewundere Eure christliche Nächstenliebe, die sich zuerst gegen arme Pilger wendet, ohne an dieses Pack von Possenreißern und Gauklern zu denken, die sich neulich abends vor Eurer Kirche zur Schau stellten.«
Cathérine unterdrückte ein Lächeln.
Offenbar hatte Gerbert sein Abenteuer von vorgestern abend immer noch nicht verwunden. Aber der Mönch schien noch unglücklicher zu werden.
»Die Gaukler sind gestern morgen weitergezogen, wie ihr wissen dürftet, und gestern, während der Prozession, ist die Statue am hellichten Tage intakt gezeigt worden. Kein Stein fehlte.«
»Seid Ihr dessen ganz sicher?«
»Mich und meine hier anwesenden Brüder hatte der Hochehrwürdige Abt beauftragt, uns von ihrer Unversehrtheit zu überzeugen, bevor wir sie wieder in ihre Nische zurückstellten. Ich kann Euch versichern, daß nicht der kleinste Edelstein fehlte. Heute morgen fehlten fünf große Rubine … und ihr seid die einzigen Fremden gewesen, die die letzte Nacht in unserer Stadt verbrachten!«
Schweigen trat nach dieser Bekundung ein. Jeder hielt den Atem an, wohl fühlend, daß die Beweisführung der Mönche unangreifbar war. Gerbert indessen weigerte sich, sich geschlagen zu geben, und Cathérine bewunderte in diesem Augenblick den Mut und die Hartnäckigkeit, mit der er seine Welt verteidigte.
»Das beweist noch lange nicht, daß wir schuldig sind! Conques ist eine heilige Stadt, aber sie ist immerhin eine Stadt, von Menschen bevölkert, unter denen das Schlechte sehr wohl untertauchen kann.«
»Wir kennen unsere eigenen schwarzen Schafe, und der Hochehrwürdige Abt beschäftigt sich mit ihnen seit heute morgen. Mein Bruder, es wäre soviel einfacher, den Beweis zu liefern, daß keiner von euch die gestohlenen Steine bei sich hat!«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Daß wir nur zu dritt sind, aber wenn ihr euch durchsuchen lassen wolltet, würden wir euch nicht lange aufhalten.«
»Bei diesem Regen?« erwiderte Gerbert verächtlich. »Und wie wollt Ihr die Frauen durchsuchen?«
»Zwei unserer Schwestern folgen uns auf dem Fuße. Da sind sie übrigens«, sagte der Mönch, der entschieden auf alles eine Antwort hatte. »Und gleich hinter dieser Wegbiegung gibt's eine kleine Kapelle, wo wir uns einrichten können. Ich bitte Euch darum, mein Bruder. Es geht um den Ruhm von Sainte-Foy und die Ehre Gottes!«
Sich auf die Zehenspitzen reckend, sah Cathérine tatsächlich zwei Nonnen den Weg heraufkommen, ebenso außer Atem wie ihre Gefährten und ebenso durchnäßt wie alle anderen. Gerbert antwortete nicht sofort: Er überlegte, und obwohl in der jungen Frau Empörung bei dem Gedanken kochte, daß man eine Heilige beraubt hatte, teilte sie die Gefühle des Chefs. Diese Leibesvisitation mußte ihm zutiefst zuwider sein. Und außerdem mußte ihn, genau wie Cathérine, dieser neuerliche Zeitverlust erzürnen … Im nächsten Moment blickte er sich im Kreise um.
»Was haltet ihr davon, Brüder? Seid ihr einverstanden, euch dieser … unangenehmen Formalität zu unterwerfen?«
»Die Pilgerschaft erlegt uns Demut auf«, meinte Colin zerknirscht. »Diese Demut wird gut für uns sein, und der heilige Jakob wird sie der Zahl unserer Verdienste hinzufügen.«
»Das ist klar!« fuhr Cathérine ungeduldig dazwischen. »Aber beeilen wir uns. Wir haben schon genug Zeit verloren!«
Der Trupp wandte sich zu der kleinen Kapelle aus Stein, die in einiger Entfernung, genau auf dem Gipfelpunkt des Hügels, am Wegrand errichtet war. Von dort aus war die ganze Gegend um Conques zu sehen, aber niemand dachte daran, sie zu bewundern. Man mußte im Regen warten.
»Reisen in großen Gruppen sind wahrhaftig eine reizende Angelegenheit«, sagte Ermengarde, die sich zu Cathérine gesellte. »Diese tapferen Mönche schließen das Gatter und überwachen uns, als wären wir eine Herde räudiger Schafe. Und wenn sie glauben, daß ich mich durchsuchen lasse …«
»Es wird besser sein, liebe Freundin! Wenn nicht, wird der Verdacht auf Euch gelenkt, und in der Stimmung, in der sich unsere Gefährten befinden, wären sie imstande, Euch übel mitzuspielen! Oh! Was seid Ihr doch ungeschickt, Bruder!«
Die letzten Worte waren an Josse gerichtet, der, über einen Stein stolpernd, sie derart grob anstieß, daß sich beide auf der Böschung kniend wiederfanden.
»Ich bin untröstlich«, sagte der Pariser mit verzerrtem Gesicht, »aber dieser verdammte Weg hat mehr Löcher als die Kutte eines Bettelmönchs. Hab' ich Euch weh getan?«
Voll Besorgnis half er ihr aufstehen und wischte mit der Hand die Schmutzflecken von Mantel und Kapuze der jungen Frau. Er sah so unglücklich aus, daß sie nicht das Herz hatte, ihm Vorwürfe zu machen.
»Es ist nichts!« sagte sie, ihn freundlich anlächelnd. »Wir werden noch anderes zu spüren bekommen!«
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