Jedoch, schon seit langem gewohnt, die heikelsten Probleme ungelöst zu lassen, sich zuerst einmal ins Abenteuer zu stürzen und es dem Schicksal anheimzugeben, den Knoten zu durchhauen, verließ Cathérine ihren Sitz auf der Mauer und ließ sich geräuschlos zu Boden gleiten. Einen Augenblick zögerte sie, welchen Weg sie einschlagen sollte. Der drohende Anblick der Eunuchenwachen am Pavillon hielt sie zurück. Andererseits konnte sie vom Turm der Damen her eine zarte Musik hören, wogegen in dem kleinen Palais Stille herrschte. Wie sollte sie wissen, wo Arnaud war?
Als sie am Rand eines Zypressenhaines ankam, der sich fast bis zu dem großen Becken vor dem Turm erstreckte, mußte sie einen Freudenruf unterdrücken: Das Schicksal hatte wieder einmal ihrer Erwartung gemäß geantwortet. Unter dem Säulengang des Turmes war Arnaud aufgetaucht, allein. In eine weite weiße, von einem Goldgürtel in der Taille zusammengehaltene Wollbluse gekleidet, schritt er langsam auf das Wasserbecken zu und setzte sich auf den Marmorrand. Diesmal war er nicht betrunken, aber Catherines Herz krampfte sich zusammen, als sie sah, was für ein vollkommenes Bild der Einsamkeit und Langeweile er bot. Noch nie hatte sie sein Gesicht so düster gesehen, und das Licht einer ganz nahe hängenden Öllampe ließ keinen Zug seines Gesichtes im Schatten …
Aber er war allein, tatsächlich allein! Welche schönere Gelegenheit konnte sie sich wünschen? Sie streifte die Pantoffeln ab, an die sie sich immer noch nicht richtig gewöhnt hatte und die sie beim Laufen behinderten, und stürzte vor …
Harte Hände packten sie in genau dem Augenblick, in dem sie neben dem Wasserbecken in den Lichtkreis der Lampen trat. Die Festnahme und die Furcht entlockten ihr einen Schrei, so daß Arnaud sich umwandte. Instinktiv wehrte sie sich unter dem harten Griff der schwarzen Hände, die sie festzuhalten versuchten, aber sie war nicht stark. Die beiden Eunuchen, die sie ergriffen hatten, waren riesige Sudanesen. Einer hätte genügt, sie mit einer einzigen Hand niederzuhalten. Aber in ihrer Angst sah sie trotzdem nur eines: ihren Gatten! Er war da, ganz nahe. Er war aufgestanden, näherte sich jetzt. Unter ihrem Schleier, der sie fast erstickte, weil die Sudanesen ihn ihr um den Hals gezerrt hatten, wollte Cathérine seinen Namen hinausrufen. Aber kein Ton kam hervor, doch neben Arnaud war die blendende Gestalt Zobeidas aufgetaucht.
Beim Anblick der Prinzessin erstarrten die Sudanesen mit ihrer Gefangenen, waren unfähig, die geringste Bewegung zu machen. Zobeida wandte sich an die Gruppe:
»Was gibt es hier? Warum dieser Lärm?«
»Wir haben eine Frau gefangen, die sich in diesem Garten verbarg, o Licht! Sie ist über die Mauer gestiegen. Wir haben sie bis hierher verfolgt.«
»Führt sie her …«
Cathérine wurde zu Füßen Zobeidas gestoßen, wurde gezwungen niederzuknien und mit Gewalt niedergehalten. Arnaud, der ein paar Schritte zurückgetreten war, betrachtete mit gerunzelter Stirn und verächtlich heruntergezogenen Lippen die Szene. Mit klopfendem Herzen sah Cathérine ihn so nahe. Oh! Wenn sie ihm ihren Namen sagen, sich in seine Arme flüchten könnte … Aber die Gefahr war tödlich, für sie wie für ihn. Sie hörte ihn murmeln: »Zweifellos eine Neugierige oder eine Bettlerin aus der Oberstadt. Laß sie laufen!«
»Niemand hat das Recht, hier einzudringen!« erwiderte Zobeida barsch. »Diese Frau wird für ihren Fehler büßen!«
»Es ist nicht nur eine Neugierige«, wandte einer der Sudanesen ein. »Eine Neugierige ist nicht bewaffnet. Wir haben dies hier bei ihr gefunden.«
Ein Wutschrei entfuhr Cathérine; sie hatte, während sie sich gegen ihre Angreifer wehrte, nicht bemerkt, daß sie ihr den Dolch weggenommen hatten. Jetzt blitzte das Messer aus Silber und Gold in der schwarzen, der Prinzessin hingehaltenen Hand des Eunuchen. Diese beugte sich hinunter, um besser sehen zu können, was man ihr zeigte. Aber Arnaud war schneller als sie. Mit einem Satz hatte er sich der Waffe bemächtigt und betrachtete sie, plötzlich bestürzt. Sein Blick richtete sich prüfend auf die kniende Cathérine.
»Wo hast du diesen Dolch her?« fragte er heiser.
Sie war unfähig zu antworten, weil ihre Stimme vor Erregung versagte, aber ihre blauen, großen Augen verschlangen ihn und flehten ihn gleichzeitig an. Zobeida hatte sie ganz vergessen, deren schwarze, funkelnde Augen indessen nichts Gutes verhießen. Die Maurin wandte sich schroff an ihren Gefangenen: »Du kennst diese Waffe?« fragte sie. »Woher stammt sie?« Arnaud antwortete nicht. Er betrachtete weiter die dunkle, auf dem Sand kniende Gestalt, die ihn anstrahlte. Plötzlich sah Cathérine, wie er erblaßte. Ehe sie ihm hatte zuvorkommen können, war er drei Schritte vorgetreten, hatte den blauen Schleier gepackt und ihn weggerissen. Wie vom Schlag gerührt blieb er vor dem jäh enthüllten Gesicht stehen.
»Cathérine!« flüsterte er. »Du! … Du hier?! …«
Es folgte ein kurzer, wunderbarer Augenblick, in dem beide alles vergaßen, was nicht ihre ungeheure Freude betraf, sich nach soviel Tränen und Leiden wiedergefunden zu haben. Die dabeistehenden Sudanesen, die Frau, die sie mit wachsendem Zorn betrachtete, die Gefahr, die über ihnen schwebte – darüber legten sie sich keinerlei Rechenschaft ab. Alles war ausgelöscht, all dies existierte nicht. Sie waren allein in einer toten Welt, in der nichts Bestand hatte als ihre ineinandergehefteten Blicke und ihre von neuem im Gleichklang schlagenden Herzen. Den Dolch mechanisch in den Gürtel steckend, streckte Arnaud die Hände aus, um seiner Frau aufzuhelfen.
»Cathérine!« murmelte er mit unendlicher Zärtlichkeit. »Cathérine … ma mie!«
Das teuerste Wort unter allen! Das Wort, das sie nie hatte vergessen können und das nur er auszusprechen vermochte! … Cathérine befiel ein Schwindel. Aber die Gnadenfrist war schon vergangen. Mit einem Panthersprung hatte Zobeida sich zwischen sie geworfen.
»Was ist das für eine Sprache?« fragte sie in einem Französisch, das Cathérine erstaunte. »Sie nennt sich Licht des Morgens und ist eine von den Seeräubern gekaufte Sklavin. Sie ist die neueste Konkubine meines Bruders, seine Favoritin!«
Die ganze Sanftmut, die seine energischen Züge einen Augenblick entspannt hatte, erlosch. Ein Zornesblitz funkelte in seinem dunklen Blick, und er sagte scharf:
»Sie heißt Cathérine de Montsalvy! Sie ist … meine Schwester!« Das leichte Zögern war kurz wie ein Herzschlag gewesen, aber es hatte genügt, den Ritter die Gefahr erkennen zu lassen. Zuzugeben, daß Cathérine seine Frau war, hieße, sie auf der Stelle dem schlimmsten Tod zu überantworten. Er kannte die wütende Eifersucht Zobeidas zu gut! Gleichzeitig tauchte er seinen Blick wieder in den Catherines, ebenso gebieterisch wie flehentlich, sie möge ihm nicht widersprechen. Aber Arnaud hatte nichts zu fürchten. Wenn Cathérine auch eine wilde Freude empfunden hätte, ihren Titel als Gattin zurückzufordern, ihre Rivalin damit zu verletzen, hatte sie natürlich keine Lust, törichterweise wegen eines Wortes das Leben zu verlieren. Außerdem, hatte Zobeida die naive Lüge geglaubt? Ihre schmal gewordenen Augen huschten von einem zum anderen der beiden Gatten, ohne daß sie daran dachte, ihre Verwunderung und ihr Mißtrauen zu verhehlen.
»Deine Schwester? Aber sie sieht dir gar nicht ähnlich!«
Arnaud zuckte die Schultern.
»Der Kalif Mohammed hat blondes Haar und helle Augen. Ist er deswegen weniger dein Bruder?«
»Wir haben nicht dieselbe Mutter gehabt …«
»Wir auch nicht! Unser Vater hat sich zweimal verheiratet. Wünschst du noch weitere Auskünfte?«
Der Ton war hochmütig, scharf. Arnaud schien entschlossen, sich des Vorteils zu bedienen, den ihm die fast servile sinnliche Liebe seiner gefährlichen Geliebten bot. Aber die Anwesenheit dieser anderen, instinktiv verhaßten Frau neben dem Mann, dessen Besitz sie um den Preis von soviel Blut verteidigt hatte, machte Zobeida wütend. Kalt erwiderte sie:
»Jawohl, ich wünsche tatsächlich noch weitere Auskünfte. Zum Beispiel möchte ich gern wissen, ob es bei den Frauen von Adelsfamilien im Lande der Franken üblich ist, über die Meere zu fahren und die Sklavenmärkte zu bevölkern? Wie ist es zu erklären, daß deine Schwester hierhergekommen ist?«
Diesmal war es Cathérine, die antwortete, in der Hoffnung, daß Arnaud nicht unvorsichtigerweise vertrauliche Mitteilungen gemacht hatte. »Mein … Bruder war einst fortgezogen, um am Grab eines seit langem verehrten Heiligen die Heilung von einer Krankheit zu erflehen, an der er litt. Aber vielleicht weißt du nicht, was ein Heiliger ist?«
»Nimm deine scharfe Zunge in acht, wenn du willst, daß ich dich geduldig anhöre«, gab Zobeida zurück. »Alle Mauren kennen den Boanerges, den Sohn des Donners, dessen Blitzstrahl sie niedergestreckt hat.«
»Also«, fuhr Cathérine unerschütterlich fort, »mein Bruder hat sich aufgemacht, und viele Monate lang sind wir in Montsalvy ohne Nachricht geblieben. Wir hofften immer, daß er zurückkehre, aber er kam nicht wieder. Worauf ich beschloß, selbst aufzubrechen und am Grabmal dessen zu beten, den du den Sohn des Donners nennst. Ich hoffte, unterwegs Nachrichten über meinen Bruder zu erhalten. Und ich erhielt auch welche: Ein Diener, der in dem Augenblick floh, in dem du Arnaud gefangennahmst, hat mir von seinem Los berichtet, ich bin hierhergekommen, um ihn zu finden, den wir schon beweinten …«
»Ich dachte, du seist von den Korsaren erbeutet und in Almeria verkauft worden?«
»Ja, ich bin verkauft worden«, log Cathérine dreist, weil sie Abu al-Khayr nicht in die Sache hineinziehen wollte. »Ich bin nicht von Piraten gefangengenommen worden, sondern an den Grenzen dieses Königreichs. Ich habe es den Mann, der mich gekauft hat, nur glauben lassen, um ihm nicht erst lange Erklärungen geben zu müssen.«
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